Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
20. Juli 2008

Die Verdienste des Menschen – Geschenke der Gnade

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Dass unser Herr milde, gütig und menschenfreundlich war, ist jedem offensichtlich. Er war der gütige, verstehende und verzeihende Meister. Er verzieh dem Petrus seine Verleugnung, er rettete die Ehebrecherin vor der Steinigung, er hat dem Schächer, der mit ihm gekreuzigt war, wegen eines einzigen guten Wortes das Paradies verheißen. Unser Herr war milde, sanft; er segnete, er tröstete, er half und heilte. Er konnte traurig werden, wenn die Menschen seine Verkündigung nicht begriffen, wenn sie immerfort einen nationalen, einen irdischen Messias begehrten. Er konnte traurig werden, wenn er sah, wie man seine religiösen Forderungen abwies. Aber niemals hat er ein hartes oder drohendes Wort deswegen.

Aber plötzlich hören wir an einigen Stellen des Evangeliums Äußerungen von ihm, die uns erschrecken. Bei manchen Gelegenheiten ist der Herr von einer außerordentlichen Schärfe und Schroffheit. „Wehe euch, ihr Pharisäer und Schriftgelehrten, ihr Heuchler. Ihr gleicht übertünchten Gräbern. Von außen sehen sie zwar schön aus, aber innen sind sie voll Totengebein und allem Unrat. So erscheint ihr äußerlich recht vor den Menschen, innerlich aber seid ihr voll Heuchelei und Schlechtigkeit.“ Und an einer anderen Stelle: „Wehe euch, ihr Schriftgelehrten und Pharisäer, ihr Heuchler. Ihr gebt den Zehnten von Minze, Dill und Kümmel. Aber das Große am Gesetz, das lasst ihr dahinten: Gerechtigkeit, Treue und Wahrhaftigkeit. Dies soll man tun und das andere nicht lassen.“ Und wieder an einer anderen Stelle: „Wie kannst du zu deinem Bruder sagen: Laß mich den Splitter aus deinem Auge ziehen, und siehe, in deinem Auge steckt ein Balken? Zieh zuerst den Balken aus deinem Auge, dann magst du sehen, wie du den Splitter aus dem Auge des Bruders ziehst.“

In diese scharfen Wendungen des Herrn fügt sich das Gleichnis vom Pharisäer und vom Zöllner ein, das wir heute gehört haben. Wir haben alle unsere liebe Not damit, einerseits das notwendige Maß an Selbstgefühl und Selbstvertrauen zu bewahren, ohne in pharisäische Überheblichkeit zu verfallen, andererseits uns sündig zu erkennen und vor dem Schöpfergott zu demütigen, ohne das Menschentum zu verraten, das ja auch uns als Talent von Gott gegeben ist. Aber da sind wir dem Kern unserer Frage schon sehr nahe. Der Zöllner des heutigen Evangeliums soll uns nicht zum Kriechertum anleiten. Er darf nicht jenen Menschen zum Trost oder zur Bestätigung sein, die Demut mit Schwäche verwechseln, die zu kleinmütig sind, um in der Kämpfen der streitenden Kirche mitzumachen, deren Religion die Angst ist und deren Untüchtigkeit als Tugend gilt. Das Wertvolle an diesem Mann ist, dass er seine Verfehlungen nicht verschleiert, nicht entschuldigt, nicht beschönigt. Was den Pharisäer zum Pharisäer macht, ist nicht so sehr sein übersteigertes Selbstgefühl, sondern seine törichte Überheblichkeit. Es kommt ihm nicht in den Sinn, vor den Herrgott hinzutreten und um Verzeihung zu bitten und dadurch gerechtfertigt zu werden. Nein, er will kein armseliger Sünder sein vor Gott; er fühlt sich als Tugendbold und sagt: „Ich bin nicht wie die übrigen Menschen.“ Wie die übrigen Menschen, also wie alle übrigen Menschen. Er ist der einzige, der eine Ausnahme macht. „Ich bin gerecht“, so spricht er, „die anderen sind Sünder.“ Und da sieht er auf diesen Mann, der neben ihm steht und gibt ihm gleich einen Seitenhieb: „…oder wie dieser Zöllner da. Ich bin der einzige Gute, der da gehört zu den übrigen.“ Um was er Gott gebeten hat, wird man vergeblich suchen. Er kam nicht, um zu bitten, er kam, um sich zu loben! Das ist noch das Geringste, dass er Gott nicht bittet, sondern sich selbst lobt. Schlimmer ist, dass er den demütig Flehenden auch noch verhöhnt.

