Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
7. Juli 2013

Der Selbstmord

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Als ich ein Knabe von zehn Jahren war, kam eines Tages eine Dame aus dem Hause, in dem wir wohnten, zu meiner Mutter und bat sie, eilig mit ihr zu kommen, es sei etwas Furchtbares passiert. Die Mutter begab sich in die Wohnung der Dame, und in der Küche lag der Ehemann entseelt, starr und steif. Er hatte sich mit Leuchtgas vergiftet. Selbstmorde hat es in der Geschichte immer gegeben, am seltensten allerdings im christlichen Mittelalter. Von der Kykladen-Insel Keos wird berichtet, dass dort alte Menschen, wenn sie sich der Situation des Lebens nicht mehr gewachsen fühlten oder wenn sie am Leben verzweifelt waren, freiwillig durch den Schierlingstrank, also durch Gift, aus dem Leben schieden. Von Massilia, dem heutigen Marseille, wird sogar berichtet, dass der Stadtrat eine Menge Gift bereithielt, um denen, die darum baten, davon auszuhändigen, damit sie sich den Tod geben könnten. Die größten Philosophen des Altertums haben den Freitod allerdings verurteilt: Pythagoras, Platon, Aristoteles. Aristoteles sagt, der Freitod, der Selbstmord ist ein Unrecht gegen die Polis, also gegen die Stadtgemeinde, der man zum Dienst verpflichtet ist. Die Stoiker dagegen sahen im Freitod einen Ausweg aus einer schwierigen Lebenslage. „Exitus patet“, so schrieben sie, es steht ein Ausweg bereit. Ebenso dachten die Epikuräer. Cato und Seneca sahen im Freitod das Kennzeichen einer heldenmütigen Seele. Viele protestantische Naturrechtslehrer des 17. und 18. Jahrhunderts haben ebenfalls für den Selbstmord plädiert. Seit David Hume und Jean Jacques Rousseau ist ein weiter Streifen der Schriftsteller und Philosophen für die eigene Beendigung des Lebens eingetreten. Nietzsche verstand den Selbstmord als den freien Tod, der nicht heranschleicht, sondern kommt, wie ich es will. Der Königsberger Philosoph Immanuel Kant hat dagegen Einspruch erhoben. Er war der festen Überzeugung, der Mensch habe die Pflicht, das Leben, auch wenn es noch zu schwer sei, auszuhalten, und zwar aus Würdebewusstein, aus Plicht gegen den eigenen Körper. Heute gilt das Selbstbestimmungsrecht über den Tod als eine weitverbreitete Ansicht. Eine Ärztin aus Wiesbaden schrieb neulich in einem Leserbrief, sie lasse sich das Selbstbestimmungsrecht nicht nehmen. Eine andere sagte, man solle in den Apotheken Tabletten bereithalten für solche, die lebensmüde sind. Tatsächlich ist Selbstmord außerordentlich häufig. Alle 40 Sekunden bringt sich ein Mensch um. In der Altersgruppe der 15- bis 44-Jährigen ist der Selbstmord die dritthäufigste Todesursache. Bei den Jugendlichen sogar die zweithäufigste. In der amerikanischen Armee bringen sich mehr Soldaten um, als durch den Krieg getötet werden. Im Jahre 2012 wurden 349 Selbstmorde verzeichnet gegenüber 229 im Kampfe Gefallenen. Vor wenigen Wochen ging die Nachricht durch die Zeitung, in Bürstadt, also in unserer Nähe, in Bürstadt habe sich ein Schüler von 18 Jahren nach der Abiturfeier vor den Schnellzug geworfen und sei überrollt worden. Eine besondere Form des Selbstmordes ist der Massenselbstmord. Sie wissen vielleicht alle, dass sich im Jahre 70 n. Chr. in der Festung Massada, also im Judenlande, tausend Juden selbst umgebracht haben, um sich nicht den Römern ausliefern zu müssen. Solche Massenselbstmorde kommen immer wieder vor, vor allem bei Sektenmitgliedern. Die Volkstempler haben sich 1978 in Guayana umgebracht, die Sonnentempler 1994 in Kanada und in der Schweiz, 1995 sogar in Frankeich. Sie alle wissen, dass Leute, die Selbstmord begehen wollen, in die Schweiz fahren. Warum? In der Schweiz ist der Selbstmord ohne ärztliche Hilfe vom Gesetz gestattet. Da gibt es eine Organisation, die heißt Dignitas. Dignitas bedeutet eigentlich die Würde. Dignitas. Diese Organisation überreicht den Lebensmüden ein Barbiturat, mit dem sie sich selbst töten können. Eingebunden in gesellschaftliche Gruppen kann der Selbstmord auch im Sinne eines Selbstopfers als Mittel zur Verwirklichung eines Zieles dienen. Als öffentlicher Appell, als politischer Aufruf. In Tibet, wie wir immer wieder lesen, in Tibet geben sich Mönche und Nonnen durch Selbstverbrennung den Tod, um gegen die Besetzung des Landes durch die Chinesen zu protestieren. Am 18. August 1976 verbrannte sich in Zeitz, also in einem der neuen Bundesländer, der evangelische Pfarrer Brüsewitz vor der Kirche. Er wollte Zeugnis ablegen, wie er sagte oder wie er hinterließ, für seinen Herrn und König und General Jesus Christus und zugleich Anklage erheben gegen den Kommunismus. In islamischen Ländern sind die Selbstmordattentate üblich. Man sprengt sich in die Luft, um damit andere in den Tod zu reißen.

