Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
25. Dezember 2008

Seht, ich verkünde euch eine große Freude

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte, zur Feier der Geburt unseres Herrn und Heilandes Versammelte!

„Seht, ich verkünde euch eine große Freude: Heute ist euch in der Stadt Davids der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr.“ Das ist die Botschaft der Weihnacht. Es ist die Rede von einer Geburt und von der Freude, die diese Geburt auslöst. „Heute ist euch in der Stadt Davids der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr.“ Wir fragen: Wem ist der Heiland geboren? Die Antwort muss lauten: allen, allen die ihn aufnehmen, die bereit sind, sich seiner Gnade und Wahrheit zu öffnen. Für sie alle gilt das Wort: Heute ist euch in der Stadt Davids der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr. Dennoch können wir verschiedene Gruppen ausmachen, Gruppen von Menschen, denen die Geburt des Heilandes besonders nahe gehen sollte, die sich ihrer in besonderer Weise erinnern sollten, für die er, so meine ich, in besonderer Weise geboren wurde.

Die erste Gruppe ist die der Schuldbeladenen. Das sind wir alle, denn ein jeder von uns muss sprechen: „Ich bin in Sünde geboren. In Schuld empfing mich meine Mutter schon.“ Auch der Vollkommenste unter uns muss bedenken, dass vor Gott die Himmel der Himmel nicht rein sind. „Wenn wir sagen, wir hätten keine Sünde, so betrügen wir uns selbst, und die Wahrheit ist nicht in uns“, schreibt der Apostel Johannes. Wir sind Sünder: Aus der Sünde entsteht die Schuld. Die Sünde ist eine gottwidrige Handlung, die Schuld ist ein gottwidriger Zustand. Die Schuld liegt wie eine Last auf dem sündigen Menschen. Meine Freunde, lassen Sie sich nicht täuschen, wenn es heute Menschen gibt, die diese Last nicht empfinden. Dann hängt das damit zusammen, dass sie Gott nicht kennen. Sie haben den Maßstab verloren für ihr Leben und damit auch für ihre Schuld. Aber die Schuld rächt sich; sie rächt sich in Alpträumen der Nacht, sie rächt sich in Neurosen und Psychopathien. Die verdrängte Schuld rächt sich immer, ganz unabhängig vom Empfinden des Menschen. Nach Schiller – und damit hat er recht – ist das größte Übel die Schuld.

Niemand kann sich selbst von der Schuld befreien, denn die Sünde schafft einen Zustand, eine Unordnung nicht bloß zwischen Menschen, sondern auch zwischen Gott und den Menschen. Der Mensch kann Gott nicht nötigen, die verratene Freundschaft wieder aufzunehmen; er kann Gott nicht zwingen, das zerrissene Band wieder zu knüpfen. Er kann nur rufen, flehen, bitten: Komm, laß nach die Übeltaten deines Volkes. Und Gott läßt sich erbitten. Er kommt und trägt unsere Last. Sein Name schon ist sein Programm: Jesus, das heißt Erlöser.

Die Sünde ist Empörung gegen Gott. So mußte als Heilmittel also der Gehorsam gegen Gott seine Stelle finden. Jesus hat im Gehorsam gegen den Vater im Himmel den Leib, die Seele eines Menschen angenommen. „Für uns Menschen und um unseres Heiles willen ist er vom Himmel herabgestiegen.“ Er hat bei seiner Menschwerdung das von der Sünde zerfressene Leben auf sich genommen. Er hat sich im ganzen Leben im Gehorsam gegen den Vater ausgezeichnet und dadurch die Sündhaftigkeit überwunden. Den Ungehorsam der Sünde hat er durch seinen Gehorsam wieder gut gemacht.  Seine Gehorsamstat ist stärker als die Schuld der Menschen. Wenn auch die Schuld noch so groß ist, durch die Macht der Heiligkeit des Herrn ist die Schuld überwindbar. Keine Dunkelheit ist so tief, dass der Strahl dieser Sonne sie nicht erreichte. Er ist der wahre „sol invictus“, die unbesiegte Sonne, die niemals von der Dämmerung überwältigt wird. In der Oper „Fidelio“ von Ludwig van Beethoven gibt es ein ergreifendes Bild. Da öffnet sich der Kerker, heraus tappen blinzelnd und unsicher die schwankenden Gestalten der Gefangenen. Und als sie begreifen, was vor sich geht, dass sie ans Licht der Sonne treten dürfen, da bricht es auch ihnen wie erlöster Jubel: „O welche Wonne, zu schauen das Licht der Sonne!“ Diese Szene aus der Oper ist ein weihnachtliches Bild. Der neugeborene Heiland macht uns frei von der Schuld, er sagt dem Schuldbeladenen: Alles gebe ich hin, alles verkaufe ich, um deine Seele zu kaufen.

