Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
5. September 1993

Die göttliche Vorsehung

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Wer sich auf den Frankfurter Flughafen begibt, der findet dort eine Fülle von Gebäuden, Einrichtungen, Menschen. Tausende und Abertausende kommen jeden Tag an und fliegen jeden Tag ab. Viele tausende Bedienstete sind dafür besorgt, daß der Flugverkehr reibungslos verläuft. Alles ist bis aufs kleinste vorbedacht, geplant, angeordnet; jeder weiß, wohin er gehört, und alle Flugbewegungen werden überwacht. Die Menschen, die im Flugzeug Platz nehmen, ahnen gar nicht, welche Fülle von Vorkehrungen notwendig sind, damit der Flugverkehr reibungslos vor sich geht.

Warum verweise ich auf diese Leistung menschlicher Technik und menschlicher Überlegung? Um hinzuweisen auf die Planung, die Gott getroffen hat und die wir Vorsehung nennen. Vorsehung ist der ewige Plan, den Gott mit der ganzen Menschheit, ja mit der ganzen Welt und mit jedem Einzelwesen hat und womit er sie zu seinen Zielen hinlenkt.

Es gibt eine allgemeine und eine besondere Vorsehung. Die allgemeine Vorsehung bezieht sich auf die ganze Schöpfung, die besondere Vorsehung auf das einzelne Menschenleben.

Wir unterscheiden weiter eine ordentliche und eine außerordentliche Vorsehung. Die ordentliche ist die im gewöhnlichen Lauf der Dinge, wie ihn Gott vorgesehen hat, sich verwirklichende Absicht, die außerordentliche Vorsehung ist jene, wo Gott besondere Vorkehrungen trifft, um zu seinem Ziele zu kommen.

Es gibt weiter eine mittelbare und eine unmittelbare Vorsehung. Die mittelbare Vorsehung geschieht durch Zweitursachen, die Gott einsetzt, um seinen Plan durchzuführen. Die unmittelbare Vorsehung ist sein Eingreifen ohne Zwischenursachen, zum Beispiel durch ein Wunder. Angesichts der Vorsehung Gottes stellen sich zwei Fragen,

1. Warum braucht die Schöpfung eine Vorsehung?

2. Wie waltet Gottes Vorsehung über der Schöpfung?

Die erste Frage lautet: Warum braucht die Schöpfung eine Vorsehung? Der Grund ist darin gelegen, daß die Schöpfung sofort ins Nichts zurückfallen würde, wenn sie Gott nicht im Dasein erhielte. Dieselbe Kraft, welche die Schöpfung aus dem Nichts hervorgerufen hat, muß wirken, um sie in der Existenz zu bewahren. Denn die ganze Schöpfung ist unterwegs. Sie ist gleichsam auf der Reise. Die Welten, die wir am Firmament sehen oder von denen uns Strahlen Kunde bringen, laufen, ja rennen und rasen. Es ist ein fortwährendes Entstehen und Vergehen, ein Verändern und ein Wechseln. Man hat ausgerechnet, daß unsere Sonne, die uns das Leben auf Erden erhält, in 4 Milliarden Jahren aufhören wird zu strahlen. Auch sie ist also unterwegs, die Sonne, zu einem Ziel, das Gott ihr gesetzt hat. Die Menschheit ist unterwegs, auf der Reise. Sie soll das Ziel erreichen, das Gott ihr gestellt hat.

Wir nennen diese unaufhörliche Bewegung auch Entwicklung, und das ist kein falsches Wort. Es gibt eine Entwicklung. Der Mensch soll sich entwickeln. Er soll sich zu den Zielen bewegen, die Gott ihm gestellt hat. Er soll die Erde gebrauchen, aber nicht mißbrauchen; er soll seine Kräfte und seine Talente verwenden, aber nicht verschwenden. Auch die Völker haben eine Aufgabe von Gott bekommen. Sie sind unterwegs zu dem Ziel, das Gott ihnen gesetzt hat. Jedes Volk hat seine eigene Begabung und seine eigene Berufung, und diese Begabung und diese Berufung soll es auswirken, ohne die Kräfte, die Gott ihm geschenkt hat, zu vergeuden. Und auch jeder Einzelmensch ist unterwegs zu dem Ziele, das Gott ihm gestellt hat. Er soll das Ziel erkennen und ihm nachstreben mit allen Kräften seines Geistes und seines Körpers.

