Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
9. August 2015

Das Gewissen

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

In den letzten Jahrzehnten wird in der Welt und in der Kirche viel, sehr viel vom Gewissen gesprochen. Ich frage mich, ob die, welche vom Gewissen reden, auch wissen, was das Gewissen ist. Bei einer wichtigen Abstimmung im Bundestag meinte einer der Abgeordneten, seine Kollegen mahnen zu müssen, es sei dies eine Gewissensentscheidung. Hinter dieser Mahnung steht ein falscher Begriff des Gewissens. Denn jede menschliche Entscheidung, nicht bloß eine wichtige in dem Bundestag, jede menschliche Entscheidung muss aus dem Gewissen erfolgen und muss vor dem Gewissen bestehen können. Jeder beabsichtigten Handlung des Menschen muss das Urteil des Gewissens vorausgehen: Das ist erlaubt, das ist nicht erlaubt. Das Gewissen begleitet jede! vollbewusste menschliche Handlung in deren ganzen Verlauf: bezeugend, beurteilend und bindend. Wir unterscheiden in unserer katholischen Lehre die Gewissensanlage und das Gewissensurteil. Die Gewissensanlage ist die im Menschen vorfindliche Empfänglichkeit und Aufnahmefähigkeit für das Sittengesetz. In der Gewissensanlage ist die ursprüngliche intellektuale und emotionale Empfänglichkeit für sittliche Werte und die Hinordnung auf das Gute gegeben. Das Gewissensurteil dagegen ist die Anwendung des göttlichen Gesetzes auf den Einzelfall und wird so für den Menschen zu einem inneren Gebot, zu einem Anruf, in der konkreten Situation das Gute zu tun. Gegenstand des Gewissensurteils ist die sittliche Bedeutung dieser einzelnen konkreten Entscheidung. Die Verbindung von Gewissensanlage und Gewissensurteil vollzieht sich in folgender Weise: Das Urgewissen ist das angeborene und unverlierbare Vermögen der praktischen Vernunft, die ersten Grundsätze der Sittlichkeit zu erkennen, also: das Gute ist zu tun; das Böse ist zu meiden; dem Nachbarn darf man nicht schaden. Auf der Grundlage der Gewissensanlage baut sich durch Belehrung, Erfahrung und positive Gesetze die Haltung, die Einstellung des sittlichen Wissens auf. Zieht die Vernunft aus Anlage und Haltung praktische Folgerungen für das eigene persönliche Handeln, entsteht das aktuelle, praktische Werturteil und Gebot, das Gebotene zu tun.