Wie glücklich dürfen wir sein, dass es eine Befreiung von der Last der Schuld gibt! Wie dankbar müssen wir sein, dass Gott sich selbst aufgemacht hat, um uns von der Sünde zu befreien. Es schweige Mohammed, es schweige Buddha, es schweige Laotse. Was vermögen sie gegenüber der Menschwerdung eines Gottes?

Die Sünde ist eine Last. Sie drückt den Menschen nieder. Sie kann Menschen zur Verzweiflung treiben. Ich habe einmal gelesen, dass zwei japanische Mädchen sich in einen Vulkan gestürzt haben, weil sie mit ihrer Schuld nicht fertig wurden. Es gibt einen, der mit der Schuld fertig wird, unseren Heiland. Wer immer im Vertrauen und in Reue sich ihm zuwendet, wer sich mit zerknirschtem Herzen an ihn klammert, der wird frei von Schuld. „Ihr wißt, dass er erschienen ist, die Sünde hinwegzunehmen“, schreibt der Apostel Johannes. „Er hat alle unsere Missetaten vergeben, er hat den wider uns lautenden Schuldschein ans Kreuz geheftet“, schreibt der Apostel Paulus, der Theologe des Kreuzes. Ans Kreuz geheftet hat er den Schuldschein und ihn dadurch ausgelöscht und vernichtet. In ihm haben wir die Erlösung durch sein Blut, die Vergebung der Sünden. Und diese Erlösung hebt an mit der Menschwerdung. So können wir, meine lieben Freunde, heute allen Schuldbeladenen mit den Engeln zurufen: „Ihr Schudbeladenen, stoßt auf die Tore, tretet heraus aus der Finsternis, kommt zum Licht, zur Sonne, zur Sonne des Heiles, welche ist Christus, der Herr!“ Und dann wird die Welt wahrlich neu. In dem Bühnenstück von Carl Zuckmayer „Des Teufels General“ spricht der General Harras: „Wo aber ein Mensch sich erneuert, da wird die Welt neu geschaffen.“ Jawohl, so ist es. Wo ein Mensch sich erneuert in der Gnade des Herrn, da wird die Welt neu geschaffen. Diese Erneuerung ist das Werk unseres Heilandes.

Und wir können ihm dabei helfen, meine lieben Freunde. Wir können seine Hände werden, wir können sein Mund werden. Nur müssen wir uns den Menschen zuwenden, müssen ihnen sagen, was sie tun und lassen sollen, um des Heiles teilhaftig zu werden. Wir müssen unseren Glauben weitertragen, wir dürfen nicht davon schweigen. Wir dürfen auch nicht von dem schweigen, was die Menschen nicht hören wollen. Der Heilige Vater macht es uns vor. Er spricht davon, das homosexuelle Betätigung eine tödliche Sünde ist. Wir sollen die Menschen aufklären, wir sollen sie bitten, mahnen, einladen, umzukehren von der Sünde, ein sündhaftes Verhältnis aufzugeben. Wir sollen durch unser Beispiel auf die Menschen einwirken, es ihnen vormachen, es ihnen zeigen, wie ein Christ lebt. Und wenn Wort und Beispiel nicht helfen, können wir für die Menschen immer noch beten und sühnen, auf dass Gott ihnen hilft, sich von der Sünde zu befreien. Es gilt ihnen wahrhaft das Wort: Heute ist euch, ihr Schuldbeladenen, der Heiland geboren. Er ist gekommen, um euch von der Schuld zu befreien.

