Die Wahrheit verkündigen,
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Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  

Das Motu proprio „Traditionis Custodes“ des Papstes Franziskus

Einleitung

Papst Franziskus hat unter dem Datum des 16. Juli 2021 ein Motu proprio mit dem Titel „Traditionis Custodes“ über den Gebrauch der Römischen Liturgie vor der Reform von 1970 erlassen. Die „Littera Apostolica in forma Motu proprio data“ ist ein Gesetz des Papstes. Mit den Worten Motu proprio wird ausgesagt, daß es nicht auf Wunsch oder Auftrag erlassen worden ist, sondern auf eigenen Antrieb des Papstes. Es trägt denn auch deutlich seine Handschrift. Es ist einigermaßen erstaunlich, vielleicht aber auch aussagekräftig, daß das Motu proprio nicht in lateinischer, sondern in italienischer Ursprache verfaßt worden ist. Die bekannte Absage des Papstes an die lateinische Liturgiesprache setzt sich hier fort in die Gesetzessprache. In lateinischer Sprache ist nur die Überschrift des Motu proprio gehalten: „Traditionis Custodes“ die Wächter der Überlieferung. Die Überschrift des Motu proprio gibt den Zweck dieses Gesetzes dahin an, daß es den Gebrauch der Römischen Liturgie, die der Reform von 1970 vorherging, regeln will. Eine Einschränkung auf bestimmte Bereiche dieser Liturgie wird an dieser Stelle nicht gemacht. Ähnlich spricht Art. 1 des Motu proprio von den (allen) liturgischen Büchern, die von den Päpsten Paul VI. und Johannes Paul II. veröffentlicht worden sind. Im folgenden Text des Motu prorio ist aber lediglich von dem Meßbuch die Rede. Die übrigen Bücher wie die der Sakramente und des Breviers werden nicht erwähnt.

Das Motu proprio „Traditionis Custodes“ wird begleitet von einem sechsseitigen Schreiben des Papstes an die Bischöfe der gesamten Kirche, in dem er die Motive zu erläutern unternimmt, die ihn bestimmt haben, diese Entscheidung zu treffen. Er geht aus von der Befugnis, die in dem Indult der Kongregation für den Gottesdienst „Quattuor abhinc annos“ vom 3. Oktober 1984 (AAS 76, 1984, 1088-1089) gewährt und von Papst Johannes Paul II. in dem Motu proprio „Ecclesia Dei“ vom 2. Juli 1988 (AAS 80, 1998, 1495-1498) bestätigt worden ist. Sie sei vor allem veranlaßt worden durch den Willen, die Aufhebung der Spaltung (scisma) mit der Bewegung des Erzbischofs Lefebvre zu begünstigen. Diese Befugnis sei jedoch von vielen Kirchengliedern als die Möglichkeit verstanden worden, das Missale Romanum des heiligen Papstes Pius' V. frei zu benutzen und einen gleichlaufenden (parallelen) Gebrauch mit dem Missale Romanum Pauls VI. zu begründen. Die große Zustimmung zu der so verstandenen Freiheit habe Papst Benedikt XVI. veranlaßt, eine klare rechtliche Regelung zu treffen, indem er das Meßbuch Pius' V. als außerordentlichen Ausdruck ein und derselben Lex orandi erklärte und eine reichere Möglichkeit des Gebrauchs des Missale von 1962 gewährte. Gleichzeitig habe er anerkannt, daß das Missale Pauls VI. der ordentliche Ausdruck der Lex orandi der katholischen Kirche des lateinischen Ritus sei. Die Furcht vor Spaltungen in der Pfarrgemeinschaft habe er als unbegründet erklärt, denn die beiden Formen des römischen Ritus könnten sich gegenseitig bereichern. Im Abstand von dreizehn Jahren habe er, Franziskus, die Glaubenskongregation beauftragt, eine Befragung der Bischöfe über die Anwendung des Motu proprio „Summorum Pontificum“ Benedikts XVI. vorzunehmen. Die Antworten (die nicht veröffentlicht worden sind) hätten eine Lage enthüllt, die ihn mit Schmerz und Sorge erfülle und ihn in der Notwendigkeit bestärke, einzugreifen. Die Absicht seiner beiden Vorgänger, mit ihren Gewährungen die Einheit der Gläubigen zu bewahren oder wiederzufinden, sei „oft in schwerer Weise“ enttäuscht worden. Ihr Entgegenkommen sei benutzt worden, die Abstände zu vermehren, die Unterschiede zu verhärten, Entgegenstellungen aufzubauen, welche die Kirche verletzen und sie der Gefahr von Spaltungen aussetzen. An dieser Stelle beklagt der Papst Franziskus wie sein Vorgänger Benedikt XVI. die Mißbräuche bei der Zelebration nach dem Missale Pauls VI. „an vielen Orten“. Aber nach dieser kurzen Erwähnung des desolaten Zustands der Meßfeier nach dem Novus Ordo kommt er gleich wieder auf das Meßbuch von 1962 zu sprechen; es werde mißbraucht für eine zunehmende Zurückweisung der Liturgiereform und selbst des Zweiten Vatikanischen Konzils. Der Papst verbreitet sich dann über die Absichten und den angeblichen Erfolg der Liturgiereform, die er dem Zweiten Vatikanischen Konzil zuschreibt, ohne zu bemerken, daß sie weit über die konziliaren Vorgaben hinausgegangen ist und teilweise im Gegensatz zu ihnen steht.

