Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
23. April 1995

Die äußere, sichtbare Gemeinschaft der Kirche

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Es gibt viele religiöse Gemeinschaften, die sich als Kirchen bezeichnen, sogar als christliche Kirchen. Wegen dieser Vielfalt kann es manchen Menschen schwerfallen, zu erkennen, welches die wahre Kirche, welches die von Christus gestiftete Kirche ist. Weil der Herr diese Entwicklung vorausgesehen hat, hat er seine Gründung mit bestimmten Wesenseigentümlichkeiten ausgestattet. Die Kirche, die er gewünscht und gestiftet hat, soll durch Eigenschaften von anderen unterschieden werden, die nur ihr zukommen. Durch diese Eigenschaften sollte man sie unterscheiden können von Splittern und Spaltungen, sollte man sie erkennen als die einzige Gemeinschaft und die wahre Anstalt, in der das Heil zu finden ist.

Die Eigenschaft, mit der wir uns heute beschäftigen wollen, ist die Sichtbarkeit der Kirche. Christus hat seine Kirche als eine äußere, sichtbare Gemeinschaft gestiftet. Mit der Sichtbarkeit ist nicht die materielle, sondern die formelle gemeint. Materielle Sichtbarkeit bedeutet, man kann die Menschen, die sich zu einer bestimmten Gemeinschaft bekennen, erkennen, weil sie sich dieser Gemeinschaft zugehörig fühlen und dies nach außen kundtun. Diese Sichtbarkeit ist nicht gemeint. Das ist selbstverständlich, daß man einen Kegelclub von einem Fußballverein und daß man die Neuapostoliker von den Zeugen Jehovas unterscheiden kann. Nein, was gemeint ist, ist die formelle Sichtbarkeit. Das heißt, es sind bestimmte Merkmale gegeben, welche die Glieder der wahren Kirche Christi zu einer religiösen, äußerlich sichtbaren Gemeinschaft vereinen.

Die verschiedenen protestantischen Gemeinschaften halten überwiegend auch in irgendeiner Weise an der Sichtbarkeit der Kirche fest. Aber diese Weise ist ungenügend, unvollständig und falsch. An erster Stelle erwähne ich die Anhänger Calvins, die Calvinisten, die sogenannten Reformierten. Sie lehren eine unsichtbare Kirche. Die wahre Kirche ist unsichtbar, denn zu dieser Kirche gehören nur die Prädestinierten, d.h. jene Menschen, die mit Sicherheit das Heil erlangen. Allein jene, die Gott von Ewigkeit her dazu bestimmt hat, in den Himmel zu kommen, bilden die Kirche, und diese kann man natürlich äußerlich nicht erkennen. Man weiß es nicht. Es wird sich erst zeigen nach dem Tode oder nach dem Weltgerichte, wer zu dieser Gemeinschaft gehört. Lediglich der Erfolg im Leben vermag eine gewisse Überzeugung zu begründen, daß man zu der Gemeinde der Auserwählten gehört.

Die Anhänger Luthers lehren in gewisser Hinsicht eine sichtbare Kirche. Sie sagen, die Kirche ist sichtbar dort, wo das Wort recht verkündet und die Sakramente recht verwaltet werden. Wer die evangelische Lehre recht verkündet und wo die evangelischen Sakramente recht verwaltet werden, dort ist die Kirche.

Uns katholischen Christen wird sofort auffallen, daß hier etwas fehlt. Denn hier fehlt ja das Lehramt; hier fehlt ja das Hirtenamt; hier fehlt ja das Priesteramt. Dem protestantischen Kirchenbegriff, dem lutherischen Kirchenbegriff fehlt das Hirtenamt, das von Christus eingesetzte Hirtenamt. Selbstverständlich haben auch die Protestanten Ämter, aber diese Ämter sind menschliche Erfindungen und lassen sich nicht zurückführen auf den Stifterwillen Christi. Deswegen ist das Amt in der lutherischen Gemeinschaft nicht als ein von Christus eingesetztes erkennbar.

