Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
21. September 1986

Die Pflicht, die Eltern zu ehren

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

„Du sollst Vater und Mutter ehren, auf daß es dir wohlergehe und du lange lebest auf Erden!“ So lautet das 4. Gebot im Dekalog. Dieses Gebot stellt uns drei Fragen, nämlich

1. Warum sollen wir Vater und Mutter ehren?

2. Wie sollen wir Vater und Mutter ehren?

3. Wie belohnt Gott den, der Vater und Mutter ehrt?

Die erste Frage lautet: Warum sollen wir Vater und Mutter ehren? Die Antwort heißt: Wir sollen Vater und Mutter ehren, weil sie Gottes Stellvertreter und unsere größten Wohltäter sind.

Die Eltern sind Gottes Stellvertreter. Indem sie uns das Leben schenken, nehmen sie an der Schöpfermacht Gottes teil, ja ihre Fähigkeit, Leben zu schenken, ist Ausdruck der Schöpfermacht Gottes. Als Stellvertreter nähren und lehren uns die Eltern, sie erziehen uns – alles im Auftrage und nach den Weisungen Gottes. Die Stellvertretung Gottes ist die Begründung ihrer Macht über die Kinder, sie ist aber auch die Grenze dieser Macht. Sie haben sich in allem als Statthalter Gottes zu verhalten. Wenn die Eltern dieser Aufgabe nachkommen, dann ist die Sorge um das Kind, um die Kinder ihre ständige Begleitschaft.

Im Drama „Rose Bernd“ von Gerhard Hauptmann heißt es zum Schluß: „Das eene“ – es ist ja in schlesischer Sprache geschrieben – „das eene habe ich gelernt, was eine Mutter ist, und was sie leiden muß.“ Ja wahrhaftig, was Eltern mit ihren Kindern durchmachen und mitmachen, das ist oft eine ungeheure Last des Leidens und der Schmerzen; in jedem Falle jahrelange Sorge, jahrelanges Mühen, jahrelange Aufopferung für die Kinder. Wir verstehen, daß die Eltern die größten Wohltäter ihrer Kinder sind.

Die zweite Frage lautet: Wie sollen wir Vater und Mutter ehren? Die Antwort heißt: Wir sollen sie ehren durch Achtung, Liebe und Gehorsam. Achtung erweisen wir den Eltern, indem wir sie im Herzen hochschätzen und diese Hochschätzung nach außen durch Wort und Tat beweisen. Äußere ohne innere Hochschätzung wäre Verstellung. Es muß zuerst im Herzen eine Hochschätzung der Eltern vorhanden sein, dann kann sie sich nach außen kundtun. Hochschätzung besagt eben eine Form der Achtung, des Aufblickens zu den Eltern. Solche Hochschätzung ist uns in der Heiligen Schrift bezeugt, etwa, wenn der ägyptische Josef seinen Vater vor aller Welt ehrte, indem er ihn Platz nehmen ließ an seiner Seite und sich zu ihm bekannte.

Es fällt nicht allen Kindern leicht, ihre Eltern hochzuschätzen, denn manche Kinder haben ihre Eltern in Situationen oder Lebensumständen erlebt, die dieser Hochschätzung nicht gerade günstig sind. Die Pflicht der Hochschätzung wird davon nicht berührt. Auch wenn die Eltern arm und ungebildet wären, auch wenn sie kein tugendhaftes Leben führten, den Eltern gebührt als Stellvertretern Gottes Hochschätzung.

