Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
13. Juli 2008

Christi Tränen über sein Volk

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Es gehört zu den erschütterndsten Zeugnissen der Offenbarung: Gott weint über den Menschen. Enthüllt uns das nicht klarer als viele Worte das Wesen Gottes, das Herz Gottes, seine Gesinnungen gegenüber den Menschen? Und zeigt es uns nicht auch auf der anderen Seite, was der Mensch ist, welches dunkle Geheimnis er birgt und in welche Tiefen er hinabsteigen kann? Was ist Gott – und was ist der Mensch! Die letzten und tiefsten Fragen überfallen uns angesichts des weinenden Christus. Wer ist Gott, dass er über die Menschen weint? Was die ganze Geschichte des Volkes Israel offenbar gemacht hat, das wird hier auf dem Höhepunkt von Gottes Offenbarung in erschütternder Weise kund. Gott geht den Menschen nach auf ihren Wegen. Er sucht sie mit der ganzen Liebe seines Herzens heim.

Die Propheten haben in ergreifender Weise, durch Gott erleuchtet, mit dem Heiligen Geist begabt, diese Wege Gottes uns geschildert. „Ich, der Herr, rief dich in Güte“, heißt es beim Propheten Isaias. „Ich fasste dich bei der Hand und behütete dich.“ „So spricht der Herr: Ich will meinen Schafen nachgehen und sie heimsuchen. Wie ein Hirt seine Herde heimsucht und in ihre Mitte kommt, so will ich suchen, was verloren war, zurückführen, was verscheucht war. Was verletzt ist, will ich verbinden, und was schwach ist, will ich stärken“, so spricht Gott durch den Propheten Ezechiel. Und an einer anderen Stelle desselben Propheten heißt es: „Ich schließe einen Bund, den Bund des Friedens mit ihnen. Ein ewiger Bund soll es sein. Ich will sie segnen und sie mehren und meine Wohnung unter ihnen nehmen.“

Jesus kennt seinen Vater wie niemand sonst, und er selbst ist, von solcher Liebe gedrängt, als der Gute Hirt zu seinem Volk gekommen, um diese Verheißungen wahrzumachen. Er hat in seinen Reden unermüdlich die Botschaft vom Vater im Himmel und seiner erbarmenden Liebe verkündet, und er hat durch seine Machttaten und Wunder gezeigt, dass Gott alles daransetzt, um die Menschen zu gewinnen. Sie sollten spüren, dass das Reich Gottes in ihm auf die Erde gekommen ist. Er hat sich die Füße wundgelaufen und Hunger und Durst ertragen, um die Verlorenen zu suchen. Er selbst sagt es: „Jerusalem, Jerusalem, wie oft wollte ich deine Kinder sammeln, wie eine Henne ihre Küchlein sammelt!“ Dies ist ein ganz gewichtiges Wort: „Wie oft wollte ich deine Kinder sammeln.“ Dieses Wort zeigt uns, dass Jesus wiederholt in Jerusalem gewirkt hat und dass es also nicht richtig ist, zu behaupten, Jesus habe nur ein Jahr lang das Wort Gottes verkündet und sein Volk heimgesucht. Er muss mehrere Jahre gewirkt haben, und wir nehmen mit Recht an: es waren drei Jahre. „Wie oft habe ich deine Kinder sammeln wollen, wie eine Henne ihre Küchlein sammelt.“ Rastlos und unermüdlich hat er sich um sein Volk und namentlich um die Bewohner von Jerusalem bemüht. Und wenn er es jetzt sagt, wo er zum letzten Mal nach Jerusalem einzieht, dann ist das ein Zeichen, ein Ausdruck, ein wehmütiger Ausdruck einer verschmähten Liebe. Man könnte auch das Wort vom Karfreitag zitieren: „Mein Volk, mein Volk, was tat ich dir? Was hätte ich noch tun sollen? Was hätte ich dir noch mehr tun sollen und tat es nicht?“ Jetzt bietet der Herr noch einmal eine letzte Gelegenheit, jetzt am Palmsonntag, wo er in Jerusalem einzieht. Jetzt soll die Menge noch einmal zum Glauben geführt werden, und er lässt es jetzt geschehen, dass sie ihm huldigen. Früher hat er es abgewiesen, als sie ihn zum König machen wollten, weil er kein politischer Messias sein wollte, sondern ein religiöser. Aber jetzt, jetzt dürfen sie ihn als Messiaskönig ausrufen, jetzt dürfen sie ihm die Tore ihrer Stadt und ihrer Herzen öffnen. Der liebreiche Gott kommt jetzt einmal, noch einmal, zum letzten Mal durch seinen Sohn zu seinem geliebten Volke und bietet ihm Leben und Heil an.

