Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
26. April 2015

Die kleine Weile

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

„Die kleine Weile“, von der heute im Evangelium die Rede ist, hat dem Nachdenken schon viel Beschwer verursacht. Was ist damit gemeint: „Noch eine kleine Weile, und ihr werdet mich nicht mehr sehen, und wieder eine kleine Weile, und ihr werdet mich wiedersehen“? Die Worte des Herrn scheinen rätselhaft, und doch lässt sich ein guter Sinn darin finden. In dem Augenblick, als diese Worte gesprochen wurden, sahen die Jünger Jesu noch, weil sie ja mit ihm, seit Monaten, vielleicht seit Jahren, umherwandelten in Galiläa und Judäa. Es waren jene beglückenden Monate, in denen sie seine Worte hörten und seine Taten sahen. Aber diese Zeit geht zu Ende, deswegen sagt Jesus: „Noch eine kleine Weile, und ihr werdet mich nicht mehr sehen.“ Diese Worte sind von Jesus gesprochen, als sein Leidensweg unmittelbar bevorstand. Jesus geht nach dem Willen des Vaters in die Passion am Kreuze. Der Tod trennt ihn von seinen Jüngern; er wird ja in das Grab versenkt. Die beseligende Gemeinschaft mit Jesus ist zu Ende; sie sehen ihn nicht mehr. Die kleine Weile, von der der Herr also an erster Stelle spricht, ist die Zeit, die vergeht von dem Tage, an dem diese Worte gesprochen sind, bis zu seiner Grablegung. In dieser knappen Zeit sehen sie ihn noch, aber dann sehen sie ihn nicht mehr, denn sein entseelter Leib ruht im Grabe. Die Abwesenheit des Herrn ist natürlich für die Jünger ein Grund zur Trauer, zum Weinen, zum Wehklagen. Was war das eine beseligende Zeit, als der Herr in ihrer Mitte weilte. Nie werden sie vergessen, was er ihnen gewesen ist, und nie werden sie vergessen, was er ihnen getan hat. Jetzt ist diese Zeit vorbei; der Herr geht dahin. Das Hingehen bezeichnet eben den Passionsweg, also den Verrat des Apostels, die Gefangennahme, die Verurteilung durch das Synedrium, die Verspottung, die Geißelung, das Todesurteil durch den Prokurator und die Kreuzigung. Die Jünger, die ja Jesus liebten, müssen furchtbare seelische Qualen erlitten haben, als all diese Schrecken über ihren Meister hereinbrachen.

Aber es gibt einen Trost. Die Phase der Trauer und der Klage wird nicht lange anhalten, „und wieder eine kleine Weile, und ihr werdet mich wiedersehen“. Jesus scheidet nicht für immer von seinen Jüngern. Die Frist der Grabesruhe ist kurz – man rechnet etwas vierzig Stunden. Der Gekreuzigte steht auf vom Tode, er zeigt sich seinen Getreuen. Die Erscheinungen beweisen, dass er wieder da ist. Diese zweite „kleine Weile“, von der der Herr spricht, sind also die Stunden der Grabesruhe vom Abend des Karfreitag bis zum Ostermorgen; und sie vergehen rasch. Magdalena, die den Herrn als Erste gesehen hat, bricht in den Jubelruf aus: „Der Herr ist wirklich auferstanden. Ich habe den Herrn gesehen.“ Und auch die Apostel haben den Auferstandenen gesehen. Als die Emmausjünger nach Jerusalem zurückkehrten, da empfingen sie die Apostel mit dem Ruf: „Der Herr ist dem Simon erschienen“ (Petrus). Sie sehen den Auferstandenen und erkennen in ihm den Gekreuzigten. Das Wiedersehen mit dem Herrn ist für die Jünger Anlass zur Freude. Diese Freude kann ihnen niemand nehmen, denn der Herr ist wahrhaft auferstanden und stirbt nicht mehr. „Und wieder eine kleine Weile, und ihr werdet mich wiedersehen“, das ist in Erfüllung gegangen.