Der Hintergrund der protestantischen Kirchenauffassung ist der sogenannte Fiduzialglaube. Was ist damit gemeint? Der Fiduzialglaube ist das Vertrauen, daß Gott mir um Jesu Christi willen gnädig ist und sein wird. Fiduzialglaube ist der Vertrauensglaube, daß wir durch die Verdienste Christi, um Christi willen, gerettet werden. Aber wenn es so ist, daß eben der Glaube, der Glaube allein, der Fiduzialglaube, den Menschen rettet, dann braucht es eigentlich keine äußere Heilsveranstaltung mehr, dann ist eine sichtbare Kirche, dann sind die Sakramente überflüssig. Der einzelne wird unmittelbar, ohne jede Vermittlung durch eine Heilsanstalt, gerettet. Der Fiduzialglaube macht, wenn er konsequent durchgedacht wird, das ganze Kirchenwesen überflüssig.

Im Unterschied zu diesen irrigen Auffassungen lehrt die katholische Kirche: Die Kirche ist eine äußere, sichtbare Gemeinschaft und Anstalt. Das Konzil von Trient hat zwei Punkte der Sichtbarkeit hervorgehoben, nämlich ein sichtbares Opfer und ein sichtbares Priestertum. Beides ist nur in der katholischen Kirche verwirklicht. Der Protestantismus hat weder ein sichtbares Opfer, sondern nur eine Abendmahlsfeier, noch hat er ein sichtbares Priestertum, sondern nur Diener des Wortes, die kraft menschlicher Ermächtigung, um der guten Ordnung willen, dafür bestellt werden, das Evangelium zu verkünden. Das I. Vatikanische Konzil von 1870 hat noch ein weiteres Element der Sichtbarkeit genannt, nämlich das sichtbare Fundament, das Christus geschaffen hat, indem er den Petrus zum Ersten seiner Apostel, zum Prinzip der Einheit der Kirche gemacht hat. Das II. Vatikanische Konzil hat diese Linie ausgezogen und an mehreren Stellen betont, daß die Kirche, die wahre Kirche, die einzige Kirche, gleichzeitig ein pneumatischer, also ein vom Heiligen Geist bewegter Menschenverband und ein hierarchisch strukturiertes Gebilde ist. Es gibt keinen Gegensatz zwischen einer unsichtbaren Kirche und einer sichtbaren Kirche, sondern die sichtbare Kirche Christi ist nichts anderes als die katholische Kirche, und diese Kirche ist gleichzeitig mit der unsichtbaren, mit der heilshaften Gemeinschaft identisch. Das ist geradezu das Wesen des Katholizismus: Unsichtbare Kirche und sichtbare Kirche sind identisch. Man kann sie nicht auseinanderdividieren, man darf sie nicht trennen. Sie sind verbunden, so wie Christus verbunden war als Gott und als Mensch.

Das ist nämlich der tiefste Grund, warum sichtbare und unsichtbare Kirche eins sind: weil die Kirche das Leben und das Wirken Christi fortsetzt. Die Kirche ist der fortlebende Christus. Sie ist der Leib Christi. Und wie war Christus in seiner Wirklichkeit? Er war ein Mensch, geboren aus der Frau, stammte aus Nazareth, war als Mensch erkennbar, hat als Mensch gearbeitet und ist als Mensch gewandelt auf den Fluren von Galiläa und Judäa, hat gepredigt und geheilt. Aber er war auch gleichzeitig Gottes Sohn. Er war der leibhaftige Gottessohn, und diejenigen, die die rechte Sehkraft hatten, konnten ihn als den Gottessohn erkennen. In Christus war eine doppelte Wirklichkeit, nämlich die menschliche und die göttliche. Die von ihm gestiftete Kirche nimmt an dieser göttlichen Wirklichkeit teil. Die wahre Kirche Christi ist gleichzeitig göttlich und menschlich. Zu deutlich erfahren wir manchmal, und zumal heute, wie menschlich die Kirche ist. Aber sie ist gleichzeitig ein göttliches Geheimnis. Sie nimmt teil am ganzen Wesen Christi, sie teilt die Totalität der Existenz Christi. Sie ist die Kirche des menschgewordenen und des leidenden, sie ist aber auch die Kirche des auferstandenen und verherrlichten Christus. Menschwerdung, Leiden und Auferstehung Christi sind in gleicher Weise Grundlage für die Stiftung und für das Wesen der wahren Kirche Christi.

