Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  

Predigtreihe: Der Beginn des Wirkens Jesu (Teil 5)

6. Januar 2019

Der geschichtliche Jesus

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte, zur Feier der Erscheinung des HerrnVersammelte!

„Es war im 15. Jahr der Regierung des Kaisers Tiberius. Pontius Pilatus war Prokurator von Judäa, Herodes Vierfürst von Galiläa, sein Bruder Philippus Vierfürst von Ituräa und der Landschaft Trachonitis, Lysanias Vierfürst von Abilene, Hohepriester waren Annas und Kaiphas. Da erging das Wort an Johannes, den Sohn des Zacharias, in der Wüste.“ Warum, meine lieben Freunde, führt der Evangelist Lukas diese herrscherlichen Persönlichkeiten an? Weil mit dem Auftreten Johannes des Täufers auch das Hervortreten Jesu aus der Verborgenheit beginnt. Lukas, der zuverlässige Chronist, lässt sieben Zeugen aus der großen und kleinen Weltgeschichte jener Tage auftreten, um den Beginn jener welthistorischen Stunde zu markieren. Im 15. Jahre des Kaisers Tiberius, wann war das? Der Kaiser Augustus starb am 19. August des Jahres 14 n. Chr. Das 15. Regierungsjahr seines Nachfolgers erstreckte sich dann vom 19. August 28 bis zum 18. August 29 n. Chr. Diese Berechnung der Regierungsjahre wird von den alten Geschichtsschreibern verwendet. Aber die Sache hat einen Haken, denn in Palästina und dem ganzen Orient war die syrische Zeitrechnung gebräuchlich, nicht die römische. Das von Lukas genannte 15. Regierungsjahr nach syrischer Zählung reicht vom 1. Oktober 27 bis zum 30. September 28 n. Chr. Das Auftreten Jesu begann ja bald nach der Bußpredigt des Vorläufers. So lag der Anfang der Verkündigung seiner Heilsbotschaft etwa um die Jahreswende 27/28 n. Chr. Der Kaiser Tiberius war der Adoptivsohn des Kaisers Augustus. Augustus mochte ihn nicht, er hatte eine Abneigung gegen ihn, und dennoch bestimmt er ihn in seinem Testament zum Nachfolger. Mit 56 Jahren bestieg Tiberius den Thron, 14 n. Chr. Er war verbittert und ein Menschenfeind; das Volk mochte ihn nicht. Als er starb, da riefen die Menschen aus: Tiberius in Tiberim! – Schmeißt den Tiberius in den Tiber! Doch die Geschichtswissenschaft urteilt günstiger über ihn. „Sub Tiberio quies“, schreibt Tacitus, der große Schriftsteller: Sub Tiberio quies – Unter Tiberius herrschte Ruhe. Jesus war kein Feind des römischen Kaisers, auch kein Feind des römischen Reiches. Er wusste die Vorzüge dieses Reiches zu schätzen: eine geordnete Verwaltung, eine um Gerechtigkeit bemühte Rechtsprechung, den unbehinderten Verkehr, den blühenden Handel, die einheitliche Währung. Jesus hat das römische Kaisertum respektiert, wie ja auch im Tempel zu Jerusalem jeden Tag für den Kaiser geopfert und gebetet wurde. Aber die Gegner Jesu versuchten, ihn in einen Gegensatz zum Kaiser zu bringen. Sie verwickelten ihn in ein Streitgespräch, ob es erlaubt sei, dem Kaiser Steuern zu zahlen. Jesus ließ sich einen Denar bringen; das war die Reichswährungseinheit jener Zeit. In den Tagen Jesu trug der Denar den Kopf des Kaisers Tiberius. Jesus fragte: „Wessen ist dieses Bild und die Inschrift?“ „Des Kaisers.“ „Also gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist.“