Hätte das Volk nicht spätestens aufhorchen müssen und sich bekehren sollen, als es den Herrn auf den Halden von Jerusalem sitzen sah und weinen über sein Volk? „Seht, wie lieb er ihn hatte“, haben die Menschen gesagt, als er den Lazarus aus dem Grabe rief. Jetzt müßten sie sagen: „Seht, wie lieb er uns hatte, als er seine Tränen für uns vergoß!“ Das ist unser Gott. Das ist unser Gott, ein Gott, dessen tiefstes Wesen Liebe ist, der in sich die Fülle des Lebens trägt und sie dem Menschen vermachen will. Aus solcher Liebe hat er die Welt ins Leben gerufen. Manche fragen: Ja warum existiert denn überhaupt etwas? Warum ist nicht nichts? Die Antwort lautet: Weil Gott ein Gott der Liebe ist und eine Welt und Geschöpfe schaffen wollte, denen er Anteil geben wollte an seiner Liebe. das ist der Grund der Schöpfung. Und nicht genug: Als die Menschen sich verirrt hatten, als sie in die Irre geraten waren, da ist er ihnen nachgegangen, da hat er sie zurückzuführen versucht. Wir müssen an die Liebe dieses Gottes glauben.

Wir kennen die Einwände, meine lieben Freunde, wir wissen, wie Sorge und Not, Leid und Kreuz an vielen von uns zehren, manchmal, so scheint es, fast über die menschliche Kraft gehend. Aber wir dürfen nicht an der Liebe Gottes irre werden; wir dürfen es nicht! Wir müssen an diese Liebe glauben. „Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und meine Wege sind nicht eure Wege. Wie hoch der Himmel über der Erde ist, so hoch sind meine Wege über euren Wegen, und meine Gedanken über euren Gedanken.“ Gott ist die Liebe, und es muss geglaubt werden, was der Apostel Paulus im Römerbrief schreibt: „Denen, die Gott lieben, gereicht alles zum Besten.“ Wir haben es also in der Hand, das, was uns widerfährt, zum Besten gereichen zu lassen, wenn wir es in der Liebe, in der Liebe zu Gott tragen.

Seine Tränen beweisen, dass er gekommen ist, uns zu erretten, dass wir glauben sollen: Gott ist ein Gott der Erbarmung und der Liebe. Doch daneben steht das dunkle Geheimnis des Menschen. Es sind ja Tränen einer enttäuschten Liebe, die Christus weint, und das ist es, was diese Tränen so erschütternd macht. „Jerusalem, Jerusalem, wie oft wollte ich deine Kinder sammeln – aber du hast nicht gewollt!“ Das ist der Nachsatz: Aber du hast nicht gewollt. Und im heutigen Evangelium kommt es über die Lippen des Heilandes: „Wenn doch auch du erkannt hättest an diesem deinem Tage, was dir zum Frieden dient! Nun aber ist es verborgen vor deinen Augen.“ Jerusalem müsste an diesem Tage, an diesem letzten Gnadentage, an diesem Tage, da es zum letzten Mal heimgesucht wird, erkennen, was Gott von ihm fordert, und es müsste Jesus als seinen Herrn und Messias anerkennen. Dann würde es die Bedingung für die Erlangung des Heiles erfüllen. Aber das ist unmöglich, weil ihm die Erkenntnis durch ein göttliches Strafverhängnis verschlossen ist. Jerusalem hat Jesus nicht als den Messias erkennen wollen, und deswegen ist es mit Blindheit geschlagen.