Der Papst behauptet dann, die Wahl der Zelebration nach den vorkonziliaren liturgischen Büchern sei bei „vielen“ verbunden mit der Ablehnung der Kirche und ihrer Einrichtungen im Namen der angeblichen „wahren Kirche“. In der Absicht, die Einheit des Corpus Christi zu verteidigen, sehe er sich gezwungen, die von seinen Vorgängern gewährte Befugnis zu widerrufen. Der Papst behauptet weiter, er antworte auf das Ersuchen der Bischöfe, wenn er den festen Entschluß fasse, alle Normen, Instruktionen, Gewährungen und Gewohnheiten, die dem gegenwärtigen Motu proprio vorangehen, abzuschaffen (abrogare) und nur die von Paul VI. und Johannes Paul II. veröffentlichten liturgischen Bücher beizubehalten als einzigen Ausdruck der Lex orandi des Römischen Ritus. Auch an dieser Stelle wird nicht erwähnt, welche und wie viele Bischöfe diesen Entschluß gefordert oder gewünscht haben und welche und wie viele ihm ferngestanden oder ihn abschlägig beschieden haben. Das Verhalten nicht weniger Bischöfe nach Erlaß des Motu proprio, das teilweise bis zu Empörung über dieses Dokument reicht, zeigt, daß das Motu proprio sich mitnichten auf ein einmütiges Votum der befragten Bischöfe stützen kann. Bei seinem Vorgehen beruft der Papst sich auf ein angeblich ähnliches Verhalten des heiligen Papstes Pius V. und führt zur Unterstützung auch Pius XII. an. Am Schluß seines Begleitschreibens appelliert er an die Bischöfe, in ihren Ortskirchen den Gebrauch des Meßbuches von 1962 nur gemäß dem Motu proprio „Traditionis Custodes“ zu gestatten.

In dem Vorspann des Motu propio „Traditionis Custodes“ selbst erklärt Papst Franziskus kurz, wie es zum Erlaß dieses Dokuments gekommen ist. Er gibt zu, daß Johannes Paul II. und Benedikt XVI. ihre Entscheidungen zugunsten der Meßfeier, wie sie vor der Reform von 1970 üblich war, getroffen haben, um die Eintracht und die Einheit der Kirche zu fördern. Er spricht von der väterlichen Sorge, die sie dazu bewegt haben, die Befugnis zu geben, das Römische Missale zu benutzen, das von Johannes XXIII. 1962 herausgegeben worden ist. Die Glaubenskongregation habe im Jahre 2020 eine Befragung der Bischöfe veranstaltet über die Anwendung des Motu proprio „Summorum Pontificum“ des Papstes Benedikt XVI. Wer die Glaubenskongregation dazu veranlaßt hat, eine solche Befragung vorzunehmen, sagt der Papst an dieser Stelle nicht. Deren Ergebnisse seien von ihm abwägend bedacht worden im Lichte der gereiften Erfahrung. Das Ergebnis der Umfrage, d.h. die Antworten der Bischöfe, wurde nicht veröffentlicht, auch nicht auszugsweise. Was ist der Grund für dieses Verschweigen? Haben die eingelaufenen Berichte der Bischöfe nicht den Erwartungen des Papstes entsprochen? Liefern sie nicht die Grundlage für seine rigorosen Maßnahmen? Papst Franziskus behauptet jedenfalls, er habe das Vorbringen der Bischöfe ins Auge gefaßt und die Ansicht der Glaubenskongregation angehört. Welche diese sind, teilt er nicht mit. Er wolle mit diesem Motu proprio fortfahren in der ständigen Suche nach der kirchlichen Gemeinschaft.