Was sind die Ursachen, meine lieben Freunde, für dieses schreckliche Geschehen? Man nimmt von psychologischer Seite ererbte Anlagen an oder erworbene psychopathische Merkmale. Als Motive werden angegeben ein als unüberwindlich gehaltener Widerspruch zwischen Lebensanspruch und Realität. Oder auch subjektives und objektives Scheitern im Beruf, in der Ehe, als unerträglich eingeschätzter Leidensdruck. Die Absicht ist, Ruhe zu finden, auszuweichen vor einer erwarteten Katastrophe, Rache zu nehmen für eine massive Kränkung, Appell an die Umwelt, Wunsch nach einer entlastenden Ruhepause oder manchmal auch Selbstaggression. Von den Männern, die an der Verschwörung gegen Hitler beteiligt waren, haben sich manche selbst den Tod gegeben. Ich erinnere an Henning von Tresckow und Peter von Oertzen. Sie waren Protestanten. Der Oberst Stauffenberg wurde vom Generaloberst Fromm aufgefordert, sich selbst zu töten, weil der Putsch gescheitert sei. Stauffenberg lehnte es ab, sich selbst zu töten. Er war Katholik. Selbstmord ist im Strafrecht unserer Bundesrepublik straflos. Ebenso der Selbstmordversuch sowie Anstiftung und Beihilfe zum Selbstmord – alles straflos. Eine bloße Teilnahme am Selbstmord liegt vor, wenn die Tatherrschaft über den todbringenden Moment beim Selbstmörder verbleibt. Wer das Geschehen, wer den Ablauf des Geschehens in der Hand behält, der ist der Selbstmörder, Also nicht der, der das todbringende Medikament besorgt. Es kann freilich Tötung in mittelbarer Tatherrschaft strafbar sein oder als unterlassene Hinderung, aber die Gerichte sind im Allgemeinen außerordentlich großzügig, wenn es um Selbstmord und Beteiligung am Selbstmord geht.