Lukas kennt nicht nur den Kaiser Tiberius, er nennt auch seinen Vorgänger, Augustus. Julius Caesar hatte ja den Augustus adoptiert; er hieß damals Octavian. Und er setzte ihn zu seinem Erben ein. Augustus war noch unter Caesar im Alter von 15 Jahren Pontifex geworden, also Oberpriester, in einem der römischen Priesterkollegien. Im Jahre 12 v. Chr. wurde er sogar zum Pontifex Maximus, zum obersten Priester befördert. Darin beruhte zum großen Teil sein Ansehen, aber er war auch ein tüchtiger Kaiser. Er stellte Ruhe und Ordnung im Reiche her, er schaffte Wohlstand für Italien und seine Provinzen. Das Augusteische Zeitalter war eine Blütezeit des Reiches. Er war auch bemüht, die römische Religion zu erneuern und die Sitten zu bessern. Er nahm sich vor allem der Ehe an, um die Verwahrlosung in der Sittlichkeit zu beheben. Lukas erwähnt Augustus in dem Edikt zur Aufschreibung des Erdkreises, also zur Steuerschätzung. Durch diese Erwähnung wird das nach profanem Maßstab bedeutungslose Ereignis der Geburt Jesu in die Geschichte des Römischen Reiches eingefügt. Nicht eine Engelserscheinung veranlasste Josef, die Davidstadt aufzusuchen, sondern ein profanes Ereignis: der Zensus, die Aufschreibung, die der Kaiser angeordnet hatte.

An zweiter Stelle nennt Lukas den Vertreter des Kaisers in Palästina: Pontius Pilatus, Prokurator von Judäa. Als Rom außeritalische Besitzungen erwarb, wurden diese Provinzen genannt. Der Bereich einer Provinz unterstand der römischen Militärbehörde, die auch die vollziehende und richterliche Gewalt innehatte. Pilatus kam als 5. Prokurator nach Judäa. Er amtierte von 26–36 n. Chr. Als Vertreter des Kaisers besaß er die oberste Verwaltung und Gerichtsbarkeit. Er führte den Titel Exzellenz, der uns in der Apostelgeschichte aufbewahrt ist. Das Wort in der deutschen Übersetzung wird Erlauchter genannt. Er verfügte nicht über römische Truppen; ihm unterstanden nur Hilfstruppen: Syrer, Samaritaner, Griechen. Sein unmittelbarer Vorgesetzter war der Legat in Syrien. Er war befugt, in Notfällen in Judäa einzugreifen. Die Residenz des Prokurators befand sich in Cäsarea am Meer, etwa 100 Kilometer von Jerusalem entfernt. Dort residierte er in dem Palast, den Herodes der Große erbaut hatte. Von Cäsarea stieg der Vertreter des Kaisers und – wie sich zeigen sollte – Richters Jesu an jenem denkwürdigen Osterfest, wohl im 17. Regierungsjahr des Kaisers Tiberius, nach Jerusalem herauf. Mit ihm sollte Jesus am Ende seiner öffentlichen Tätigkeit zusammentreffen. Er war es, dem die jüdische Obrigkeit Jesus überstellte. Nachdem der Hohe Rat den Religionsprozess gegen Jesus geführt hatte, führte er jetzt Jesus dem Prokurator zu, damit er gegen ihn den politischen Prozess führe. Und wir wissen, wie er ausging.