Die Gewissensanlage, meine lieben Freunde, bedarf der Belehrung und Ausbildung. Sie ist gewissermaßen nur das Rohmaterial, aber das muss geschliffen werden. Gewissensbildung ist die planmäßige Pflege der Gewissensanlage und der Befähigung zum richtigen Gewissensurteil; sie muss in frühester Jugend einsetzen. Das Kind soll in einer wertbestimmten Atmosphäre heranwachsen. Es soll die Bereitschaft zum Guten lernen und die Kraft zum Triebverzicht. Ich denke mit Bitterkeit an die heute in den Schulen betriebene Sexualkunde. Hier werden den Kindern erlaubte und unerlaubte geschlechtliche Praktiken auf einer Linie vorgetragen. Wie soll ein Kind ein richtig gebildetes Gewissen erhalten, dem in der Schule die Beliebigkeit sexueller Betätigung unterbreitet wird? Zunächst ist natürlich die Übernahme der Sollensnorm autoritativ begründet. Man lernt es von den Eltern, vielleicht auch von den Lehrern. Aber diese zunächst autoritativ begründete Sollensnorm muss zur freien Annahme geführt werden. Dazu muss planmäßige Lehre über das Gewissen, über das Wesen der sittlichen Gesetze und über das rechte Stehen zu diesen führen. Der junge Mensch soll das Gewissen als ein Mittel verstehen, durch das er geformt wird, das Gesetz zu beachten. Er muss lernen, dass das sittliche Gesetz keine Fessel ist und keine Schranke, sondern ein Mittel zur Verwirklichung seiner edlen Persönlichkeit. Der junge Mensch muss befähigt werden, das abstrakte Gesetz auf die konkrete Situation des Lebens anzuwenden. Gleichzeitig muss sein Wille zur Wertverwirklichung geweckt und gepflegt werden. Er muss lernen, die stille Regung des Gewissens nicht zu verleugnen. Der Wille zur sittlichen Selbstbestimmung muss eingeübt werden, dazu muss die Bereitschaft kommen, sich von der Autorität leiten zu lassen. Das Zweite Vatikanische Konzil hat mit Recht gelehrt: „Bei der Gewissensbildung müssen die Christen die heilige und sichere Lehre der Kirche vor Augen haben. Denn die Kirche ist nach Gottes Willen die Lehrerin der Wahrheit; ihre Aufgabe ist es, die Wahrheit zu verkündigen und autoritativ (also verbindlich) vorzulegen.“ Ziel der Gewissensbildung ist das wache, das selbständige, das feine Gewissen, das auf jede sittliche Bedeutung zuverlässig, schnell und in feinster Abwägung aller Gegebenheiten reagiert. Deswegen ist die wichtigste Sparte der Lehre vom Gewissen das Gewissensurteil.

Das Urteil des Gewissens ist ein praktisches Urteil, d.h. ein Urteil, das auf die Praxis, auf das Tun zielt. Ein praktisches Urteil, das anordnet, was der Mensch tun oder lassen soll oder das eine von ihm bereits ausgeführte Tat beurteilt und bewertet. Das Gewissensurteil ist ein Urteil der praktischen Vernunft über das Sittliche des eigenen Handelns. Im Gewissensurteil realisiert der Mensch die Anwendung des objektiven Gesetzes auf die konkrete Lage. Das Gewissensurteil entsteht normalerweise aus einem Syllogismus, also aus einer Schlussfolgerung, aus einem Schluss vom Allgemeinen zum Besonderen. Der Obersatz ist das allgemeine Prinzip; der Untersatz ist die konkrete Lage; der Schlusssatz ist das Gewissensurteil. Also z.B.: Das Böse darf man nicht tun; Lügen ist böse, also muss man es meiden. Das ist der Weg, wie ein Gewissensurteil entsteht. Man unterscheidet das vorangehende und das nachfolgende Gewissen. Das vorangehende Gewissen mahnt, warnt, gestattet, fordert auf. Das nachfolgende Gewissen lobt entweder die gute Tat oder tadelt sie; es entsteht das böse, das richtende, das strafende Gewissen. Im Gewissen, meine lieben Freunde, erlebt der Mensch die Bindung durch ein Gesetz. Das Gewissensurteil ist das Bewusstwerden des sittlichen Gesetzes. Das Zweite Vatikanische Konzil erklärt richtig, dass der Mensch im Inneren seines Gewissens ein Gesetz entdeckt, entdeckt!, also vorfindet, das er sich nicht selbst gibt, sondern dem er gehorchen muss. In diesem Sinne muss man sagen: Das Gewissen ist keine Norm, es ist die Empfangsstelle für Gottes Norm. Es ist keine schöpferische Instanz, sondern eine vernehmende Stelle. Nicht das Gewissen befiehlt eigentlich, sondern das Gesetz. Wir sprechen zwar so, wir sagen: Das Gewissen befiehlt mir; aber das ist eine abgekürzte Redeweise. Was in unserem Bewusstsein befiehlt, ist das Gesetz und nur das Gesetz. Richtig sagt der heilige Bonaventura, das Gewissen sei gleichsam der Herold und der Bote Gottes, weil es eben eine Botschaft, eine Sendung von Gott bringt. Was es sagt, befiehlt es nicht von sich aus, sondern als Botschaft, die von Gott stammt. Das Gewissen ist niemals autonom, d.h. niemand kann sich selbst das Gesetz geben. Es ist immer heteronom, d.h. vom Gesetz eines anderen, nämlich Gottes, abhängig.