Was sagt die Religion über den Selbstmord, meine lieben Freunde? Der Selbstmord ist die direkt gewollte Zerstörung des eigenen Lebens und als solche immer schwere Sünde. In der katholischen Lehre gibt es keine Ausnahme von diesem Gesetz. Der Protestantismus denkt anders. Er ist der Meinung, es kann Lagen und Umstände geben, die den Selbstmord als zulässig erscheinen lassen. Worauf stützt sich die Lehre unserer Kirche? Zunächst stützt sie sich auf die Vernunft. Jeder Mensch hat einen natürlichen Drang, im Leben zu bleiben, das Leben zu erhalten. Es gibt eine geordnete und berechtigte sittliche Selbstliebe. Wir dürfen uns selbst lieben, denn wir sollen unseren Nächsten lieben wie uns selbst. Der Mensch erkennt das Leben als ein wertvolles, ja als das wertvollste irdische Gut und als Grundlage des sittlichen Verdienstes und darf es deswegen nicht wegwerfen. Er hat ein Nutzungsrecht am Leben und am Leib, aber er hat kein Verfügungsrecht. Pius XII., wie immer leuchtend klar, hat im Jahre 1952 in einer Ansprache vor Psychiatern erklärt: „Der Mensch ist nicht absoluter Herr seiner selbst, seines Leibes und seines Geistes. Er ist nicht Eigentümer, sondern Nutzungsberechtigter des Leibes. Darum hat er auch kein freies Verfügungsrecht über den Leib. Es ist gebunden an die natürliche Ordnung und an die Zielbestimmung des Leibes und seiner Glieder. Diese dürfen nicht verletzt oder entfernt werden, sondern nur, wenn es zur Rettung des Lebens notwendig ist.“ Der Selbstmord widerspricht auch der Ehre und dem Recht Gottes. Gott ist der Schöpfer und das höchste Ziel des Menschen und darum auch Herr des menschlichen Lebens. Ihm gehört der Mensch als volles Eigentum. Seinem Dienste sind alle seine Kräfte und alle Augenblicke des Lebens geweiht. Aber auch übernatürlich ergibt sich die Herrschaft Gottes. Er hat uns ja erlöst, losgekauft durch sein kostbares Blut. Wir sind als Erlöste Christus übereignet. Wir gehören uns nicht mehr selbst, sondern wir gehören dem, der sich für uns geopfert hat. Freigemacht von der Knechtschaft unter den Schicksalsmächten dieser Welt und unter der Last unserer eigenen Schuld gehören wir demjenigen, der uns erlöst hat. In Christus sind wir neue Geschöpfe. Das Leben ist seine Gabe. Wir dürfen es nicht wegwerfen. Im Selbstmord liegt auch ein Frevel gegen die menschliche Gesellschaft. Man beraubt die Gesellschaft eines Gliedes, eines lebensfähigen Gliedes. Der Staatsanwalt Brunner von Zürich hat mitgeteilt, dass von denen, die nach der Schweiz kommen, um sich dort umzubringen, viele noch Jahre oder Jahrzehnte leben könnten. Selbstmord ist ein Anschlag auch gegen die menschliche Gesellschaft. Freilich kann es eine berechtigte Verfügung über das eigene Leben geben, nämlich wenn höhere Pflichten drängen wie die Ehre Gottes oder die Rettung des Volkes. In solchen Fällen haben wir das Recht oder die Pflicht, den ohne unser Zutun drohenden, nahenden Tod willig anzunehmen oder zu erleiden. Es gibt Berufe, die ihr Leben aufs Spiel setzen müssen: der Priester, der Arzt. Im Dienste der körperlichen oder geistigen Arbeit muss mancher das Leben einsetzen. In meiner Nachbarschaft wohnte ein Herr, der Feuerwerker war. Er ist bei der Entschärfung einer Fliegerbombe zerrissen worden. Als indirekte Tötung bezeichnen wir eine freie Betätigung, die nicht auf die Tötung abzielt, aber tatsächlich das eigene Leben zerstört oder aufs höchste gefährdet. Ein solches Verhalten kann erlaubt oder geboten sein, wenn es einem erlaubten Zweck dient. So muss man in den Krieg ziehen, wenn das Vaterland ruft. Im Kampf gegen Feinde muss man eben sein Leben einsetzen. Auch die Verstümmelung ist durch das Gebot „Du sollst nicht töten“ gedeckt als Verstoß gegen Gott und gegen sein Eigentumsrecht. Selbstverstümmelung und Selbstverletzung sind Verschuldungen, Verschuldungen gegen Gott. Sie wissen, dass solche gar nicht selten vorkommen. Beispielsweise Sterilisationen von Männern und Frauen, um den Geschlechtsverkehr ohne die Möglichkeit einer Empfängnis ausüben zu können. Im letzten Kriege haben sich nicht ganz wenige Soldaten durch einen Schuss in den Fuß oder in die Hand selbst verstümmelt, um nicht an die Front zu kommen oder dem Wehrdienst zu entgehen. Vor Kurzem wurde in Potsdam ein Arzt verurteilt, der sich einen Finger abgeschnitten hat, um in den Genuss der Versicherung zu gelangen.

Es lassen sich Gründe, meine lieben Freunde, für Selbsttötung anführen. Aber sie schlagen nicht durch. Als Hauptgrund gibt man meistens an, das menschliche Leben verliere nicht selten infolge von Laster, Schande, Schmerz, Kraftlosigkeit jede Schätzung und jeden Arbeitswert. Aber sittliche Schuld kann durch Buße gesühnt werden. Es gibt keine unsühnbare Schuld. Leid und Schande können durch tapferes Aushalten überwunden werden. Der englische Minister Profumo, der wegen sittlicher Verfehlungen sein Amt und seinen Ruf verlor, hat sich durch Arbeit in den Armenvierteln von London wieder hochgearbeitet. Äußere Schwäche kann durch innere Geduld und Größe fruchtbar gemacht werden. Das Leben behält immer einen sittlichen Wert. Die Last, die einer für andere Menschen sein kann, ist Anlass, dass diese edle Tugenden ausüben, dass sie ihn ertragen in seiner Hinfälligkeit. Der Gehorsam gegen Gott steht höher als jede irdische Nützlichkeit. Wer den Händen der Menschen entflieht, fällt in die Hand Gottes. Der Gläubige hat das Vertrauen, dass er in der Obhut Gottes jeden Schicksalsschlag ertragen kann.

Amen.

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