Lukas verknüpft die Geburt Jesu als den Beginn der Heilsgeschichte mit der profanen Weltgeschichte. Er schreibt „in jenen Tagen“, es sind die Tage des Herodes, er trägt den Beinamen „der Große“. Herodes wurde um das Jahr 73 v. Chr. geboren. Er war kein gebürtiger Jude, sondern ein Idumäer. Also er stammt aus jener Landschaft, die zwischen Palästina und Ägypten liegt. Marcus Antonius ernannte ihn zum Tetrarchen, zum Teilherrscher über die Juden. Und Herodes suchte sich zu revanchieren. Er nannte die Burg in Jerusalem, die den Tempel unter Kontrolle halten sollte, nach Marcus Antonius „Burg Antonia“. Auf dem Lande sicherte er seine Herrschaft durch ein ganzes Netz von Festungen. Als Antonius von Octavian, also dem späteren Augustus, besiegt wurde, fand er auch dessen Gunst. Herodes begab sich nach Rom, und in Rom wurde er auf Vorschlag des Octavian zum König von Judäa ernannt. Im Jahre 37 trat er seine Herrschaft in Judäa an. Die Römer waren überzeugt, dass der energische und rücksichtslose Idumäer das unruhige Judenvolk mit eiserner Faust niederhalten werde. Und darin hatten sie sich nicht getäuscht. Herodes war 36 Jahre alt, als er den Königsthron bestieg. Er war ein Mann mit außerordentlichen Fähigkeiten. Sein äußeres Auftreten muss faszinierend gewesen sein. Selbst ein Mann wie der Kaiser Augustus wurde von seiner Sicherheit geblendet. Von seinem Vater hatte er das Fingerspitzengefühl für politische Situationen geerbt. Der Besitz der absoluten Macht aber machte ihn zum Tyrannen. Zur Erreichung seines Zieles schreckte er vor keinem Mord, vor keiner Gewalttat zurück. Von 71 Mitgliedern des Hohen Rates ließ er 45 hinrichten. Dem Hohenpriestertum entzog er die Erblichkeit und die Lebenslänglichkeit; er ernannte für jedes Jahr einen neuen Hohenpriester. Unter diesem Herodes wurde Jesus in Bethlehem geboren. In welchem Jahre? Meine lieben Freunde, der Mönch Dionysius Exiguus, der im 6. Jahrhundert die heutige Zeitrechnung geschaffen hat, nach Christus, dieser Mönch Dionysius hat sich verrechnet. Er setzte nämlich als Jahr der Menschwerdung Christi fälschlich das Jahr 753 nach der Gründung Roms an. Die Geburt Jesu fiel in die Regierungszeit Herodes des Großen; dieser starb aber Ostern 750, nicht 753. Und in seine Regierungszeit fällt die Geburt Jesu, also muss Jesus vor 753 geboren sein. Wir rechnen – das ist wohl die beste Berechnung, die man vorgenommen hat – damit, dass Jesus aller Wahrscheinlichkeit nach etwa 7 v. Chr. – ja, so muss man paradoxer Weise sagen – geboren ist. Das Jahr 7 war ein Schicksalsjahr. Am Himmel trat der Planet Jupiter in die große Konjunktion ein und verkündete so den Herrscher der goldenen Endzeit. In Rom erreichte Augustus den Höhepunkt seiner Laufbahn. Tiberius veranstaltete einen Triumphzug für Augustus. Am Nil feierte man den Kaiser als Zeus Eleutherios. Am Euphrat machten sich Sterndeuter auf den Weg, um in Palästina den verheißenen Friedenskönig zu suchen. Die Geburt Jesu in Bethlehem war dem König Herodes selbstverständlich verborgen geblieben. Ihm war auch Josef unbekannt. Er wusste nicht, dass er ein Nachkomme Davids war, als dessen gesetzlicher Sohn Jesus selbst zum Davidsohn wurde. Herodes hatte zehn Frauen; von acht hatte er Nachkommen, und zwar neun Söhne und fünf Töchter. Den Hohenpriester, den Bruder seiner Gattin, ließ er im Schwimmbad erdrosseln. Seine Gattin wurde zum Tode verurteilt und hingerichtet; zwei eigene Söhne folgten ihr nach. Im Jahre 7 v. Chr. legte sich eine ungeheuerliche Hinrichtungswelle, Hinrichtungsaktion wie ein Leichentuch über ganz Jerusalem. In dieser gespannten Atmosphäre kamen die Weisen aus dem Morgenland und stellten ahnungslos die Frage: „Wo ist der neugeborene König der Juden?“ Mit unerhörter Realistik schildert Matthäus die Wirkung dieser Frage in einem einzigen Satz: „Herodes erschrak und mit ihm ganz Jerusalem.“ Die Untertanen des Herodes wussten, was es bedeutet, wenn der König erschrickt. Es ergeht der Befehl zum Bethlehemitischen Kindermord; der freilich, der eigentlich beseitigt werden sollte, entkommt. Josef war kein weltfremder Pietist. Er flieht mit Maria und Jesus nach Ägypten, dem beliebten Asyl aller jüdischen Emigranten im Altertum. Herodes war eine Herrscherpersönlichkeit von überragender Begabung. Er schenkte seinem Volk einen fast dreißigjährigen Frieden. Er führte den jüdischen Staat zu einer politisch-militärischen Machtstellung, die von Rom begrüßt, von den Nachbarn respektiert wurde. Er leitete eine tatkräftige Förderung der Landwirtschaft ein; er begünstigte den Handel; er hatte eine kluge Finanz- und Steuerpolitik. Seine Regierung war eine Epoche wirtschaftlicher Blüte. Durch geschickte Aktionen vergrößerte er sein Herrschaftsgebiet in beträchtlichem Umfang. Er war ein gewaltiger Bauherr. Er machte mit seinen Großbauten Jerusalem zur Metropole des Ostens. Um die Sympathie seiner jüdischen Untertanen zu gewinnen, beschloss er, den unansehnlichen Tempel durch einen neuen, durch ein Werk von monumentaler Größe zu ersetzen. Der neue Tempelbezirk war doppelt so groß wie der alte. In diesem Tempel hat Maria für ihr neugeborenes Kind das vorgeschriebene Opfer von zwei Tauben dargebracht. Hier hat der greise Simeon das Kind in seine Arme geschlossen und Gott gelobt. Diesen Tempel hat Jesus besucht. In der Halle Salomons fanden die besorgten Eltern ihren verloren geglaubten Sohn. Herodes starb kurz vor dem Osterfest des Jahres 4 v. Chr. in Jericho. Er war also im 15. Jahr des Kaisers Tiberius schon lange tot. Das Urteil eines Zeitgenossen über den König Herodes lautet: „Er stahl sich seinen Thron wie ein Fuchs, er regierte wie ein Tiger, und er starb wie ein Hund.“