In Jesus haben sich nicht nur die seligen Verheißungen der Propheten erfüllt, sondern auch die düsteren Vorhersagen. „Ich rief. Warum gab niemand mir Antwort?“ heißt es beim Propheten Isaias. „Ich halte meine Arme den ganzen Tag ausgestreckt nach einem widerspenstigen Volke, das seinen eigenen Gedanken nachgeht auf unheilvollen Wegen. Sie haben den Bund mit mir gebrochen, obwohl ich doch der Herr bin“, lässt Gott den Propheten Jeremias sprechen. „Mich haben sie verlassen, den Quell lebendigen Wassers, und sich lächerliche Brunnen gegraben, die kein Wasser halten.“ Wie war es möglich, dass das Gottesvolk, das erwählte Gottesvolk seinen Heiland, nach dem es sich ja im Grunde sehnte, verkannte und verwarf? Er hat doch alles getan, um sich zu bezeugen. Seine Wunder, seine Weissagungen, seine Heilungen, das alles war doch angetan, ihn dem Volke als den Messias erkennen zu lassen. Und er ist ja von einigen erkannt worden. „Wir haben seine Herrlichkeit gesehen“, schreibt der Apostel Johannes, „seine Herrlichkeit voll der Gnade und Wahrheit.“ Aber nicht alle wollten sie sehen. Die Liebe Gottes, die Wunder Gottes scheitern an dem tragischen Nichtwollen der Menschen. In unbegreiflicher Weise hat Gott gewollt, dass der Mensch fähig ist, sich Gott zu widersetzen. Ja, genauso ist es: Der Mensch ist fähig, sich Gott zu widersetzen. Gott hat ihn mit dem freien Willen ausgestattet, mit dem er Gott folgen, ihn anbeten und ihm dienen sollte. Aber der Mensch ist fähig, sich gegen Gott zu entscheiden. Und wenn er dies tut, dann ist er mit Blindheit geschlagen, dann kommt die Blindheit über ihn als eine dunkle Macht. Und so ist es dem auserwählten Volke ergangen. Es war berufen zu einer einzigartigen Gemeinschaft mit seinem Gotte, aber es versagte in der großen Mehrheit. Es versagte auch in der entscheidenden Stunde, da Jesus noch einmal zu ihm kam, um es aufzurütteln und zu Gott zurückzuführen.

Der Apostel Paulus hat im 1. Korintherbrief, von dem wir ja heute die Lesung gehört haben, das Schicksal des Volkes in ergreifender Weise geschildert. „Ich möchte euch, meine Brüder, nicht in Unkenntnis lassen, dass unsere Väter alle unter der Wolke waren, alle durch das Meer zogen, alle in der Wolke und im Meere eine Taufe empfingen, dass alle eine geistige Speise aßen und alle denselben geistigen Trank genossen. Und doch hatte Gott an den meisten von ihnen kein Wohlgefallen. Und so wurden sie in der Wüste niedergestreckt.“ Und jetzt kommt, was uns angeht: „Das ist uns zum Vorbild geschehen. Es soll uns nicht nach dem Bösen gelüsten, wie es jenen gelüstete. Alles, was ihnen widerfuhr, ist vorbildlich für uns geschehen, uns zur Warnung, uns, die wir die Vollendung der Zeiten erleben. Wer steht, der sehe zu, dass er nicht falle!“

Diese warnenden Beispiele aus dem Alten Testament sind uns zum Heile geschehen. So wie das ganze Volk Israel in seiner Weise von Gott begnadet wurde durch die Führung in der Wüste, durch die wunderbare Speisung, so kann auch das gläubig gewordene Volk keine absolute Heilsgewißheit gewinnen durch Gebet, Gottesdienst, Taufe und Meßopfer. Das alles genügt nicht, wenn die ernstliche Anstrengung und der tapfere Kampf gegen das Böse fehlt. Taufe und Meßopfer sind keine Heilsgarantie für Ungehorsame, die sich durch ihr Handeln den Gnadenerweisungen Gottes widersetzen. Die Rettung vor dem Untergang ist also nicht von einem religiösen, nicht von einem sakramentalen Automatismus zu erwarten. Man muss sich bewähren im Leben, in der Arbeit, im Beruf, gegenüber seiner Familie, seinen Nachbarn, seinen Kollegen. Man muss sich bewähren im sittlichen Ringen mit der eigenen Natur, in der Abwehr der Versuchungen, im Erwerb von Tugenden. Es wird niemand gekrönt, der nicht recht gekämpft hat. Und Christus zeigt uns mit Tränen bitteren Wehes das Ende des Weges, das dem Volke bevorsteht. „Es werden Tage über dich kommen, da werden deine Feinde dich mit einem Wall umgeben (Belagerung); sie werden dich ringsum einschließen (kein Auskommen aus der Stadt), und sie werden dich von allen Seiten bedrängen. (Immer neue Maschinen werden herangebracht, die Mauern zu beschießen). Sie werden dich samt deinen Kindern in deinen Mauern zu Boden schmettern und werden keinen Stein auf dem anderen lassen, weil du die Zeit deiner Heimsuchung nicht erkannt hast.“