Der Zöllner steht von ferne. Das heißt, er traut sich nicht in die Nähe. Er hat ein schuldbeladenes Gewissen, und das lässt ihn von ferne stehen. Er wagt nicht, den Blick zum Himmel zu erheben, denn er ist sich seiner Schuld bewusst. Er hat nicht einmal den Mut, die Augen zu Gott aufzurichten. Das Gewissen beugt ihn nieder. Und er schlägt an die Brust. An die Brust schlagen heißt bekennen, dass man der Strafe würdig ist. Das An-die Brust-Schlagen ist ein Ausdruck dafür, dass man weiß: Kraft meiner Sünde bin ich der Strafe Gottes würdig. Und dann spricht er: „Herr, sei mir Sünder gnädig!“ Was wundert es uns, dass Gott Nachsicht übt und ihm die Sünden verzeiht? „Wahrlich“, so sagt er, „dieser ging gerechtfertigt nach Hause, der andere aber nicht.“ Und warum? „Wer sich selbst erhöht, wird erniedrigt werden. Wer sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden.“

Es ist und bleibt für uns, meine lieben Freunde, eine ernstzunehmende Aufgabe, uns vor dem pharisäischen Geiste, der in uns aufkommen möchte, zu hüten. Der Fromme kann auf den Gedanken kommen, sich über den Unfrommen zu erheben. Und in der Tat: Der Mensch, der Gott verehrt, der betet, der den Gottesdienst besucht, der Mensch, der Gott liebt und Gott dient, der steht objektiv über einem anderen, der all das nicht tut. Aber wem verdankt er diese Haltung, diese Tugenden? Er verdankt sie Gott, der alles in ihm wirkt. Wie schreibt der Apostel Paulus an seine korinthischen Christen: „Keiner soll sich aufblähen auf Kosten der anderen. Wer gibt dir den einen Vorzug? Was hast du denn, das du nicht empfangen hast?“ Das ist der entscheidende Satz: „Was hast du denn, das du nicht empfangen hast? Hast du es aber empfangen, was rühmst du dich, als hättest du es nicht empfangen?“ Und der heilige Augustinus drückt dasselbe auf seine Weise aus: „Wer Gott gegenüber seine Verdienst aufzählt, der zählt damit Gottes Geschenke auf.“ Noch einmal: Wer Gott gegenüber seine Verdienste aufzählt, der zählt damit Gottes Geschenke auf. Denn Verdienste schafft nur die Gnade, und vor der Gnade und ohne die Gnade gibt es keine Verdienste.

Wer gibt uns das Recht, meine lieben Freunde, uns an anderen zu messen und andere unter uns zu stellen? Wir wissen doch um unsere Schwächen, Fehler, Sünden, Versäumnisse, Nachlässigkeiten. Wir wissen um unser Versagen, unser Zurückbleiben vor den Forderungen Gottes. Und wenn wir auch vielleicht jetzt uns vor schweren Sünden bewahren: Wir brauchen nur in unsere Vergangenheit zu schauen, und da wissen wir, dass wir von Gott aus der Sünde gerettet worden sind. Die Bedingungen, unter denen andere handeln, kennen wir nicht. Wir wissen nicht um ihre Veranlagung, wir wissen nicht um ihre Erziehung, wir wissen nicht um ihre Schicksale. Und deswegen ziemt es sich, die Weisung aus dem Buch von der Nachfolge Christi zu beachten: „Kehre deinen Blick auf dich selbst und erkühne dich nicht, zu richten, was andere tun! Denn wer andere gern richtet, hat nichts davon, irrt sich öfters und sündigt leichfertig. Wer andere gern richtet, hat nichts davon, irrt sich öfters und sündigt leichtfertig. Wer sich aber selbst richtet und erforscht, der zieht immer reichen Nutzen daraus.“