Das Motu proprio „Traditionis Custodes“ kreist um die Messe, wie sie allgemein bis zur Reform von 1970 gefeiert wurde. Sie wird verschieden bezeichnet. In seinem Begleitschreiben spricht Papst Franziskus wiederholt von dem Missale Romanum, das von dem heiligen Papst Pius V. promulgiert und von Johannes XXIII. 1962 herausgegeben worden ist. Man könnte also von der Messe Pius' V. reden. Wegen des Zusammenhangs mit dem Konzil von Trient wird diese Messe auch häufig als die tridentinische Messe bezeichnet. Der Einfachheit halber spricht man schließlich oft von der „alten“ Messe im Unterschied zu der Messe im Novus Ordo. Da sie 1962 von Papst Johannes XXIII. neu herausgegeben wurde, hat sich die Rede von der Messe Johannes' XXIII. herausgebildet.

I. Die Lex orandi

Der Papst spricht in seinem Motu proprio wiederholt von der Lex orandi. Er versteht darunter die Liturgie als normativen Ort des gelebten Glaubens der Kirche. Art. 1 des Motu proprio „Traditionis Custodes“ erklärt progammatisch, es gebe (nur) einen Ausdruck der Lex orandi des Römischen Ritus. Er bestehe in den liturgischen Büchern, die von den Päpsten Paul VI. und Johannes Paul II. veröffentlicht worden sind. An dieser Stelle überschreitet das Motu proprio den Bereich, den es ordnen will, nämlich die Messe, indem es von den gesamten liturgischen Büchern spricht. Der Vorgänger des gegenwärtigen Papstes war anderer Ansicht als er. Papst Benedikt XVI. sprach in „Summorum Pontificum“ von zwei Ausdrucksformen des einen und einzigen Römischen Ritus. Der Novus Ordo ist eine, die Messe Pius' V. die andere. Die Messe, welche Papst Pius V. geordnet hat, war und ist ohne Zweifel ein Bestandteil des Römischen Ritus. Wenn er nicht gebraucht wird, ändert das nichts daran, daß er ein Ausdruck des Römischen Ritus bleibt. Die Behauptung des Art. 1, die liturgischen Bücher, die von Paul VI. und Johannes Paul II. veröffentlicht worden sind, seien der einzige Ausdruck der Gebetsordnung (Lex orandi) des Römischen Ritus, trifft also nicht zu. Helmut Hoping hat darauf aufmerksam gemacht, daß der gegenwärtige Papst für die zum katholischen Glauben konvertierten anglikanischen Priester und Laien ein Meßbuch „Divine Worship“ promulgiert hat (2015), das ohne Zweifel zum Römischen Ritus gehört. Auch hier ist somit der Bereich der Liturgiereform Pauls VI. überschritten.

Die weitere Behauptung des Art. 1, die von Paul VI. und Johannes Paul II. veröffentlichten liturgischen Bücher stünden in Übereinstimmung mit den Dekreten des Zweiten Vatikanischen Konzils, trifft nicht zu. Es läßt sich zeigen, daß sie in mancherlei Hinsicht und in schwerwiegender Weise im Widerspruch zu den konziliaren Willensäußerungen stehen. Dafür einige Beispiele. Art. 36 § 1 der Liturgiekonstitution setzte fest, daß der Gebrauch (also die tatsächliche Übung) der lateinischen Sprache in den lateinischen Riten zu erhalten ist. Diese Bestimmung ist überall mißachtet worden. Das Konzil äußerte den Willen, in den mit dem Volk gefeierten Messen der Volkssprache einen angemessenen Raum zuzuteilen. Gleichzeitig forderte es, daß die Christgläubigen die ihnen zukommenden Teile des Meßordinariums auch lateinisch sprechen oder singen können (Art. 54 Sacrosanctum Concilium). Die totale Verbannung der lateinischen Sprache widerspricht dem Konzil. Das Konzil sah Änderungen im Ritus der Messe lediglich für die mit dem Volk gefeierten Messen vor (Art. 49 Sacrosanctum Concilium). Ein total veränderter Novus Ordo entspricht nicht seinem Willen. Das Konzil forderte, daß die Kleriker beim Stundengebet die lateinische Sprache beibehalten. Die Benutzung einer volksprachlichen Übersetzung war nur für Einzelfälle vorgesehen (Art. 101 § 1 Sacrosanctum Concilium). Die völlige Entlatinisierung des Stundengebetes ist mit dem Willen des Konzils nicht vereinbar.

II. Die „Gruppen“

In Art. 3 des Motu proprio ist die Rede von „Gruppen“, welche die Messe nach dem Missale aus der Zeit vor der Reform von 1970 feiern. Der Ausdruck „Gruppen“ wird der Wirklichkeit der Besucher tridentinischer Messen nicht gerecht. Eine Gruppe ist eine überschaubare soziale Einheit von Mitgliedern, zwischen denen dauerhafte soziale Beziehungen bestehen. Die Besucher der tridentinischen Messe bilden regelmäßig keine solche Gruppe. Sie finden sich zur Feier dieser Messe ein, ohne eine soziale Einheit zu bilden. Es fehlt ein Band, das sie zu einer Gruppe zusammenfügt. Der Ausdruck Gruppe ist daher verfehlt. Er legt die Vermutung von Zusammenschluß und womöglich von Absonderung nahe, was beides nicht zutrifft. Von „Anhängern“ solcher Gruppen zu sprechen (Art. 3 § 2) ist nicht angebracht.