Weil also die ganze Welt unterwegs ist, deswegen braucht es eine Vorsehung. Ohne Planung und ohne Lenkung würden die Wesen zusammenstoßen und sich gegenseitig zerstören. Und es gibt diese Vorsehung. „Vater, deine Vorsehung hält das Steuer,“ so heißt es im Buch der Weisheit. Mit „Vater“ ist der himmlische Vater gemeint und mit dem Steuer die Regierung des Weltenlkaufs. Es muß so sein, denn es wäre grausam, wenn Gott die Welt zwar erschaffen, aber sie dann ihrem eigenen Schicksal überlassen hätte. Nicht zu erschaffen wäre kein Unrecht, doch erschaffen und sich dann nicht mehr um den Menschen kümmern, das wäre grausam. Aber Gott ist nicht grausam. Kein solider Meister verläßt sein Werk, und auch der himmlische Meister gibt sein Werk nicht auf.

Es gibt eine Vorsehung. Gott und die Vorsehung gehören notwendig zusammen. Man kann Gott nicht denken, ohne die Vorsehung gleichzeitig mitzudenken. Wer die Vorsehung bestreitet, der leugnet Gott, und wer an Gott glaubt, der kann nicht die Vorsehung verwerfen. Es gibt eine weise, eine mächtige Lenkung der Welt, die wir die Vorsehung Gottes nennen.

Wenn wir diesen Vorsehungsglauben haben, meine lieben Freunde, dann kann sich unser Leben heilsam verändern; dann empfangen wir davon nämlich Kraft, Trost, Ruhe, Gelassenheit. Wer an die Vorsehung glaubt, der wird nicht murren und nicht Gott anklagen, sondern der wird auch in Trübsal und Bedrängnis die feste Überzeugung bewahren, daß Gott sein Leben, sein armes Leben dem Ziele zulenkt, das er ihm bestimmt hat.

Im Jahre 1837, meine lieben Freunde, wurde der Erzbischof von Köln, von Droste-Vischering, gefangen genommen und auf die Festung Minden gebracht. Warum? Weil er unbeugsam an dem kirchlichen Standpunkt in der Mischehenfrage festgehalten hat. Als er aus seinem Hause herausgeführt und zu dem Wagen gebracht wurde, wo der Oberpräsident auf ihn wartete, da sagte er: „Alle Haare unseres Hauptes sind gezählt!“ Das ist Vorsehungsglaube, den dieser große Kirchenfürst bewiesen hat. Warum also braucht es eine Vorsehung? Nun, damit alle Geschöpfe ihren Weg finden zum Ziele, das Gott ihnen gesetzt hat.

Wie wirkt Gottes Vorsehung? Das ist die zweite Frage. Wir können bis zu einem gewissen Grade den Schleier, der über das Lenken Gottes gebreitet ist, lüften. Wenn man sich die Mühe gibt, meine lieben Freunde, dann vermag man im eigenen Leben, im Leben des Bruders, im Leben des Volkes und im Leben der Menschheit gar nicht selten Gottes Wirken zu erkennen. Man muß sich Mühe geben! Ohne guten Willen geht es nicht. Das ist keine Frage. Aber wer guten Willen hat, der vermag auch unter Ereignissen, die wir Schicksalsschläge nennen, das Wirken Gottes, den Finger Gottes zu erkennen. Wie wirkt also Gottes Vorsehung?

Nun, erstens: Sie wirkt geheimnisvoll und verborgen, aber doch unfehlbar sicher. Geheimnisvoll und verborgen; ja, das ist sie wirklich. „Du bist ein verborgener Gott, Gott Israels.“ Und man muß sich schon Mühe geben, um in etwa das Rätsel der göttlichen Fügungen und Führungen zu begreifen oder wenigstens zu erahnen. „Ihn, den Künstler wird man nicht gewahr, bescheiden verhüllt er sich in ewige Gesetze.“ So heißt es bei Schiller in „Don Carlos“. Wahrhaftig: Ihn, den Künstler, wird man nicht gewahr, bescheiden verhüllt er sich in ewige Gesetze! Aber die Gesetze, auch die Naturgesetze, sind eben ein Ausdruck von Gottes Vorsehung, und man kann immer wieder nur Gottes Macht anbeten und bewundern, wenn man die Naturgesetze kennt und sich in sie einzudringen bemüht. Sie ermöglichen uns das Leben, die Technik und den Fortschritt. Ihn, den Künstler, wird man nicht gewahr, bescheiden verhüllt er sich in ewige Gesetze. Wir schauen jetzt wie in ein Rätsel. Wir sehen nur ein undeutliches Bild. Aber einmal kommt die Zeit, wo wir das Rätsel gelöst bekommen. Gottes Vorsehung wirkt also geheimnisvoll und verborgen, aber doch unfehlbar sicher. Auch wenn uns die Wege Gottes rätselhaft und undurchdringlich vorkommen, so erreicht doch Gott das, was er erreichen will. Menschliche Schwachheit vermag die Pläne Gottes nicht zu durchkreuzen und umzustoßen. Ein göttlicher Baumeister kann auch mit fallenden Steinen bauen. Er kommt zu dem Ziele, das er sich gesetzt hat, wenn auch auf Wegen, die uns hienieden unerklärlich, ja geheimnisvoll und verwirrend anmuten.