Nun meine ich allerdings, unter den Frommen sind die Pharisäer heute selten. Die Frommen, die ihre Gewissenserforschung halten, die Reue erwecken, die den Weg zum Beichtstuhl finden, die Frommen sind heute selten, äußerst selten Pharisäer. Aber unter den anderen, unter den Unfrommen sind um so mehr Pharisäer. Die Pharisäer sind heute nicht unter den frommen Kirchenchristen zu finden. Die Pharisäer sind jene, die hochmütig auf die Kirchenchristen herabschauen und sagen: Das Kirchengehen ist nicht nötig, das Beichten ist nicht nötig, der Meßbesuch ist nicht nötig. Die Pharisäer von heute sind jene, die auf die christliche Moral pfeifen und sich dabei wohlzufühlen meinen. Die Pharisäer von heute sind jene, welche die Kirche auffordern, ihre Sittenlehre zu ändern, damit ihr liederlicher Lebenswandel nicht mehr gerügt werden kann. Die Selbstgerechtigkeit, die Überheblichkeit, die Beschwichtigung und die Beschönigung der Sünde finden sich in unserer Zeit außerordentlich häufig bei den Unfrommen. Sie bagatellisieren die Sünde, manche gebrauchen das Wort Sünde überhaupt nur noch, wenn sie zuviel gegessen haben. Und die ganze Unterhaltungsindustrie ist ja darauf ausgelegt, die Sünde zu verschweigen oder lächerlich zu machen. In einem Schlager heißt es: „Himmelvater du, drück ein Auge zu!“ In einem anderen: „Eine kleine Sünde fällt nicht ins Gewicht; eine kleine Sünde zählt der Herrgott nicht. Eine kleine Sünde ist nicht der Rede wert, wenn sie dein Geheimnis bleibt und niemand was erfährt.“

Es scheint Menschen zu geben, die nicht mehr wissen, dass sie vor Gott schuldig werden. Ja, es gibt solche, die machen aus ihrer Schwäche, aus ihrer sittlichen Schwäche eine Weltanschauung. Sie sagen: Das, was wir tun, das ist die Moral, die wir brauchen, die wir heute brauchen. Weil sie Gottes Gebote missachten, verwerfen sie die Gebote. Was sie nicht beobachten wollen, das kann nach ihrer Meinung nicht von Gott geboten sein. In Wirklichkeit ist es notwendig, sich als Sünder zu erkennen und zu bekennen. In diesen Tagen wird Nelson Mandela, der schwarze Präsident von Südafrika, überall gefeiert. Er hat seinen 90. Geburtstag begangen. 27 Jahre war er im Gefängnis. Aber er ist ein Mann, er ist ein Christ, der auf jede Rache verzichtet hat. Ein Biograph schrieb von ihm: „Ein Staatsmann mit der Qualität eines Heiligen.“ Da wehrte Nelson Mandela ab: „Ich bin kein Heiliger“, sagte er, „ich bin ein kleiner Sünder, der ständig versucht, sich zu bessern.“ Das ist ein Vorbild! „Ich bin ein kleiner Sünder, der ständig versucht, sich zu bessern.“ Und damit ist er ja auf biblischem Boden, denn im ersten Johannesbrief heißt es: „Wenn wir sagen, wir hätten keine Sünde, betrügen wir uns selbst, und die Wahrheit ist nicht in uns.“ Wenn wir sagen, wir hätten keine Sünde, betrügen wir uns selbst, und die Wahrheit ist nicht in uns. Wir müssen ehrlich sein vor uns selbst und vor den Menschen, die Sünde erkennen und die Sünde bekennen. Schon im Alten Bunde heißt es: „Schäme dich nicht, deine Sünden zu bekennen!“ Und an einer anderen Stelle: „Der Gerechte beschuldigt sich selbst zuerst.“

In unserer Zeit haben edle Schriftsteller diese biblische Botschaft verstanden und aufgenommen. In einem Buche von Theodor Fontane heißt es einmal: „Wenn nichts erreicht wäre als das Bekenntnis des Unrechts und der Sünde, so hätte die Wiedergeburt begonnen.“ Wie richtig! Wenn nichts erreicht wäre als das Bekenntnis des Unrechts und der Sünde, so hätte die Wiedergeburt begonnen. Er gibt damit wieder, was Augustinus einmal schreibt: „Das Bekenntnis der bösen Werke ist der Anfang der guten Werke.“

Noch einmal erinnern wir uns, meine lieben Freunde, dass unser Herr milde, sanftmütig und gütig war, aber erschreckend hart wurde, wo er auf Selbstgerechtigkeit stieß. Wir mögen schwach, armselig, leichtsinnig und böse sein: Solange wir einsehen und bekennen, dass wir es sind, solange wir uns nicht billig entschuldigen und andere für schlechter halten, solange werden wir ein verzeihendes, ein liebendes Wort unseres Heilandes erhalten: „Denn jener ging gerechtfertigt nach Hause!“

Amen.

 

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