Es folgen im Bericht des Evangelisten Lukas die Namen der drei Landesfürsten der übrigen Teile Palästinas. Ihr offizieller Titel war Tetrarch – Vierfürst. Sie übten die Herrschaft von Roms Gnaden aus. Herodes Antipas, also ein Sohn Herodes des Großen, war der Landesvater Jesu. Er herrschte über Galiläa und Peräa. Er regierte von 4 v. Chr. bis 39 n. Chr., als er abgesetzt wurde. Unter den Söhnen des Herodes des Großen glich Herodes Antipas, was Herrschgier und Prunksucht angeht, am meisten seinem Vater. Aber er hatte nicht dessen Tatkraft und Unternehmungsgeist. Er war wohl in Rom erzogen worden und zählte bei seinem Regierungsantritt etwa 17 Jahre. Wie sein Vater suchte er die Gunst des Kaisers mit Schmeicheleien zu verbinden. Er baute eine zerstörte Ortschaft in Peräa auf und gab ihr den Namen „Livias“, nach der Gattin des Kaisers. Und doch stand er bei Augustus nicht in großem Ansehen. Dagegen wurde er von Tiberius, dem Nachfolger des Augustus, stark begünstigt. Im Jahre 17–20 n. Chr. gründete Herodes Antipas am Westufer des Sees Genezareth eine neue Stadt, die seine Residenz wurde. Er nannte sie nach seinem kaiserlichen Gönner „Tiberias“. Als Tiberius starb, war auch er am Ende. Er wurde abgesetzt vom Kaiser Caligula und verbannt. Jesus durchschaute diesen Landesherrn, er nannte ihn einen „Fuchs“. Dem Herodes Antipas unterstellte Pilatus den angeklagten Jesus. Er hatte nämlich vernommen, dass er Galiläer sei und somit aus dem Gebiet des Herodes Antipas stamme. Vermutlich hegte er die Hoffnung, Herodes werde ihm den unbequemen Fall abnehmen und Jesus von sich aus aburteilen, d. h. wohl in Freiheit setzen, denn er hatte bisher Jesus unbehelligt gelassen. Als Landesherr Jesu war Herodes Antipas der zuständige Richter. Aber er tat Pilatus nicht den Gefallen. Er sah in Jesus einen harmlosen Schwärmer, nicht eine Gefahr für Rom oder für seine eigene Herrschaft, und schickte ihn deswegen zu Pilatus zurück.