Dem Diözesanbischof wird in Art. 3 § 1 aufgetragen, festzustellen, daß derartige „Gruppen“ die Gültigkeit und die Rechtmäßigkeit der Liturgiereform, der Vorschriften des Zweiten Vatikanischen Konzils und des päpstlichen Lehramtes nicht ausschließen. Diese Bestimmung ist in mehrfacher Hinsicht angreifbar. Einmal sind die angesprochenen „Gruppen“, wie gesagt, lediglich Ansammlungen einzelner Personen. Sie sind auf keine andere Ordnung festgelegt als auf die Lehre und das Recht der katholischen Kirche. Einen „Gruppenkodex“ gibt es nicht. Man kann also auch nicht danach forschen. Zweitens ist Kritik an Einzelheiten der Liturgiereform keine Bestreitung ihrer Gültigkeit und Rechtmäßigkeit. Sie wird von vielen Seiten geübt, auch und gerade von deren Befürwortern. Man spricht seit langem von der „Reform der Reform“. Die zahllosen Abweichungen von dem Meßbuch Pauls VI., die allenthalben zu beobachten sind, zeigen die Unzufriedenheit weiter Kreise des Klerus mit der Reform. Eine Reform kann gelingen oder mißlingen. Drittens ist die Untersuchung oder gar Vernehmung der Freunde der tridentinischen Messe darüber, was sie über die Liturgiereform etc. denken, eine ungewöhnliche, ja diskriminierende Maßnahme. Sie werden gewissermaßen unter einen Generalverdacht gestellt. Keiner anderen „Gruppe“ in der Kirche widerfährt solche Bezichtigung. Die vielen Theologen, die sich gegen die Glaubens- und Sittenlehre der Kirche verfehlen, die zahlreichen Priester, die Eigenheiten und Absonderlichkeiten in den Vollzug ihres „Gottesdienstes“ einbauen, bleiben ungerügt und unbeanstandet. Kein Diözesanbischof wird vom Heiligen Stuhl beauftragt, die Lehre oder die Gesinnung der in seinem Gebiet tätigen Theologen zu untersuchen.

In Art. 3 § 4 des päpstlichen Motu proprio ist für die Feier der Messen im tridentinischen Ritus und für die Seelsorge solcher „Gruppen“ ein Aufpasser vorgesehen, und zwar als Delegat des Diözesanbischofs. Die Priester und die Laien, die an dieser Messe teilnehmen, werden also beaufsichtigt. Wo eine Aufsicht bestellt wird, legt es sich nahe, nach deren Notwendigkeit zu fragen. Für die Feier der Messe nach dem Ordo Pauls VI. ist eine spezielle Aufsicht nicht vorgesehen. Die Zelebranten und die Teilnehmer an dieser Messe scheinen ihrer nicht bedürftig, obwohl dem Papst bewußt ist, daß sich bei der Feier der Messe nach dem Novus Ordo häufig Unregelmäßigkeiten und Abweichungen zutragen. Auch hier mißt der Papst mit zweierlei Maß. Verdächtig des Eigensinns und des Ungehorsams sind nach seinem Urteil anscheinend nur die Freunde der tridentinischen Messe. Sie werden (auch hier wieder) unter Generalverdacht gestellt. Tatsächlich geschieht die Feier der alten Messe überall getreu dem Meßbuch und gemäß den Rubriken. Die Besucher der tridentinischen Messe denken nicht daran, Stellung und Befugnis von Konzil und Papst in Frage zu stellen.

Wenn noch ein Zweifel bestanden hätte, welche Absicht der Papst mit seinem Motu proprio „Traditionis Custodes“ verfolgt, dann wird er durch Art. 3 § 6 des Dokumentes ausgeräumt. Denn hier ist klar verfügt: Der Diözesanbischof darf die Bildung neuer „Gruppen“ von Freunden der tridentinischen Messe nicht gestatten. Das Absterben der bestehenden „Gruppen“ darf abgewartet werden. Bezüglich der „Gruppen“ verweise ich auf das oben Gesagte. Es sei aber noch einmal erklärt: Die Besucher der tridentinischen Messe bilden keinen Block und keine Abteilung, sondern sind völlig normale Gläubige, die sich nach einem würdevollen und von Überraschungen freien Gottesdienst sehnen, in dem sie sich ungestört im Anschluß an den Priester Gott aufopfern können.