Es gibt aber auch, meine ich, eine zweite Gruppe, denen der Heiland in besonderer Weise geboren ist. Es sind die Einsamen. Der Mensch ist zur Gemeinschaft geschaffen. Schon für den ersten Menschen war es auf die Dauer unerträglich, allein zu sein. Und so hat Gott ihm eine Gefährtin geschaffen. Der Mensch braucht die Gemeinschaft, er sucht die Gemeinschaft. Er findet sie in den natürlichen Gemeinschaften, in Ehe und Familie, oder in organisierten Gemeinschaften wie Vereinen, Clubs, Orden, Parteien. Aber nicht jedes Zusammensein befreit von der Einsamkeit. Allein sind häufig auch solche, die in einer Gemeinschaft leben. Die Nähe der Körper allein schafft keine Gemeinschaft. Die Nähe der Körper allein befreit nicht von der Einsamkeit. Die Nähe der Körper allein bringt keine Verbundenheit. Die Seelen müssen zueinander finden. Da sind junge Burschen, junge Mädchen, sie haben ein Elternhaus, sie leben in der Familie. Aber es hält sie nicht an ihrem Herd. Sie verbringen Abend für Abend bei Freunden, bei einer Blase, in der Disco. Da sind jungverheiratete Ehepaare. Es fehlt nicht an materiellem Wohlstand, aber es klagt der Mann, es klagt die Frau: Ach, ich bin ja so allein! Mit meinem Mann, mit meiner Frau kann ich nichts reden, der Mann, die Frau hat keine Zeit für mich. So mancher seufzt: Ich habe keinen Menschen, der mich versteht, der sich meiner annimmt, der gut ist zu mir. Es gibt so viele Einsame, heute vielleicht mehr als früher, nicht nur die Alleinstehenden, sondern auch die Verwitweten, die Verlassenen, die Verstoßenen. In dieser Nacht ergeht an sie die Botschaft: Euch ist heute der Heiland geboren. Dieser Heiland versteht sich auf Einsamkeit. Um den Einsamen nahe zu sein, um sie in ihrer Einsamkeit zu trösten, ist der Herr selbst einsam geworden. Er hat nicht bloß die Schuld, er hat auch die Einsamkeit der Menschen auf sich genommen, um sie hinwegzutragen. In einer einsamen Höhle ward er geboren, in Einsamkeit weilte er in Ägypten, einsam war er selbst in Nazareth, auch wenn liebende Eltern ihn umsorgten, denn Gott ist auf Erden immer ein Fremdling. Als er seinen Eltern erklärte, weswegen er im Tempel von Jerusalem zurückgeblieben war, da verstanden sie nicht, was er mit diesen Worten sagen wollte. Während seiner öffentlichen Wirksamkeit waren die Jünger um ihn, aber wer so von Gottes Auftrag erfüllt ist wie unser Heiland Jesus Christus, der bleibt einsam, auch wenn Menschen um ihn sind. Wie oft registriert der Evangelist das Unverständnis der Jünger! Als er ihnen sein Leiden ankündigte, da – drei Ausdrücke gebraucht Lukas – da verstanden sie ihn nicht, die Worte waren für sie dunkel und sie erfaßten sie nicht. Dreimal sucht Lukas die furchtbare Einsamkeit des Heilands zu erklären in seiner Leidensankündigung. Unverstandensein macht immer einsam. Einsam war er auch mit seinem Gott. In den ganzen Evangelien ist keine Stelle, die uns berichtet, dass er mit seinen Jüngern gebetet hätte. Auf einsamen Bergen hielt er Zwiesprache mit seinem Gott, er ganz allein. Einsam ist er durch das Leben gegangen. Viele glaubten an ihn; sie sahen ja die Wunder, die er wirkte. Aber, so bemerkt der Evangelist Johannes, er vertraute sich ihnen nicht an, denn er wußte, was im Menschen ist. Er kannte die Wankelmütigkeit des Menschen. Er wußte, dass sie heute „Hosianna“ rufen und morgen „Kreuzige ihn!“ Einsam war er in seinen Leiden am Ölberg, als die Jünger schliefen, die er doch gebeten hatte, mit ihm zu wachen. Einsam war er bei den Verhören und Mißhandlungen, als alle Jünger flohen und einer ihn verleugnete. Einsam war er am Kreuze. Da erfüllte sich das Wort: „Man stirbt für sich allein.“