Den Eltern müssen die Kinder Liebe erweisen. Liebe ist Wohlwollen und Wohltun. Wohlwollen heißt, daß die Kinder den Eltern das Gute wünschen müssen. Freilich darf es beim bloßen Wunsch nicht bleiben, die Kinder müssen den Eltern auch wohltun. Sie müssen sich ihrer annehmen, vor allem im Alter, in der Krankheit, in der Schwäche. Das Wohltun ist verlangt als Beweis des Wohlwollens. Als der spätere berühmte General Ziethen noch ein Knabe war, diente er als Page am Hofe König Friedrichs I. von Preußen. Als Page mußte er manche Nächte im Vorzimmer des Königs wachen. Eines Nachts rief ihn der König, aber der Knabe hörte nicht, er war eingeschlafen. Der König ging hinaus und sah, daß er über einem Briefe eingeschlafen war, über einem Briefe, den er an seine Mutter geschrieben hatte. Und in diesem Briefe stand geschrieben: „Mutter, ich schicke Dir die 10 Taler, die ich beim König verdient habe, weil Du arm bist.“ Da war der König gerührt und steckte dem armen Knaben zwei Rollen Dukaten in die Tasche. Das war Wohltun, Wohltun an einer armen Mutter. Als der ehemalige englische Kanzler Thomas Morus hingerichtet worden war, wollte ihn niemand beerdigen, denn keiner mochte sich zu dem als Feind des Königs verschrienen Manne bekennen. Einzig seine Tochter Margarethe ging furchtlos hin und beerdigte den Vater. Das war Wohltun an einem als angeblichem Staatsverbrecher zum Tode verurteilten und hingerichteten Vater.

Achtung, Liebe und Gehorsam. Das ist das dritte, wodurch wir die Eltern ehren. Die Kinder sind den Eltern zum Gehorsam verpflichtet in allen erlaubten Dingen, solange sie unter der Gewalt der Eltern stehen. In jeder Gemeinschaft gibt es eine Ordnung von Befehl und Gehorsam, sonst kann eine Gemeinschaft überhaupt nicht bestehen. Das gilt auch für die Familie. Auch hier muß Befehl und Gehorsam die soziale Einung bewirken. Aber die Eltern haben das Recht, zu befehlen, nur in erlaubten Dingen, also in allem, was Gottes Willen gemäß ist. Sie dürfen nichts Unerlaubtes von den Kindern verlangen. Der Westgotenkönig Leovigild verlangte von seinem Sohne Hermenegild, daß er dem katholischen Glauben abschwöre und Arianer würde. Hermenegild saß in Sevilla im Gefängnis; als ihm der Befehl des Vaters überbracht wurde, dem katholischen Glauben abzuschwören, da sagte er dem Boten: „Richte dem Vater aus, ich verzichte auf seine Liebe, ich verzichte auf den Thron, ja ich verzichte auf mein Leben eher, als daß ich dem Glauben abschwöre.“ Er wurde vom eigenen Vater hingerichtet. Und das ist nicht der einzige Fall aus unseren Heiligenleben. Dasselbe ist Perpetua, dasselbe ist Vitus wiederfahren. Die Gerechtigkeit ist die Grenze des elterlichen Befehlens.

Auch zeitlich ist die Befehlsmacht der Eltern nicht unbegrenzt. Solange die Kinder unter der Gewalt der Eltern stehen, dürfen die Eltern ihnen befehlen. Es gibt einen Punkt, wo die Kinder selbständig sind; dann dürfen selbstverständlich die Eltern noch raten, und die Kinder sind gut beraten, wenn sie sich raten lassen. Aber sobald die Kinder aus der Gewalt der Eltern ausgetreten sind, hat die Befehlsmacht der Eltern ein Ende. Es ist immer empfehlenswert, auf den Rat älterer Menschen zu hören; denn ältere Menschen haben eine größere Erfahrung, und es gibt Dinge im Leben, die lernt man nur durch Erfahrung; diese kann kein Studium und keine Bücherweisheit ersetzen. Erfahrung ist unersetzlich. In gesunden Gemeinwesen hat man auch immer die alten Menschen geehrt. Als bei den Olympischen Spielen ein alter Mann keinen Platz fand, stand niemand auf. Aber als er zu den Spartanern kam, erhoben sich alle und boten dem alten Manne Platz. Als König Alexander der Große sich am Feuer wärmte, sah er einen alten Soldaten, der vor Kälte zitterte. Da stand er auf und bat diesen Soldaten auf seinen Thron, damit er sich wärme. Im israelitischen Volke gab es die siebzig Ältesten, die als eine Art Regentschaftsrat mit Moses tätig waren. Und in Rom war der Senat, d.h. der Rat der Alten, lange Zeit die entscheidende Regierungsbehörde. Eine ähnliche Stellung nahmen bei den Lazedämoniern die Geronten, die Greise, ein.