III. Ort und Zeit der Meßfeier

Das Motu proprio „Traditionis Custodes“ befaßt sich auch mit dem Platz für die Feier der tridentinischen Messe. Der Diözesanbischof hat den Ort zu bestimmen, an dem sich die Gläubigen, die einer solchen „Gruppe“ angehören, zur Feier der Eucharistie versammeln können (Art. 3 § 2). Doch darf dies keine Pfarrkirche sein. Diese Vorschrift ist in mehrfacher Hinsicht zu beanstanden. Einmal gibt es in zahllosen Diözesen keinen heiligen Ort, an dem sich die Gläubigen zur Feier der Messe versammeln können, außer die Pfarrkirche. Eine Baracke, eine Garage oder ein Pferdestall sind gewiß kein geeigneter Ort für das heilige Geschehen der Messe. Nach dem CIC/1983 ist die Eucharistie an einem heiligen Ort zu feiern, außer die Notlage würde etwas anderes verlangen (c. 932). Eine solche Notlage ist in dem hier vorliegenden Fall nicht zu erkennen. Gerade die Meßfeier in der Pfarrkirche ist geeignet, die Einheit der Pfarrfamilie zu bezeugen und zu vertiefen. Die Freunde der alten Messe gehören ihr zu und wollen sich nicht räumlich von ihr absondern. Es wird sodann der Eindruck erweckt, diese Form der Meßfeier passe nicht in die Pfarrkirche, sie sei unerwünscht, während doch der wahre Beweggrund darin liegt, sie solle den Gläubigen verheimlicht werden, verborgen bleiben und vergessen werden. Den Mitgliedern der Pfarrei wird dadurch der Zugang zu der Meßfeier in diesem Ritus versperrt. Sie sollen offensichtlich nicht die Gelegenheit haben, sie kennenzulernen und womöglich davon angezogen zu werden. Es war die Absicht Papst Benedikts XVI., daß sich beide Formen des Römischen Ritus gegenseitig befruchten. Diese Absicht wird aber nur erreicht, wenn die tridentinische Messe an dem üblichen Ort der Eucharistiefeier zelebriert wird und frei zugänglich ist. Schließlich kann diese Vorschrift nur als unerträgliche Schikane und gewollte Diffamierung der Meßfeier im tridentinischen Ritus verstanden werden. Ihre Besucher werden ins Abseits gestellt und gewissermaßen von der Pfarrfamilie abgesondert. Die Anordnung, die Messe Pius' V. nicht in Pfarrkirchen feiern zu dürfen, ist daher undurchführbar; denn andere Kirchen stehen in der Regel nicht zur Verfügung. Ein Gesetz, das nicht durchführbar ist, ist nicht vernünftig. Kein Gesetz kann Unmögliches gebieten.

Ein besonderer Dorn im Auge des regierenden Papstes sind die bestehenden Personalpfarreien im alten Ritus. Personalpfarreien sind Pfarreien, die nach personalen Kennzeichen gebildet sind. Der CIC/1983 sieht Personalpfarreien ausdrücklich für die Gläubigen eines Ritus, einer Sprache oder einer Nationalität vor (c. 518). Der Diözesanbischof ist befugt, solche Pfarreien zu errichten (vgl. c. 515 § 2). Diese Organisationsform bietet sich vor allem in bevölkerungsreichen Städten an. In dem Motu proprio „Traditionis Custodes“ wird dem Diözesanbischof aufgetragen, die Nützlichkeit bestehender Personalpfarreien des tridentinischen Ritus für das geistliche Wachstum zu untersuchen und abzuschätzen, ob sie bestehen bleiben oder abgeschafft werden sollen (Art. 3 § 5). Neue Personalpfarreien im tridentinischen Ritus dürfen nicht errichtet werden (Art. 3 § 2). Damit vollzieht der Papst einen schwerwiegenden Eingriff in die Hoheitsgewalt des Diözesanbischofs in dem seiner Hirtensorge anvertrauten Gebiet.

Der Diözesanbischof hat nicht nur den Ort der Meßfeier im tridentinischen Ritus zu bestimmen, sondern auch die Tage, an denen sie stattfinden darf (Art. 3 § 3). Damit wird eine weitere Einschränkung der Zelebration der Messe in diesem Ritus ermöglicht oder gar nahegelegt. Der CIC/1983 gestattet die Feier der Eucharistie an jedem Tag und zu jeder Stunde (c. 931). Der CIC/1983 empfiehlt dem Priester eindringlich die tägliche Feier der hl. Messe (c. 904). Der CIC/1983 rechnet mit der Teilnahme der Gläubigen an der täglichen Messe (c. 904; vgl. cc. 898, 899 § 2). Papst Franziskus scheint entgangen zu sein, daß gerade die Freunde der tridentinischen Messe die eifrigsten und treuesten Gottesdienstbesucher auch an den Werktagen sind. Hat ihm die Befragung der Bischöfe dafür keine Belege geboten? Die Vorschrift ist auch eine schmerzliche Beeinträchtigung der Zelebrationsfreiheit der Priester. Soll durch das Motu proprio „Traditionis Custodes“ beispielsweise einem im Ruhestand befindlichen Priester untersagt werden, jeden Tag Gläubige um seinen Altar zu versammeln.