Aber dieses Wiedersehen des Auferstandenen war auch nur eine knappe Weile. Der Evangelist Lukas lässt in seiner Apostelgeschichte keinen Zweifel daran, dass die Zeit der Erscheinungen kurz war: „Er hat sich den Aposteln lebend erwiesen, da er vierzig Tage hindurch ihnen erschien und von den Dingen des Gottesreiches redete“ – vierzig Tage. Die Zeit reichte aus, um den Glauben an die Auferstehung in den Jüngern zu begründen und zu befestigen. Gerade das Abbrechen der Erscheinungen nach vierzig Tagen ist ein Zeichen dafür, dass es sich bei den Erscheinungen nicht um Halluzinationen oder Visionen begeisterter Anhänger handelte; solche hätten sich beliebig lange fortsetzen können – die Hysterie erzeugt immer neue Einbildungen. Aber nein, dass die Erscheinungen Widerfahrnisse sind, über welche die Jünger keine Macht haben, das zeigt sich darin, dass sie abbrechen und dass sie sie nicht herbeizwingen können. Sie mussten entgegennehmen, was ihnen geboten wurde und solange es ihnen geboten wurde. Nachdem die Erscheinungen vorüber sind, ist die Zeit gekommen, von der Jesus am Sonntag nach Ostern sagte: „Selig, die nicht sehen und doch glauben“ – damit sind wir gemeint. Unser Glaube ist Zeugnisglaube. Wir glauben auf das Zeugnis der Apostel und der Jünger Jesu; sie waren Augen- und Ohrenzeugen des Jesusgeschehens. Sie waren dabei, als Jesus ein- und ausging, von der Taufe des Johannes angefangen bis zu dem Tage, an dem er aufgenommen wurde. Sie haben gesehen und gehört, wie er Kranke heilte, wie er Dämonen verjagte und Tote erweckte. Als der Hohe Rat ihnen eröffnete, sie dürften nicht im Namen Jesu predigen, da erklärte Petrus: „Wir können unmöglich von dem schweigen, was wir gesehen und gehört haben.“ Ihr Zeugnis ist einmütig; alle bezeugen dasselbe, keiner weicht ab, keiner macht Einwände, keiner zieht sein Zeugnis zurück. 500 Männer, die beisammen waren, verharren einmütig in der Überzeugung: Wir haben den Herrn gesehen. Niemand hat nachher erklärt: Ich habe mich getäuscht. Wenn es nur einen einzigen geben hätte, der das Zeugnis widerrufen hätte, dann hätten die Juden das begierig aufgegriffen und in ihren Talmud geschrieben. Aber eine solche Notiz fehlt im Talmud; es gab keinen Jünger, der sein Zeugnis widerrufen hat. Ihr Zeugnis ist auch klar. Sie können nicht erklären, wie es geschehen ist, dass der Gekreuzigte lebendig geworden ist. Sie verstehen es nicht, wie der zu ihnen sprechen kann, dessen Munde im Tode verstummt ist. Sie vermögen es nicht zu begreifen, wie der Auferstandene trotz verschlossener Türen in ihrer Mitte stehen kann. Aber was sie nicht erklären, verstehen und begreifen können, das können sie bezeugen, sie haben es erlebt. Sie bezeugen Tatsachen, nicht Phantasien. Auch wir müssen sagen mit dem Buch der „Nachfolge Christi“: „Wären die Werke Gottes nur so groß, dass sie von der Vernunft des Menschen leicht begriffen werden könnten, so wären sie eben deswegen nicht wunderbar, nicht unaussprechlich zu nennen.“