Die Stadt des Friedenskönigs weist in Jesus Gott ab, und diese Ablehnung bedeutet, dass es Untergang und Verderben wählt. Es besteht gar kein Zweifel, dass Jesus die politische und militärische Zerstörung Jerusalems durch die Kaiser Vespasian und Titus vorausgesehen und vorausgesagt hat. Daran besteht gar kein Zweifel. Er konnte schon aus rein natürlichen, menschlichen Überlegungen zu dieser Voraussage kommen. Einmal stand ihm ja das Schicksal Jerusalems im 6. Jahrhundert v. Chr. vor Augen, wo die Stadt zerstört wurde von den Babyloniern. Und zum anderen bemerkte er ja das Wachsen der antirömischen Stimmung im Volke. Immer mehr Leute ergrimmten sich gegen die Besatzungsmacht, und das musste eines Tages zur Explosion führen. Und was das bedeutete gegenüber dem Weltstaat Rom, das musste ihm auch klar sein. Er freilich hat nicht nur aufgrund natürlicher Überlegungen diese Prophezeiung gegeben, sondern er war von Gott, vom Vater im Himmel erleuchtet. Er wusste, der Untergang Jerusalems ist die Folge seines Unglaubens. Zur Strafe dafür, dass es seine Gnadenstunde verkannt hat und Jesus nicht als Messias angenommen hat, wird es sich gegen Rom empören und dadurch sein Verderben herbeiführen.

Ich sage es mit Trauer, meine lieben Freunde: Jetzt gehen Erklärer, katholische Erklärer der Heiligen Schrift her und sagen: Diese Weissagung ist, nachdem alles geschehen war, vom Evangelisten Jesus in den Mund gelegt worden. Jesus hat also gar nicht prophezeit, sondern der Evangelist hat Jesu Leben und Jesu Reden romanhaft ausgeschmückt. Hier ist die Axt an die Wurzel der Glaubwürdigkeit der Evangelien gelegt. Es ist mir unbegreiflich, warum man versucht, an den Weissagungen Jesu zu rütteln. Es gibt doch schon außerhalb der Welt Gottes im natürlichen Bereich erstaunliche Vorhersagen der Zukunft. Am 30. Januar 1933 ernannte der Reichspräsident Hindenburg einen Mann namens Adolf Hitler zum Reichskanzler. Als das geschah, schrieb der ehemalige Generalstabschef Hindenburgs, der General Ludendorff, an seinen früheren Feldherrn: „Ich prophezeie Ihnen feierlich, dass dieser unselige Mann unser Reich in den Abgrund stoßen, unsere Nation in unfassbares Elend stoßen wird. Kommende Geschlechter werden Sie verfluchen in Ihrem Grabe, dass Sie das getan haben.“ Das war auch eine Prophezeiung, und sie ist in Erfüllung gegangen. Warum soll also Jesus nicht das schreckliche Ende Jerusalems vorausgesehen und vorausgesagt haben? Er, der das Licht vom Vater im Himmel erhält. Alles, was ihnen widerfuhr, ist uns zur Warnung geschehen. Wer steht, der sehe zu, dass er nicht falle!

Sie wissen, meine lieben Freunde, dass wir alle in Gefahr sind, in der Gefahr, uns blenden zu lassen vom Glanz dieser Welt, selbstherrlich und selbstgefällig zu werden. Der weinende Christus mahnt uns zur Wachsamkeit, damit nicht über uns einmal gesagt werden muss: Nun aber ist es verborgen vor deinen Augen. Und es ist mir heute, als säße unser Herr, unser Heiland auch an den Halden unserer Städte und weinte, weinte über die Verirrten, die den Weg des Heils verloren haben, die ihm als ihrem Hirten zu folgen verschmähen, die im Ungehorsam verstockt sind. Er weint über jene, die das Taufgelöbnis zertreten und das milde Joch seiner Gesetzes abgeschüttelt haben. Er weint über die Schmähungen, die gegen ihn und die Heiligen ausgestoßen werden. Er weint über den Schimpf, der gegen seinen Statthalter und gegen den Priestertand gerichtet ist. Er weint über die öffentliche Schuld der Völker, welche die Rechte und das Lehramt der von ihm gestifteten Kirche verwerfen.

Vernehmen wir die Botschaft des weinenden Christus! Verstehen wir, dass seine Tränen uns zur Bekehrung drängen! Erkennen wir, was er von uns will in dieser, vielleicht in dieser letzten Stunde!

Amen.

 

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