Die Einsamkeit des Gottessohnes, meine lieben Freunde, hat erlöserische Bedeutung. Auch durch seine Einsamkeit hat er uns erlöst, zuerst von Schuld und Sünde, aber auch von der unaufhebbaren Einsamkeit, die mit der menschlichen Existenz gegeben ist. Es gibt eine Einsamkeit, die kein Mensch dem anderen nehmen kann. In diese Einsamkeit tritt der Gottessohn ein. Es ist eine Wahrheit und kein Wahn: Der Heiland ist den Einsamen nahe.

Es war Weihnachten 1945 in einem Kriegsgefangenenlager im Ural. Es waren Arbeitstage wie alle anderen. Bei den Russen galt immer nur „Rabota, Rabota“ – Arbeit, Arbeit. Die Gefangenen hatten von der kargen Verpflegung einiges abgespart. Und so gab es ein für ihre Begriffe festliches Essen. Die Baracke hatten sie mit Tannenzweigen geschmückt. Sogar einige Kerzen waren aufgetrieben worden für den kleinen Christbaum. Das alles war nicht ohne Widerspruch geschehen. Die russische Lagerleitung hatte es zwar genehmigt, aber unter den Kameraden selbst regten sich heftige Stimmen dagegen. Einer bat flehentlich, in diesen Tagen doch ja jede Erinnerung an Weihnachten zu unterlassen. Nur nicht daran denken, sagte er, nur nicht daran denken. Das ist die einzige Art, wie ich es überstehen kann. Wenn ihr eine Feier macht, halte ich es nicht mehr aus und bringe mich um. Er hat sich nicht umgebracht, nicht nur, weil er im entscheidenden Augenblick zu feige war, sondern weil das weihnachtliche Licht, das in der Finsternis leuchtet, auch in seine Seele gefallen war. Sie waren ganz einsam, ganz allein in der Weite Rußlands, die Männer in der dreckigen Baracke. Auf Erden war keine Macht, die ihnen helfen konnte oder auch nur helfen wollte. Von Urwäldern umgeben, waren sie verschollen und preisgegeben. Aber als sie das Weihnachtsevangelium vernahmen, da ging es ihnen wie ein Wunder auf: Gott hat derer nicht vergessen, die im Finstern sind gesessen. Es war einer, der an sie dachte, der um sie wußte, einer, der mehr Macht hatte als die Geheimpolizei und als Stalin.

Er ist den Einsamen immer nahe. Er ist ihnen auch insofern nahe, als er Menschen eingibt, sich der Einsamen anzunehmen. Er ruft Menschen auf, die Einsamen nicht zu vergessen. Er ist erschienen, um das Feuer der Nächstenliebe aus den Herzen zu schlagen. Der Heiland kommt den Einsamen zu Hilfe, indem er unsere Gewissen aufrüttelt und sagt: Mach auf, denk an den einsamen Bruder, denk an die einsame Schwester. Laß sie nicht in der Kälte und in der Einsamkeit stehen! Und er tut noch mehr. Er setzt sich mit den Einsamen gleich. Jetzt klopft nicht mehr die lästige Nachbarin an unsere Pforte, jetzt belästigt uns nicht mehr ein lästiger Freund, nein, es ist der Herr selber. Es ist der Herr, der sich uns nähert und der alle verbitterten Herzen lösen und in sie einsteigen will.