Die Heilige Schrift berichtet so manches Mal von weisen Ratschlägen der Alten und unbesonnenen Empfehlungen der Jungen. Roboam, der Sohn des Königs Salomon, hatte die Herrschaft übernommen, und das Volk hatte Wünsche, stellte Forderungen an ihn. Da hörte er zunächst die Alten, und die sagten: „Wenn du jetzt dem Volke nachgibst, wirst du das Volk für dich gewinnen.“ Dann begab er sich zu den Jungen, und die rieten ihm, jeden Wunsch des Volkes abzulehnen. Roboam sagte dann den Vertretern des Volkes: „Mein Vater hat euch mit Geißeln geschlagen; ich will euch mit Skorpionen züchtigen.“ Die Folge war, daß zehn Stämme von ihm abfielen, und das Reich dadurch geteilt wurde.

Wir sollen also die Eltern ehren durch Achtung, Liebe und Gehorsam.

Dann tritt auch das ein, was Gott denen verheißen hat, die seinem Willen gemäß leben, „auf daß es dir wohl ergehe und du lange lebest auf Erden.“ Das ist das einzige Gebot, an das Gott eine Verheißung geknüpft hat. Gottes Verheißungen gehen häufig schon auf Erden in Erfüllung. Wir können oft beobachten, daß Eltern, die selbst vorbildliche Kinder waren, ebenfalls gute Kinder haben. Und ein langes Leben mag vielen braven Kindern gewährt sein. An denjenigen, die im Kindesalter sterben, obwohl sie gute Kinder waren, wird die Verheißung Gottes nicht zuschanden, denn wen Gott zu sich nimmt, dem schenkt er ja noch mehr als ein langes Leben auf Erden. Wen er davor bewahrt, daß die Leidenschaft und die Sünde seinen Verstand trüben und sein Leben beflecken, dem gibt er eigentlich, wenn wir es richtig sehen, viel mehr als demjenigen, dem er ein langes Leben auf Erden schenkt.

Umgekehrt: Wer die Eltern nicht ehrt, hat häufig Schande auf Erden, einen unglückseligen Tod und möglicherweise ewige Verdammnis. Die Heilige Schrift weiß von schrecklichen Fällen zu berichten, in denen undankbare Kinder in Strafe genommen worden sind. Die beiden ungehorsamen Söhne des Hohenpriesters Heli fielen in der Schlacht. Absalom, der mißratene Sohn des Königs David, wurde bei der Flucht in elender Weise von drei Lanzen durchbohrt. Der heilige Augustinus berichtet von zwei jungen Männern, die ihre Mutter schlugen und beschimpften. Sie wurden von einem Gliederzittern befallen. Sie irrten umher, bis sie endlich in Hippo, also der Bischofsstadt des Augustinus, durch die Berührung mit den Reliquien des heiligen Stefanus geheilt wurden. Lassen wir uns warnen! „Verflucht sei, wer Vater und Mutter schlägt!“ So heißt es in der Heiligen Schrift.

O, meine lieben Freunde, wir wollen uns das 4. Gebot zu Herzen nehmen. „Du sollst Vater und Mutter ehren, auf daß es dir wohl ergehe und du lange lebest auf Erden!“ Wir wollen es tun, weil Gott es befohlen hat, weil die Eltern Gottes Stellvertreter und unsere Wohltäter sind. Und wenn wir ihnen nichts anderes mehr tun können, dann wollen wir für sie beten, wollen nicht aufhören, für sie zu beten, solange wir auf dieser Erde wandeln.

Der Dichter Freiligrath hat einmal die schönen Verse geschrieben: „Ach, lieb', solang' du lieben kannst! Ach, lieb', solang' du lieben magst! Die Stunde kommt, die Stunde kommt, wo du an Gräbern stehst und klagst!“

Amen.

Schrift
Seitenanzeige für große Bildschirme
Anzeige: Vereinfacht / Klein
Schrift: Kleiner / Größer
Druckversion dieser Predigt