Selbstverständlich trägt die Kirche auf Erden stärker die Züge des Menschgewordenen und Leidenden als die Züge des Auferstandenen und Verherrlichten. Auch diese fehlen nicht. Sie blitzen auf in der Wirksamkeit der Sakramente, in der Kraft des richtig gepredigten Wortes Gottes, im Leben der Heiligen, in dem Bemühen der Christen um Heiligkeit. Da leuchtet die Kirche als die Kirche des Auferstandenen gleichsam auf. Aber stärker noch sind während der irdischen Pilgerschaft die Züge des inkarnierten, fleischgewordenen, mit Mühsal beladenen und am Kreuze verblichenen Heilandes. Die Doppelnatur Jesu war so, daß diejenigen, die eine neue Wahrnehmungskraft hatten, sie erkennen konnten. Wer sich im Glauben an ihn anschloß, dem gab er die Macht, Kind Gottes zu werden. Wer sich im Glauben Christus zuneigte, der verstand sein Wesen. „Wir glauben, daß du der Messias Gottes bist.“ So hat Petrus bekannt. Aber diejenigen, die nicht glaubten, nahmen an ihm Ärgernis. Sie verstanden sein Wesen nicht, sie verlachten seinen Anspruch, sie empfanden seine Machttaten als sonderbar, aufreizend, ja als dämonisch. „Selig“, sagt der Heiland, „selig, wer an mir nicht Ärgernis nimmt.“ Wer nur mit irdischen Augen, wer nur in kreatürlicher Verfassung auf Jesus hinschaute, der konnte sein göttliches Wesen verkennen.

Ähnlich ist es mit der Kirche. Wer auf die Kirche nur mit den Augen des Geschöpfes und nicht mit den Augen des Gotteskindes schaut, der kann an ihr irrewerden, der kann sie als anmaßend, als arrogant empfinden, der nimmt Ärgernis an ihrem Anspruch, eine göttliche Stiftung zu sein, einen Auftrag zu haben, der über jeden anderen Auftrag hinausgeht, eine Sendung zu betreiben, die von Gott selbst unmittelbar stammt. Man muß die rechte Sehkraft haben, man muß die Augen des Glaubens haben, um zu erkennen, was dieses Gebilde, dieses schwache, dieses gefährdete Gebilde, die Kirche Jesu Christi, ist. Aber es gibt eben unverkennbare Zeichen, um sie zu erkennen. Diese Kirche ist eben unverwechselbar. Sie ist die Trägerin eines Hirtenamtes. Dieses Hirtenamt führt und leitet die Gläubigen hin zum Ziele, das Gott der Kirche gesetzt hat. Diese Kirche ist Trägerin eines Priesteramtes. Es gibt in ihr Personen, ausgerüstet mit einem sakramentalen Charakter, vom Heiligen Geist geprägte Personen, welche die Geheimnisse Gottes verwalten. Es gibt in ihr ein Lehramt. Dieses Lehramt trägt die Botschaft Gottes weiter, leider mannigfach entstellt durch Menschen, durch Menschenweisheit, durch Menschenirrtum. Doch auch heute ist die Wahrheit Gottes in der Kirche zu erkennen, wenn auch nicht mehr überall, aber doch dort, wo der Gutwillige sie sucht und wo er sie finden will.

Die Kirche Christi ist unterschieden von jeder anderen religiösen Gemeinschaft. Der Apostel Paulus hat die Kirche abgegrenzt von den Heiden und von den Juden. Was unterscheidet die Glieder der Kirche, was unterscheidet die gesamte Kirche von den Heiden? Die Heiden beten Götzen an, die Christen verehren den wahren, lebendigen Gott. Die Heiden sind Menschen, die keine Hoffnung haben auf ewiges Leben. Die Christen sind Menschen, die Hoffnung haben, die wissen, daß sie einem Zustand entgegengehen, in dem die ewige Freude ihr Anteil sein wird.

Die Christen dürfen keine Gemeinschaft halten mit den Heiden. Im 2. Korintherbrief schreibt er: „Ziehet nicht an einem Joch mit den Ungläubigen! Denn welche Gemeinschaft hat die Gerechtigkeit mit der Ungerechtigkeit? Oder wie kann sich Licht zu Finsternis gesellen? Wie stimmt Christus mit Belial zusammen, oder was hat der Gläubige mit dem Ungläubigen zu tun? Wie verträgt sich der Tempel Gottes mit Götzen? Denn wir sind der Tempel des lebendigen Gottes, wie Gott bezeugt: 'Ich will unter ihnen wohnen und wandeln, und ich werde ihr Gott sein, und sie werden mein Volk sein.'“