Auf dem Zeugnis der Apostel ruht unser Glaube. Glaube ist, nach dem Hebräerbrief, die feste Zuversicht auf das, was wir erhoffen, die Überzeugung von dem, was wir nicht sehen – die Überzeugung von dem, was wir nicht sehen. Wir sehen den Herrn nicht, er ist uns verborgen, in fremder Gestalt naht er uns, in einer unscheinbaren Hostie. Deswegen schreibt Paulus an die Gemeinde in Korinth: „Wir wissen, dass wir, solange wir daheim sind im Leibe, als Fremdlinge fern sind vom Herrn; denn im Glauben wandeln wir und nicht im Schauen.“ Was wir von Jesus aussagen, das gilt auch von Gott. „Gott wohnt in unzugänglichem Lichte“, schreibt Paulus an Timotheus, „den kein Mensch gesehen hat, noch zu sehen vermag.“  Die Unendlichkeit und die völlige Andersartigkeit Gottes macht es dem Menschen unmöglich, ihn zu sehen. Aber wir sind auf dem Weg, auf dem Wege zu seiner Schau. Wir pilgern aus der sichtbaren Welt in die unsichtbare, in unsere eigentliche Heimat. Anders ausgedrückt: Wir leben in der Welt der Physik und schreiten weiter in die Welt der Metaphysik. Die Physik hat es mit dem Sehen zu tun: mit den Augen des Leibes, mit Messungen – auch das ist ja ein Sehen. Die Elektronen und Neutronen können wir nicht sehen, aber wir spüren ihre Wirkungen – und auch das ist ein Sehen. Aber Physik ist nicht die ganze Wirklichkeit; neben der Physik gibt es eine Metaphysik. Die mit den Augen des Leibes gesehene Wirklichkeit ist nur ein Ausschnitt. Hinter, unter und über dem Gesehenen gibt es Ungesehenes, Unsichtbares. Der Gott, der sprach: „Es werde Licht“ ist der Schöpfer der sichtbaren und der unsichtbaren Dinge. Unsichtbar ist der Geist des Menschen. Es gibt eine unstoffliche, unsterbliche Seele. Die Einwände, welche von manchen gemacht werden, lassen sich alle zurückweisen. Die gläubigen Philosophen haben überzeugend nachgewiesen, dass es eine unstoffliche, unsterbliche Seele in jedem Menschen gibt. Unsichtbar sind auch die himmlischen Heerscharen. Es gibt eine unmessbare Zahl von seligen Geistern; wir nennen sie Engel. Sie sind genauso wirklich wie der Atomkern und die Elektronen. Metaphysik ist die Wissenschaft des Übersinnlichen, vom Seienden als solchem und seinen ersten Gründen und Ursachen, also Ontologie. Sofern diese Ontologie eine allererste Ursache des Seienden, ein schlechthin Erstes oder Unbedingtes nachweist, dem wir den Namen Gott geben, wird sie zur natürlichen Theologie. Ontologie und natürliche Theologie bilden die eine Wissenschaft der Metaphysik. Wir wissen, dass Wirkungen eine Ursache haben müssen. Aber die Ursachen sind selbst wieder verursacht, und so lässt sich eine Kette bilden bis zu einem Punkte, wo ein nicht mehr Verursachter steht, einer, der sich selbst begründet, ein ens a se, ein Sein, das aus sich selbst besteht, weil es den Grund seines Bestehens in sich trägt, ein Nichtkontingentes; wir nennen es Gott. Es hat mir immer eingeleuchtet, dass man die Reihe der Ursachen nicht ins Unendliche fortsetzen kann. Es muss am Ende oder am Beginn der Ursachenreihe eine Wirklichkeit stehen, die selbst nicht mehr verursacht ist, sondern sich selbst begründet, der „unbewegte Beweger“, wie schon Aristoteles gesagt hat.