Der zweite Vierfürst, den Lukas nennt, ist kein Unbekannter. Sein Name bleibt für alle Zeiten mit dem Messiasbekenntnis des Petrus verbunden; es geschah in Cäsarea Philippi. Cäsarea, die Stadt, hatte einen zweiten Namen bekommen nach dem Fürsten Philippus – Cäsarea Philippi. Diese Stadt lag in der Landschaft Ituräa. Und im Unterschied von dem am Meer gelegenen Cäsarea trug diese Stadt den Zunamen ihres Erbauers, des Philippus. Jesus betrat das Gebiet des Philippus, sooft er sich an das Nordostufer des Sees Genezareth begab. In diesem Herrschaftsbereich fand die wunderbare Brotvermehrung statt. Philippus starb nach siebenunddreißigjähriger Regierung im 20. Jahr des Tiberius.

Der letzte Vierfürst ist Lysanias von Abilene. Er herrschte über ein kleines Gebiet um die Stadt Abila, 25 Kilometer nordwestlich von Damaskus. Diese kurze Notiz des Evangelisten wurde durch eine griechische Inschrift bestätigt, die man im Jahre 1901 ausgegraben hat in der Nähe von Abila. Lysanias starb 37 n. Chr. Lukas erwähnt ihn, weil man sein Gebiet im weiteren Sinne zu Palästina oder zu Israel rechnete.

Nach den weltlichen Machthabern nennt Lukas zwei geistliche Würdenträger: Hannas und Kaiphas. Die gleichzeitige Nennung zweier Hoherpriester ist zunächst auffallend, denn es gab gesetzlich nur einen Hohenpriester. Aber auch hier schließt sich Lukas dem ihm bekannten Sprachgebrauch der Zeit an. Danach konnte ein abgesetzter Hoherpriester den Titel weiterführen. Außerdem charakterisiert er mit diesen beiden Namen eine ganz bestimmte Zeit, nämlich die Ära des hohenpriesterlichen Geschlechtes der Familie des Hannas. Hannas wurde im Jahre 6 von Quirinius, dem Statthalter in Syrien, zum Hohenpriester befördert. Er war neun Jahre Hoherpriester und sah seine fünf Söhne im Besitz des hohen Amtes. Tiberius entsandte alsbald nach seiner Regierungsübernahme einen neuen römischen Prokurator nach Jerusalem: Valerius Gratus. Eine seiner ersten Amtshandlungen war die Absetzung des Hohenpriesters Hannas. Aber auch nach seiner Absetzung behielt er einen überragenden Einfluss auf die öffentlichen Angelegenheiten bis zum Tode. Es muss damals eine gängige Redensart gewesen sein, mit dem regierenden Hohenpriester Kaiphas auch Hannas, den Seniorchef der hohenpriesterlichen Dynastie, zu nennen. Jesus hatte sich der Familie des Hannas nicht nur durch seine Predigttätigkeit missliebig gemacht, er war ihr auch fiskalisch zu nahe getreten. Das hatte folgenden Grund: Im Tempel wurden zahlreiche Opfer dargebracht. Man hatte einen großen Bedarf von Opfertieren, Wein, Getreide. Die Tempelsteuer war jährlich zu entrichten, und sie musste in der althebräischen Halbschekelmünze bezahlt werden. Man schätzt den jährlichen Eingang der Tempelsteuer auf 1–2 Millionen Denare. Aus praktischen Gründen erlaubte es die Tempelverwaltung, dass die beteiligten Händler und Geldwechsler ihre Geschäfte im äußeren Tempelbezirk vornahmen. Das war ein Entgegenkommen gegen die Tempelbesucher, es sollte ihnen die Erfüllung ihrer kultischen Pflichten erleichtern. Es brachte aber auch den Inhabern der Konzession, darunter der Familie des Hohenpriesters Hannas, reichen Gewinn ein. Die Sippe des Hannas scheint allmählich ein Monopol für alle Dinge an sich gebracht zu haben, welche die Besucher des Tempels für die Opfer benötigten. So war sie eben an dem Handel mit Opfertieren und am Geldwechsel beteiligt. In diesen Betrieb griff Jesus ein. Er missbilligte die Verbindung von Geschäft und Religion und nahm die Tempelreinigung vor. Das brachte ihn natürlich in Konflikt mit der Familie des Hannas. Hannas war der Schwiegervater des amtierenden Hohenpriesters; dieser hieß Josef mit dem Beinamen Kaiphas. Er war ein kluger Jurist, ein gewiefter Diplomat. Mit der Einheirat in die herrschende Hohenpriesterdynastie des Hannas begann seine Karriere. Im Jahre 18 n. Chr. wurde er von den Römern als Hoherpriester eingesetzt. Er hat es fertiggebracht, 19 Jahre sich an der Macht zu halten – eine Rekordzeit, die im Jahrhundert von keinem anderen Hohenpriester erreicht wurde. Unter den Hohenpriestern Hannas und Kaiphas vollendete sich das Geschick Jesu. Vor Hannas fand ein Vorverhör statt, vor Kaiphas das eigentliche Verhör. Kaiphas führte den religiösen Prozess gegen Jesus. Er setzte seine Verurteilung zum Tode durch und die Übergabe an die römische Besatzungsmacht.