Das Gewissensurteil ist nicht unfehlbar; es kann irren. Es kann irren in den entfernteren Folgerungen aus dem Naturgesetz. Es kann irren in der Forderungen des positiven Gesetzes: Kann, darf, muss ich dieses Gesetz beachten oder ist es ein schlechtes, ein ungültiges Gesetz? Es kann irren in der Anwendung bestimmter Normen auf verwickelte Fälle. Abtreibung der Leibesfrucht ist durch göttliches Gesetz verboten. Aber da setzt erst das Fragen ein: Ist eine assistierende Krankenschwester an der Abtreibung beteiligt? In welchem Maße? Geschähe die Abtreibung auch ohne ihre Unterstützung? Gibt es für ihre Beteiligung Entschuldigungsgründe? Man trifft, wenn man mit den Menschen über das Sittliche spricht, häufig auf die Meinung, eine bedenkliche Handlung werde sittlich einwandfrei, wenn sie aus einer guten Absicht hervorgeht, wenn sie einen guten Zweck intendiert. Dagegen ist zu sagen: Eine Handlung ist nur gut, wenn drei Elemente zusammenkommen, nämlich: die Handlung selbst muss gut sein, die Umstände müssen gut sein und der Zweck muss gut sein – Bonum ex integra causa, malum ex quolibet defectu. Wenn nur eines dieser Elemente fehlt, ist die Handlung schlecht. Schwierig ist das Gewissensurteil vor allem dann, wenn ein und dieselbe Handlung eine doppelte Wirkung hat, eine unmittelbar beabsichtigte und eine wegen des unzertrennlichen Zusammenhangs mit dem angestrebten Ziel nur zugelassene. Hier ist nach dem Kompensationsprinzip zu verfahren. Ist die unmittelbare Wirkung der Handlung gut, ist sie selbst gut und der Zweck sittlich einwandfrei, darf trotz der schlimmen Folge die Handlung vollzogen werden, falls ein hinreichender Grund vorliegt. Mir war in der Zeit des Dritten Reiches bewusst, dass das Regime Verbrechen befahl; ich war von meinen Eltern und Großeltern aufgeklärt. Ich musste 1944 in die Rüstungsfabrik einrücken – Telefunken –, wo wir Röhren herstellten. Ich habe also mittelbar die Kriegsmaschine in Gang gehalten mit meiner Tätigkeit. Aber was sollte ich machen? Ich war zwangsverpflichtet; meine Tätigkeit war ganz untergeordnet. Neben mir arbeiteten viele Juden aus Holland, die auch diese Tätigkeit verrichteten. Ich glaubte, dass ich das vor dem Gewissen oder besser vor Gottes Gesetz verantworten könnte.

Beim Gewissensirrtum unterscheidet man den überwindlichen und den unüberwindlichen Irrtum. Überwindlich ist ein Irrtum, wenn er verschuldet ist, wenn man nicht genügend sorgfältig war, wenn man sich nicht genügend über die sittliche Bedeutung orientiert hat. Unüberwindlich ist der Irrtum, wenn der Mensch sich dessen nicht bewusst ist und allein auch nicht aus dem Irrtum herausgelangen kann. Das mit einem unüberwindlichen Irrtum behaftete Gewissen verpflichtet; auch das mit einem unüberwindlichen Irrtum behaftete Gewissen verpflichtet, und zwar weil man eben überzeugt ist, dass darin der Wille Gottes sich ausspricht.