IV. Zelebrationserlaubnis

Die Absicht des Papstes, die Zelebration und die Mitfeier der tridentinischen Messe möglichst einzuschränken und allmählich zum Erliegen zu bringen, wird noch einmal besonders deutlich bei der Einschränkung der Priester, die Verlangen tragen, diese Messe zu zelebrieren. Hier geht es einmal um die jungen Priester. Es muß dem Papst zu Ohren gekommen sein, daß gerade junge Priester von dieser Messe angezogen werden. Diesen Zug möchte der Papst unterbinden. Die Priester, die nach der Veröffentlichung des Motu proprio „Traditionis Custodes“ geweiht werden, dürfen die tridentinische Messe nicht ohne weiteres feiern. Sie bedürfen dazu der Erlaubnis ihres Diözesanbischofs. Sie haben ein förmliches Ersuchen an den Diözesanbischof zu richten (Art. 4). Aber diese Schranke genügt dem Papst noch nicht. Der Diözesanbischof darf die erbetene Erlaubnis erst geben, nachdem er den Fall dem Apostolischen Stuhl vorgetragen hat. Zu ergänzen ist: und nachdem der Apostolische Stuhl zugestimmt hat. Denn einen anderen Sinn kann die Einschaltung des Apostolischen Stuhles nicht haben. Es ist unerhört, welche Hindernisse damit aufgebaut werden, um junge Priester von der Feier der tridentinischen Messe abzuhalten. Diese Einschränkungen haben ihren Grund. Es ist dem Papst offensichtlich bekannt geworden, daß sich die alte Messe gerade bei jungen Priestern zunehmender Beliebtheit erfreut. Sie haben ihren dogmatischen und spirituellen Wert erkannt. Nun soll verhindert werden, daß sie diese Erkenntnis in die Tat umsetzen, indem sie die tridentinische Messe zu feiern begehren. Wenn keine Zelebranten mehr für diese Messe vorhanden sind, stirbt sie aus.

Nicht genug mit dem Bemühen, junge Priester von der Feier der tridentinischen Messe abzuhalten, vergißt Papst Franziskus auch die älteren Priester nicht. Die Priester, welche nach dem Meßbuch von 1962 zelebrieren, dürfen diesen Brauch nicht ohne weiteres fortsetzen. Sie bedürfen dazu einer Ermächtigung ihres Diözesanbischofs (Art. 5). Nach dem Wortlaut und der Absicht des Dokumentes liegt es in der Hand des Diözesanbischofs, sie ihnen zu versagen und damit die Feier der alten Messe für ihre Person und ihre Meßbesucher zu unterbinden. Vermutlich rechnet der Papst damit, daß es genügend Diözesanbischöfe gibt, die seine Absicht erkannt haben, die Feier der alten Messe einzuschränken und allmählich zu erdrosseln, und die dementsprechend mit ihren Priestern verfahren werden. Er könnte sich täuschen. Die Zahl der Diözesanbischöfe, die keine Bedenken tragen, ihren Priestern die Zelebration im tridentinischen Ritus zu gestatten, dürfte keine quantité négligeable sein. Nachrichten aus den USA bezeugen, daß eine nicht unbeträchtliche Zahl von Diözesanbischöfen gewillt ist, die Feier der alten Messe weitergeführt zu sehen. Sie haben erkannt: Der tridentinischen Messe haftet eine ausgesprochen missionarische und apologetische Bedeutung an. Die Feier bzw. der Besuch der tridentinischen Messe hat viele Christen in der Kirche und in der religiösen Praxis erhalten oder sie beiden wieder zugeführt. Nicht wenige Konversionen sind der Zuneigung zu dieser Messe zu verdanken.

V. Kompetenzveränderungen

In Art. 6 seines Motu proprio nimmt der Papst eine Änderung der Kompetenz für die kirchlichen Verbände vor, welche die Genehmigung erwirkt hatten, die tridentinische Messe zu feiern. Bisher unterstanden sie der Glaubenskongregation. Nunmehr werden die Institute des geweihten Lebens und die Gesellschaften des apostolischen Lebens, die von der Päpstlichen Kommission „Ecclesia Dei“ errichtet wurden, der Zuständigkeit der Kongregation für die Institute des geweihten Lebens und die Gesellschaften des apostolischen Lebens unterstellt (Art. 6). In diesen Verbänden vermutet man die eifrigsten Verfechter der Meßfeier nach dem Meßbuch von 1962. Ihre Existenz beruht ja darauf, daß ihnen die Zelebration im tridentinischen Ritus gestattet wurde. Sie sind es, die heute den stärksten Nachwuchs an Priesterkandidaten haben. Vermutlich verspricht sich der Papst von dieser Kompetenzverschiebung deren straffere Beaufsichtigung.