Meine lieben Freunde, es ist der einzigartige Vorzug unseres Glaubens, dass der Stifter unserer Religion, Jesus der Nazarener, im hellen Licht der Geschichte steht. Die übrigen Religionsstifter (Buddha, Mohammed) verlieren sich im Nebel von Sagen und Legenden. Wir Christen stehen auf dem sicheren Boden der Geschichte. Die Urkunden des Lebens und Wirkens Jesu sind durch Tausende von Gelehrten 2000 Jahre lang durchforscht und geprüft worden. Nicht wenige der Gelehrten waren erbitterte Feinde Jesu und erforschten die Evangelien wie Kriminalbeamte eine Fälschung. Aber sie haben es nicht geschafft, Leben und Werk Christi in die Wahnwelt des Mythos zu versetzen. Der antiochenische Arzt Lukas, dem wir das dritte Evangelium verdanken, eröffnete seinen Bericht mit dem Geständnis: „Ich habe mich entschlossen, allem von den ersten Anfängen an sorgfältig nachzugehen und es der Reihe nach niederzuschreiben.“ Das hat er wahrlich getan. Diesen Vorsatz hat er in den beiden Geschichtswerken, dem Evangelium und der Apostelgeschichte, umgesetzt. Was Lukas von seiner Schrift sagt, das gilt in gleicher Weise von den übrigen Evangelien. Es sind zuverlässige Berichte vom Leben und Wirken des Nazareners Jesus. Ihre Redlichkeit wird durch jene Teile besonders gesichert, die für das Christentum nicht besonders schmeichelhaft sind, also etwa die Ablehnung Jesu in seiner Vaterstadt Nazareth, die Angst des Herrn am Ölberg, der Verrat des Judas; alles das wird redlich berichtet, weil es passiert ist. Wir brauchen uns nichts vorzumachen, wir brauchen die Augen nicht zu schließen: wir haben die Geschichte auf unserer Seite. Die Weisen aus dem Morgenlande sind tatsächlich gekommen. Ohne Vorliebe und ohne Voreingenommenheit, mit vollem Einsatz aller Kräfte des Verstandes können und müssen wir sagen: Unser Glaube beruht auf Tatsachen, geschichtlichen Ereignissen, göttlichen Eingriffen in die Geschichte. Wir dürfen mit Johannes, dem Evangelisten, sprechen: „Was wir gehört und was wir gesehen, was wir mit eigenen Augen geschaut und mit Händen berührt haben, das berichten wir euch.“

Amen.  

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