Vom Gewissen wird heute viel geredet. Aber die Berufung auf das Gewissen ist häufig Anmaßung oder gar bloße Redensart. Auf dem Gewissensgebiet haben die Menschen sich häufig und in schwerwiegender Weise verirrt. Das ist verständlich, denn hier geht es ja um das Verpflichtetsein im ganzen Leben. Nehmen wir etwa den Evolutionismus; er ist der Meinung, dass das Gewissen seine Ansätze schon im Tier hat und dass es sich beim Menschen emporentwickelt hat, aber absolute Urteile, absolute Gesetze, immer verbindliche Normen gibt es nicht. Das ist der darwinistische Evolutionismus. Kant macht es vornehmer. Kant hat die Autonomie des Gewissens begründet, d.h. der Mensch gibt sich selbst das Gesetz. Und welches ist die Formel, nach der er sich die Gesetze gibt? „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“ Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde. Also die Verallgemeinerungsfähigkeit bestimmt die Sittlichkeit des Handelns; das muss ich überlegen: Kann das, was ich jetzt tun will, verallgemeinert werden? Das ist natürlich eine unmögliche Lösung. Denn darüber bestehen die größten Unterschiede, ob eine bestimmte Handlungsweise verallgemeinert werden kann oder nicht. Die Verwirrung, die gewisse Theologen in der Kirche angerichtet haben, macht vor der Lehre vom Gewissen nicht halt. Sie sprechen von der Autonomie des Gewissens und von der autonomen Moral. Die Absicht, die bei diesem Vorgehen besteht, ist klar. Es ist diesen Theologen darum zu tun, guten Gewissens das vollbringen zu können, was vom Sittengesetz als in sich schlecht eingestuft wird. Um es noch deutlicher zu sagen: Sie wollen in den beliebigen geschlechtlichen Vergnügungen nicht behindert werden. Es ist eine tiefgehende Verirrung, anzunehmen, das Gewissen schaffe sich selbst die sittliche Norm. Sittliche Normen schafft nur der Gesetzgeber: Gott. Das Gewissen nimmt sie entgegen, wendet sie an auf die konkrete Situation, ist die Empfangsstelle, aber es ist keine Produktionsstätte. Seneca war eine Heide. Aber von Seneca stammt das Wort: „Nahe ist dir Gott. Er ist bei dir, es ist in dir. Ja, ein heiliger Geist wohnt in uns und wacht über das Gute und Böse in uns.“ So schreibt der Heide Seneca, der Lehrer Neros. Die irrlehrenden Theologen gehen so weit, dass sie meinen, sich unter Berufung auf das Gewissen über Glaubenssätze und Sittenlehren der Kirche hinwegsetzen zu können. Welche Verirrung! Meine lieben Freunde, dazu ist doch die Kirche geschaffen worden, um Gottes Willen auf der Erde Gehör zu verschaffen. Es ist ihr doch von Gott aufgetragen, den Menschen die Wahrheit des Glaubens und der Sittenlehre zu verkünden, dazu ist sie doch ermächtigt, dazu besitzt sie Autorität. Das Lehramt der Kirche legt nicht selbst erfundenen Normen vor, sondern die, welche es von Gott empfangen hat. Wer sich auf das Gewissen beruft, um die vom kirchlichen Lehramt verkündeten Lehren zu bestreiten, verfehlt sich gegen die kirchliche Lehre vom Lehramt und vom Gewissen. Ach, meine lieben Freunde, möchten wir doch gewissenhafte Menschen werden. Möchten wir doch unser Gewissen recht bilden, möchten wir doch verstehen, dass es die Empfangsstelle für Gottes Willen ist. „Umsonst suchst du des Guten Quelle weit außer dir in wilder Lust. In dir trägst Himmel oder Hölle und deinen Richter in der Brust.“

Amen.

Schrift
Seitenanzeige für große Bildschirme
Anzeige: Vereinfacht / Klein
Schrift: Kleiner / Größer
Druckversion dieser Predigt