Die Kongregation für den Gottesdienst und die Disziplin der Sakramente und die Kongregation für die Institute des geweihten Lebens und die Gesellschaften des apostolischen Lebens üben im Bereich ihrer Zuständigkeit die Autorität des Heiligen Stuhles aus. Sie haben über die Beobachtung der in dem Motu proprio enthaltenen Vorschriften zu wachen (Art. 7). Daß gleich zwei Kongregationen bemüht werden, den zumindest teilweise ominösen Bestimmungen Achtung zu verschaffen, unterstreicht noch einmal den gnadenlosen Willen des Papstes, seine Vorstellungen durchzusetzen.

VI. Schlußformel

Der Papst ist entschlossen, die Beachtung der in dem Motu proprio enthaltenen Bestimmungen in jedem Fall zu erzwingen. Dazu wird alles, was ihnen entgegensteht, aufgehoben. So verfügt er am Schluß dieses Dokumentes: Die Normen, Instruktionen, Zugeständnisse (concessioni) und Gewohnheiten, die nicht mit dem Motu proprio übereinstimmen, sind abgeschafft (Art. 8). Davon ist vor allem das Motu proprio „Summorum Pontificum“ Papst Benedikts XVI. betroffen. Dieser Heilige Vater hatte damals geschrieben: „Was früheren Generationen heilig war, bleibt auch uns heilig und groß; es kann nicht plötzlich verboten oder gar schädlich sein.“ Es ist offenkundig, daß der gegenwärtige Papst keinen Respekt vor dem gesetzgeberischen Willen seiner Vorgänger hat, von denen einer ja noch am Leben ist. Mit einem Federstrich löscht er aus, was zwei so herausragende Hirten und Theologen und Konzilsteilnehmer nach langer Überlegung angeordnet haben. Der Wille und die Absicht des regierenden Papstes sind eindeutig und klar. Die Messe Pius' V. in der Gestalt der Messe Johannes' XXIII. soll abgeschafft werden. Allgemeine kirchliche Gesetze erlangen ihre Rechtkraft erst nach Ablauf von drei Monaten von dem Tage an gerechnet, der auf der betreffenden Nummer des päpstlichen Amtsblattes, der Acta Apostolicae Sedis, angegeben ist (c. 8 § 1 CIC/1983). Papst Franziskus ließ diese Gesetzesschwebe nicht zu, sondern ordnete in seinem Motu proprio an, daß es sogleich nach seiner Veröffentlichung im Osservatore Romano in Kraft trete. Später werde es in den Acta Apostolicae Sedis veröffentlicht werden.

Zusammenfassung

Der Papst begründet sein rigoroses Vorgehen gegen die Freunde der tridentinischen Messe mit der Sorge um die Einheit der Kirche. Die festesten Bande der Einheit sind der Glaube und das Recht der Kirche. Der katholische Glaube wird heute an zahllosen Stellen von Gliedern der Kirche angefochten und aufgegeben. Niemals hat Papst Franziskus zu erkennen gegeben, daß er gewillt ist, der Erosion der Glaubens- und Sittenlehre durch die beauftragten Glaubenslehrer der Kirche entschieden zu begegnen. Nirgendwo wäre seine Sorge um die Einheit der Kirche mehr angebracht als hier. Doch er schweigt und sieht zu, wie der Glaube in zahllosen Gläubigen zerstört wird. Die Freunde der tridentinischen Messe sind die treuesten Wahrer und Bekenner des Glaubens der Kirche. Ihre Anhänglichkeit an diesen Glauben ist eines der Motive, die sie zur Teilnahme an der Feier der tridentinischen Messe führen. Hier finden sie die präzisen Aussagen über den dreifaltigen Gott, das Opfer Christi und seiner Kirche und die Gegenwart Christi in Gottheit und Menschheit. Ebenso scheint es dem Papst entgangen zu sein, daß es nicht die Freunde der Messe Pius' V. sind, die eine Änderung der Verfassung der Kirche fordern, sondern Anhänger des Novus Ordo celebrandi. Von ihnen erheben sich Forderungen nach Einschränkung der päpstlichen Gewalt und Stärkung der Selbständigkeit der „Ortskirchen“. Von ihnen werden das Frauenpriestertum und das Rätesystem auf allen Ebenen proklamiert. Die Übertreibungen einzelner Personen bei der Kritik des gegenwärtigen Zustands der Kirche sind nicht den Freunden der vorkonziliaren Messe zuzuschreiben, sondern ergeben sich aus theologischer Ignoranz einiger Querulanten. Es sind dies die sogenannten Sedevakantisten, nach denen der päpstliche Stuhl seit dem Tode des Papstes Pius XII. unbesetzt sei, die unerträgliche Ausstellungen und unglaubwürdige Vorwürfe erheben. Die Freunde der tridentinischen Messe stehen in Treue zum päpstlichen Primat und zu der in ihm geeinten katholischen Kirche. Nirgendwo haben sich Anhänger der vorkonziliaren Messe zu einer geschlossenen Phalanx vereinigt und von der Kirche getrennt. Die zahllosen Willkürlichkeiten und Abweichungen vom Novus Ordo sind einer der Gründe, weswegen gläubige und fromme katholische Christen den Gottesdienst im tridentinischen Ritus bevorzugen. Es sei noch einmal gesagt: Kritik an der Litugiereform ist keine Zurückweisung (rifiuto) derselben. In seinem Begleitschreiben räumt der Papst ein, daß der Gebrauch des Missale Romanum Pius' V. keineswegs selten war, sondern von „vielen“ geübt wurde. Die Befürchtung, daß der Hang zur tridentinischen Messe ausufern könnte, ist jedoch unbegründet. Die Ansprüche, die sie an Herz und Verstand, an Geduld und Aufmerksamkeit der Teilnehmer stellt, sind derart hoch, daß sie jene, die diesen Anforderungen nicht nachkommen wollen, nicht auf Dauer anzieht.