Ich meine, es ist noch eine dritte Gruppe von Menschen, denen der Herr in besonderer Weise geboren ist. Es sind die Armen. Es gibt zwei Gruppen von Armen, die materiell Armen und die geistig Armen. Der Herr hat um die Armut gewußt. „Arme habt ihr immer bei euch“, hat er einmal gesagt. So ist es. Bis heute gibt es die zwei Gruppen der Armen, die materiell Armen und die geistig Armen. Es gibt hunderte Millionen von Menschen, die nicht genug zu essen und zu trinken haben, denen sauberes Wasser fehlt, deren sich kein Arzt annimmt, die kein Heim über dem Kopf haben und die auf der Flucht sind. Immer neue Wellen spült die Weltgeschichte an den Strand. Wir haben die Elendszüge noch nicht vergessen, die aus dem Osten kamen, die Millionen Vertriebenen von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer. Und auch heute sind wieder Zehntausende auf der Flucht, in Uganda, im Sudan, in Indien. Auch in unseren Landen gibt es viele Menschen, die das Lebensnotwenige nicht haben, arme Menschen, arme Eltern, arme Kinder.

Freilich noch schlimmer als die materielle Armut ist die seelische Armut. Seelisch arm sind jene, die Gott nicht kennen, die keinen Glauben haben, denen der Darwinismus die Lichter ausgelöscht hat. Seelisch arm sind jene, die Christus nicht kennen, die seine Gottheit leugnen, die ihn zu einem galiläischen Wanderprediger degradieren. Arm sind auch jene, die nicht wissen und nicht wissen wollen, dass sich der Himmel immer wieder öffnet, um eine Botschaft zu den Menschen dringen zu lassen. Ich war einmal Zeuge, wie ein Theologieprofessor, ein katholischer Theologieprofessor sagte: „Ich halte nichts von Fatima.“ Darauf entgegnete ihm eine fromme Frau: „Da sind Sie aber arm!“ Arm sind auch alle jene, die dem Egoismus frönen, die nur um sich selbst kreisen, deren Gott der Bauch ist, die dem Genuß verfallen sind. Arm sind jene, die zur edlen, reinen Liebe unfähig sind, die Herzlosen, die Hartherzigen, die Mitleidlosen. Arm sind die Haltlosen, die Willenlosen, die Charakterlosen, die Hasser, die Neider, die Geizigen. Arm sind alle, die nicht reich an Tugenden sind. Manche wissen es gar nicht, wie arm sie sind. In Laodicea zur Zeit des Apostels Johannes, da war einer, der von sich sagte, er sei reich und begütert und benötige niemanden. Der Apostel Johannes war anderer Ansicht. Er schrieb ihm: „Du bist unglücklich und elend und arm und blind.“

In einer gewissen Hinsicht sind wir alle arm, ganz arm. Was ist das bißchen Schönheit, Begabung, Ansehen anderes als Tünche über unserem Elend? Aber es ist einer, der die Armen reich machen kann, denn den Armen wird gesagt: „Heute ist euch der Heiland geboren.“ Durch seine Armut hat er uns erlöst. Arm war er im Stalle von Bethlehem, arm war er im Haus von Nazareth, arm wanderte er durch die Fluren von Galiläa und Judäa. Es sprach ihn einmal einer an und sagte: „Ich will dir folgen, wohin du gehst.“ Da gab ihm der Herr zur Antwort: „Die Füchse haben Höhlen, und die Vögel des Himmels haben Nester, aber der Menschensohn hat nicht, wohin er sein Haupt legen kann.“ Er hat die Armut auf sich genommen und sie fortgetragen. Er hat die Armut geteilt und sie dadurch innerlich überwunden. Denn das ist das Christentum nicht, dass ein reicher Mann kommt und die Armen reich macht, sondern dass der Ärmste von allen die Amen reich macht. Er wollte für sich arm sein, um uns reich zu machen. Er, der allen Nahrung gab, hungerte. Er, der allen Trunk geschaffen hat, dürstete. Auf seiner Erdenwanderung ward er müde, er, der sich selbst zum Weg zum Himmel gemacht hat. So ergeht heute auch die Botschaft an die Armen: Euch ist der Heiland geboren, der Heiland der Armen.