Zweitens: Wie wirkt die Vorsehung Gottes? Nun, sie wirkt allumfassend und doch auf jedes einzelne übergreifend. Gottes Vorsehung richtet sich auf alles, was geschaffen ist. Sie erstreckt sich auf den einzelnen wie auf eine Stadt, auf eine Stadt wie auf ein Volk, auf ein Volk wie auf die ganze Menschheit. Gott kümmert sich so um das Ganze, als ob er kein Auge hätte für das Einzelne, aber er kümmert sich auch um das Einzelne, als ob er keinen Blick hätte für das Ganze. Allumfassend ist sein Blick, allumfassend ist sein Wirken. Nichts entgeht seinem Auge und seiner Macht.

Dinge, Ereignisse, Geschöpfe, die uns manchmal sinnlos scheinen, haben in Gottes Vorsehung ihren Plan. In der letzten Zeit ist wieder mehr die Rede von Potsdam. Potsdam ist eine Stadt bei Berlin, in der König Friedrich II. von Preußen sich sein Lustschloß Sanssouci gebaut hatte. In dem Park dieses Schlosses gediehen auch Trauben. Aber die Weintrauben wurden zu einem Teil die Speise der Sperlinge. Da gab der König Friedrich II. den Befehl, alle Sperlinge abzuschießen, und für jeden Kopf setzte er eine Prämie aus. In kurzer Zeit waren die Sperlinge vernichtet. Im nächsten Jahr gab es überhaupt keine Trauben, weil nämlich die Raupen überhand genommen hatten, so daß die ganze Ernte dadurch vernichtet war. Jetzt hob der König seinen Befehl wieder auf. Es gab wieder Sperlinge und auch wieder Trauben. Wir sehen an diesem kleinen Beispiel, wie Gottes Weisheit die Erde lenkt, wie seine Vorsehung auch das Kleine und Kleinste umgreift und wie wir deswegen auf sie bauen können und bauen müssen.

Ich weiß, meine lieben Freunde, daß viele Menschen ein schweres, ein schier untragbar scheinendes Los zu bewältigen haben. Ich bin nicht in der Lage, einem jeden zu sagen, warum nun gerade dieses Schicksal ihm beschieden ist, warum gerade diese Not über ihn kommen mußte. Es bleibt hier häufig ein Rest, der unlösbar ist. Die Menschheitskatastrophen und die furchtbaren Wechselfälle in der Natur geben uns Rätsel auf, die manchen dazu veranlassen, an der Vorsehung Gottes irre zu werden. Ich habe einmal einen Arzt getroffen, der mir sagte: „Ich habe in Rußland den Glauben verloren.“ Aber ich habe auch einmal einen Hauptmann gefunden, der aus der Eiswüste Rußlandes schrieb: „Wer hier draußen den Glauben nicht gefunden hat, dem ist überhaupt nicht zu helfen.“ Je nach der Einstellung, je nach dem guten Willen, je nach dem Urvertrauen wird der Mensch an der Vorsehung Gottes festhalten oder irre werden. Es gibt Menschen, die noch viel Schwereres erduldet haben als andere, die wegen ihres Leids an Gottes Vorsehung irre geworden sind, und den Glauben an die Vorsehung Gottes bewahrt haben. Sie haben gewußt: Einmal wird Gott die Rätsel lösen, einmal wird er die verwirrten Fäden entwirren, einmal wird er uns zeigen, daß nicht ein augenloses Schicksal über dem Einzelleben und über der Menschheit gewaltet hat, sondern die Vorsehung unseres Gottes. „Deine Vorsehung, Vater, lenkt das Steuer.“

Und so wollen wir in dieser Stunde, meine lieben Freunde, unser Vertrauen zu Gott erneuern, unser Vertrauen in seine Vorsehung. Der schwäbische Dichter Mörike hat das so schön in die Worte gefaßt: „Du Vater, du rate, lenke du und wende! Herr, dir in die Hände sei Anfang und Ende, sei alles gelegt.“

Amen.

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