Was die Metaphysik durch die Vernunft erkennt, das bestätigt die Offenbarung im Glauben. Der Apostel Paulus hat uns erklärt, dass wir unterwegs sind zum Herrn. Er war überzeugt, dass er zum Herrn kommen werde, wenn er das Tor des Todes durchschritten hat. Und in ihm war manchmal die Sehnsucht nach dem Tode. Warum? Weil er durch den Tod zu Christus kommen wollte. „Ich habe das Verlangen, aufzubrechen und mit Christus zu sein.“ Das ist seine Todessehnsucht gewesen. „Für mich ist Leben Christus und Sterben Gewinn.“ Warum ist Sterben für ihn ein Gewinn? Ja, weil er damit zu Christus kommt. Aber er wusste, er war den Seinen noch notwendig, sie brauchten ihn noch als Verkünder des Wortes Gottes und als Verwalter der Geheimnisse Gottes. Und deswegen wollte er nach Gottes Willen ausharren, bis die Stunde der Heimkehr ihm schlagen würde. Auch wir sind unterwegs zum Herrn, meine lieben Freunde. Wir spulen unser irdisches Leben ab. Jeder Tag bringt uns näher dem Herrn. Wir ringen und flehen, dass wir – einfach ausgedrückt – in den Himmel kommen. Das ist die Verkündigung des Paulus: „Wir wissen, wenn unsere irdische Zeltwohnung abgebrochen wird, erhalten wir ein von Gott gebautes Haus, ein ewiges Haus im Himmel, das nicht von Menschenhand erbaut ist.“ Was Paulus lehrt, hat Jesus angekündigt: „Im Hause meines Vaters sind viele Wohnungen. Ich gehe hin, euch eine zu bereiten.“ Lehramtliche Äußerungen mit höchster Verbindlichkeit machen uns gewiss: Wir gehen dem Himmel entgegen, der Wirklichkeit Gottes, die wir schauen, nicht nur glauben werden. Das Konzil von Florenz im Jahre 1439 hat gelehrt: „Die Seelen jener, die nach Empfang der Taufe sich keine Sündenmakel zugezogen haben, und auch jene, die zwar mit Sündenmakel befleckt, aber entweder noch in diesem Leben oder nach ihrem Heimgang gereinigt worden sind, werden alsbald in den Himmel aufgenommen, und schauen Gott klar, den dreieinigen Gott, so wie er ist.“ Das ist die Lehre der katholischen Kirche, ausgedrückt im Konzil von Florenz. Der Zustand des Himmels ist eine unbezweifelbare Wirklichkeit, die auf uns wartet und auf die wir zugehen. Der Gründer der Sozialdemokratie in Deutschland, August Bebel, sagte einst zu seinen Genossen: „Wenn es einen Himmel gibt, dann sind wir alle die Gelackmeierten“ – wenn es einen Himmel gibt, dann sind wir alle die Gelackmeierten.

So tröstlich die Aussicht ist, dass ein jeder nach dem Ablegen des Leibes in die Gemeinschaft mit dem verherrlichten Christus eingehen wird, so vorläufig ist dieses Geschehen. Die allgemeine Heimholung der Menschen steht noch aus. Es muss sich noch erfüllen, was die Engel den Männern von Galiläa bei der letzten Himmelfahrt des Herrn sagten: „Dieser Jesus, der von euch weg in den Himmel aufgenommen wurde, wird ebenso wiederkommen, wie ihr ihn habt auffahren sehen.“ Er wird wiederkommen. Wie der Blitz aufzuckt im Osten und bis zum Westen leuchtet, so wird er kommen. Er wird kommen, wie das Schicksal kommt, unentrinnbar, denn er ist das Schicksal der Welt. Er wird kommen über alle, die ihn sahen und doch nicht sahen, die ihn hörten und doch nicht verstanden, über Spötter und Hasser, über Trunkene und Träumende, über Zweifelnde und Verzweifelnde. „Wenn sein Banner über der Erde flattert, dann kehren wir Verbannte heim. Seinetwegen haben wir das Tier nicht angebetet und uns nicht preisgegeben um feilen Lohn. Wir wussten, dass er kommt.“ Das erste Mal kam er in Verborgenheit, das zweite Mal wird er kommen in aller Öffentlichkeit. Nur wenige Hirten und Weise erlebten seine Geburt aus der Jungfrau Maria. „Bei seiner Wiederkunft werden ihn sehen alle Augen“, schreibt der Apokalyptiker Johannes – werden ihn sehen alle Augen, und er fügt hinzu: „auch jene, die ihn durchbohrt haben“. Dann bleibt er bei uns, und wir bleiben bei ihm für immer und ewig. Dann heißt es nicht mehr „eine kleine Weile“, sondern eine unermessliche Ewigkeit, unvorstellbar, aber von Gott vorhergesagt. In der Stadt Gottes, der endgültigen Herrschaft Gottes, die einmal nach Gottes Willen aufgerichtet wird, ist jede Trennung von Gott, jede Abwesenheit Gottes überwunden. Dann gilt das Wort des Apokalyptikers Johannes: „Seht, das Zelt Gottes unter den Menschen! Er wird bei ihnen wohnen, und sie werden sein Volk sein, und Gott selbst wird bei ihnen sein. Sie werden sein Angesicht schauen, und sein Name ist auf ihren Stirnen.“

Amen.

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