Ebenso grenzt der Apostel Paulus die Christen ab von den Juden. Der Messias ist gekommen. Die Juden brauchen ihn nicht mehr zu erwarten, aber sie meinen, er sei noch nicht gekommen, das ist ihr Irrtum. Der Messias ist gekommen in Jesus von Nazareth. Er ist der neue und endgültige Heilsmittler. Das alttestamentliche Gesetz ist abgetan in seinen Zeremonialvorschriften. Es braucht keine blutigen Opfer mehr, es braucht keine Speisegesetze mehr. Das Heil wird jetzt gewonnen durch den Glauben an Jesus Christus. Es ist ein neues Gottesvolk entstanden. Das alte Gottesvolk ist erledigt. Der Tempel selbst hat die Botschaft empfangen, daß ein neues Gottesvolk geboren ist, als sein Vorhang zerriß beim Tode Jesu. Das ist das Zeichen dafür, daß das alte Gottesvolk abgetan und ein neues an seine Stelle getreten ist.

Man kann also die wahre Kirche Christi, weil sie sichtbar ist, von anderen Religionsgemeinschaften, auch von falschen christlichen Religionsgemeinschaften, unterscheiden. Und Gott will, daß alle sich in seiner einen, wahren Kirche versammeln. Er will nicht, daß man irgendwie christlich ist, sondern er will, daß man christlich ist in dem Sinne, wie er es den Seinigen aufgetragen hat und wie es die Kirche Christi durch alle Schwächen und Verhüllungen hindurch immer gelehrt hat. Sie soll die Braut Christi, die Stadt auf dem Berge, der Leib Christi, das Volk Gottes sein, das die Wundertaten dessen verkündet, der es aus der Dunkelheit in sein wunderbares Licht gerufen hat.

Deswegen konnte man die Kirche, als sie am Pfingstfest, am ersten Pfingstfest, vor die Bevölkerung von Jerusalem trat, als sichtbare Gemeinschaft erkennen. Denn die Christen lebten von der Verkündigung der Apostel. Sie lebten vom Brotbrechen, d.h. von dem eucharistischen Opfer. Sie waren ein Herz und eine Seele, und sie hatten an der Spitze ein Zwölfmänner-Kollegium mit einem Oberhaupt, dem Petrus. Und das war die wahre Kirche Christi, wie sie ins Leben getreten ist und wie sie auch heute erkennbar ist.

Wir haben die Aufgabe, meine lieben Christen, dieser sichtbaren Kirche zu dienen. Wir dienen ihr, indem wir alle Elemente ihrer Sichtbarkeit nach unseren Kräften entfalten. Um ein Beispiel nur zu erwähnen: Die Kirche hat sieben Sakramente, nicht zwei wie der Protestantismus. Sie hat sieben Sakramente, und es ist an uns, diese sieben Sakramente in jeder Weise zu fördern und, soweit es uns möglich ist, zu empfangen. Es dient nicht der Sichtbarkeit der Kirche, wenn der Beichtstuhl verlassen ist! Es dient nicht der Sichtbarkeit der Kirche, wenn es kaum noch Priesterweihen gibt! Es dient nicht der Sichtbarkeit der Kirche, wenn das Sakrament der Letzten Ölung, der Krankensalbung, selten oder schon im Zustand der Bewußtlosigkeit empfangen wird. Es ist an uns, diesen Sakramenten zur Lebendigkeit und zum häufigen Gebrauch zu verhelfen. Wir sind zu unserem Teil verantwortlich, daß die Kirche als die Stadt auf dem Berge, als das heilige Volk Gottes, als der Leib Christi sichtbar wird, zu dem alle Menschen guten Willens stoßen sollen, um in ihr das Heil zu finden. Die Kirche ist eine Heilsanstalt, weil sie das Heil vermittelt. Sie ist aber auch eine Heilsgemeinschaft, weil in ihr das Heil gefunden wird. Beides hängt unteilbar zusammen. Sie ist nicht nur ein Ereignis, sie ist auch eine Institution, und beides gehört untrennbar zusammen: die unsichtbare Seite der Gnade und der Wahrheit und die sichtbare Seite der Struktur, der Sakramente und des Wortes. Christus hat seine Kirche als eine Wirklichkeit gegründet, die mit den Augen des Glaubens bis zum Ende der Zeiten sichtbar ist und bleiben wird.

Amen.

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