Kirchliche Gesetze müssen dem Gemeinwohl der Kirche dienen. Wenn sie diesem schaden, sind sie unwirksam. Die Vorgänger des gegenwärtigen Papstes waren fest davon überzeugt, daß die Erweiterung bzw. die Freigabe der Feier der tridentinischen Messe dem geistlichen Wohl der Gesamtkirche und darin eines besonders wertvollen Teils des Gottesvolkes zugute kommen. Es ist eine offenkundige Tatsache, daß die Freunde der alten heiligen Messe ganz überwiegend überdurchschnittliche katholische Christen sind, die ihre Kirche mit Wort und Tat lieben, erhalten und verteidigen. Das Motu proprio mit seinen Unterstellungen und Einschränkungen tritt der Gesinnung und der Überzeugung eines beträchtlichen Teiles des Klerus und des gläubigen Volkes zu nahe und beeinträchtigt seine Übung des Gottesdienstes und der Frömmigkeit. Es ist daher zu fragen, ob der Papst nicht damit seine Autorität überzogen hat. Es ist unbestritten, daß kirchliche Gesetze gerecht sein müssen. Kann das Motu proprio „Traditionis Custodes“ als ein gerechtes Gesetz angesehen werden? Die mannigfachen Unzuträglichkeiten, die mit dem Motu proprio „Traditionis Custodes“ verbunden sind, lassen Ausschau danach halten, wie ihnen begegnet werden kann. Dazu gibt es mehrere Wege. Die Gläubigen und die Priester können versuchen, den Papst zu überzeugen, daß die Einschränkung und gar die angezielte Abschaffung der Feier der tridentinischen Messe einen großen Verlust und Schaden für das Volk Gottes bedeuten. Jedes Kirchenglied ist befugt, seine Besorgnisse dem Vater der Christenheit zu unterbreiten (vgl. c. 212 §§ 2 und 3 CIC/1983). Die Bischöfe können von ihrem Remonstrationsrecht Gebrauch machen, d.h. sie können bei dem Papst vorstellig werden und begründeten Einspruch gegen das Motu proprio „Traditionis Custodes“ einlegen wegen all der Unzuträglichkeiten, die damit verbunden sind. Schließlich haben die Diözesanbischöfe die Möglichkeit und die Befugnis, die Gefahren und Schäden, die von dem Motu proprio ausgehen, abzuwenden, indem sie von seinen Bestimmungen Dispens erteilen. Der Diözesanbischof kann die ihm anvertrauten Gläubigen von allen universalen und partikularen Gesetzen dispensieren, ausgenommen von prozeß- und strafrechtlichen Bestimmungen sowie von jenen Gegenständen, deren Dispens dem Apostolischen Stuhl oder einer anderen Autorität besonders vorbehalten ist, sooft dies nach seinem Urteil ihrem geistlichen Wohl dient (c. 87 § 1 CIC/1983). Für jede Dispens ist das Vorliegen eines gerechten und vernünftigen Grundes erforderlich (c. 90 § 1 CIC/1983). Daß dieser im Falle der Feier der Messe Pius' V. bzw. Johannes' XXIII. gegeben ist, dürfte nach den oben gemachten Ausführungen nicht zweifelhaft sein.

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