Aus dem vorigen Jahrhundert wird eine aufschlußreiche Begebenheit berichtet. Ein Invalide fiedelte auf seiner Geige ein paar armselige Weisen herunter und bettelte. Die Menschen gingen vorüber. Selten fiel ein Geldstück in seinen Hut. Da kam einer, nahm die Geige aus der Hand und spielte. Die Menschen standen und horchten. Bald war der Hut mit Geldstücken gefüllt. Als der Mann ging, es war Paganini, der große Geiger, der berühmte Künstler, von dem ganz Europa spricht, da kamen dem Bettler Tränen der Freude. Diese Begebenheit ist ein Gleichnis. Der Heiland ist den Armen geboren, um sie reich zu machen, und er hat uns reich gemacht, reich an Gnade und Wahrheit. Die Armut an Gnade und Wahrheit konnte nur er hinwegnehmen. Und dazu ist er gekommen, sie fortzutragen.

Er will freilich, dass wir uns an seinem Erlösungswerk beteiligen. Er will in uns die Liebe zu den Armen wecken. Viele Erbitterte und Enttäuschte müssen erst wieder an den Menschen glauben lernen, bevor sie an Gott glauben können. Wegen der Menschen sind sie irregeworden an Gott. So sollen sie durch Menschen wieder zu Gott finden.

Der weise Mahatma Gandhi hat einmal das schöne Wort gesprochen: „Den Hungernden muss Gott in der Form des Brotes erscheinen.“ Wahrhaftig, den Hungernden muss Gott in der Form des Brotes erscheinen. Das hat unsere Kirche verstanden. Seit 2000 Jahren hat sie eine Liebestätigkeit hervorgerufen, die ihresgleichen sucht in der Welt. Strohfeuer der Nächstenliebe, vorübergehende Anwandlungen brennen auf allen Herden. Als ewige Lampe brennt die Liebestätigkeit nur im Heiligtum des Glaubens.

Es kommt nicht, meine lieben Freunde, auf die Größe der Gabe an. Entscheidend ist die Gesinnung. Ja, wenn es an materiellen Mitteln fehlt, kann sogar die Gesinnung die Gabe ersetzen. Der russische Dichter Turgenjew erzählt: „Ich wanderte die Straße entlang, da hielt mich ein alter, gebrechlicher Bettler an. Ich suchte in allen Taschen, aber o weh, ich hatte weder Geld noch Uhr, nicht einmal ein Taschentuch eingesteckt. Ich hatte nichts drin. Doch der Bettler wartete noch immer. Die ausgestreckte Hand zitterte. Verwirrt, bewegt erfaßte ich sie und sagte bedrückt. ,Sei nicht böse, Bruder, ich habe nichts.’ Der Bettler richtete seine entzündeten Augen auf mich, lächelte und drückte meine Hand. ,Macht nichts, Bruder’, sprach er leise. ,du wolltest geben, dafür danke ich dir.’ Turgenjew beendet seine Erzählung mit dem Satz: Ich begriff, dass auch ich ein Almosen erhalten hatte.“

Meine lieben Freunde, Weihnachten ist heute, Weihnachten, das innige Fest, das schöne Fest, das deutsche Fest. Halten wir uns an die tiefe und eigentliche Freude der Weihnacht: „Heute ist euch der Heiland geboren.“ Diese Freude bleibt. Der Christbaum fällt ab, die Geschenke werden alt, die Feiertage gehen vorüber. Aber der Ruf verhallt nicht: „Seht, ich verkünde euch eine große Freude: Heute ist euch der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr.“

Amen.

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