Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  

Predigtreihe: Das Leiden Jesu Christi (Teil 3)

10. Februar 2013

Der religiöse Prozess Jesu

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Am vergangenen Sonntag haben wir gesehen, wie der Herr gefangengenommen und gefesselt wurde. Man brachte ihn zuerst zu Annas. Annas war ein Hoherpriester, der sein Amt abgegeben hatte. Er war zehn Jahre lang Hoherpriester gewesen. Und er hatte das Glück, wie der Schriftsteller Flavius Josephus schreibt, er hatte das Glück, alle seine fünf Söhne als Hoher Priester zu sehen. Er war eine einflussreiche Persönlichkeit, besaß verwandtschaftliche Beziehungen. Er war ein reicher Mann. Er war ein tatkräftiger Mann. Er war ein schlauer Mann und vor allem, er war der Schwiegervater des amtierenden Hohenpriesters, nämlich des Joseph Kaiphas. Also verwandtschaftliche Beziehung und natürlich auch die Rücksicht auf seine einflussreiche Stellung waren der Grund, weswegen Jesus zuerst zu Annas geführt wurde.

Kaiphas, der amtierende Hoherpriester, brachte es fertig, 19 Jahre das Amt zu behalten. Das hat kein anderer Hoherpriester erreicht. Das deutet auf seine Tüchtigkeit, auf das Ansehen, das er besaß, aber freilich auch auf das Geld, das er für die jährliche Erneuerung bereitstellte. Er war ein Sadduzäer, ein hochmütiger und gewalttätiger Mann. Die Vernehmung Jesu durch Annas ist kein Teil des eigentlichen Prozesses. Diese Vernehmung hat inoffiziellen Charakter. Für diese Vorführung waren nicht rechtliche, sondern private Rücksichten maßgebend. Freilich muss Kaiphas auch damit gerechnet haben, dass es der Schlauheit und der Gerissenheit des Annas gelingen werde, aus Jesus Material für den Prozess herauszupressen.

Der gewesene Hoherpriester Annas befragte Jesus über seine Jünger und über seine Lehre. Warum über seine Jünger? Die römischen und die jüdischen Behörden waren sich über Umfang und Zusammensetzung der Anhängerschaft Jesu nicht im Klaren. Annas wollte herausbekommen, wer und woher seine Anhänger sind, wie viele es seien, aus welchen Kreisen und Gegenden sie sich rekrutierten, denn davon hing ab, welchen Einfluss und welche Macht man Jesus zutrauen konnte. Dieses wiederum war maßgebend für die Maßnahmen, die man gegen Jesus beabsichtigte. Wenn er eine weitreichende, eine zahlreiche, eine eventuell mächtige Anhängerschaft hatte, da musste man vorsichtig sein. Und die Hohenpriester hatten ja gesagt: Nur nicht am Feste, wo die Massen da sind, die eventuell sich zu ihm bekehren oder bekennen könnten. Eine Volkserhebung durfte auf keinen Fall riskiert werden. Die zweite Frage galt der Lehre Jesu. Annas hatte selbstverständlich vom Auftreten Jesu gehört, und er hatte sicher auch etwas vom Inhalt seiner Reden und Unterweisungen vernommen. Aber jetzt wollte er aus Jesu eigenem Mund hören, was für eine religiöse und politische Einstellung er hatte. Er suchte Material, Belastungsmaterial gegen Jesus. Der Heiland machte die Klugheit des Annas zuschande. "Ich habe öffentlich vor aller Welt geredet. Ich habe immer gelehrt in der Synagoge und im Tempel, wo alle Juden zusammenkommen. Im Verborgenen habe ich nicht geredet. Warum fragst Du mich? Frage die, die mich gehört haben, was ich zu ihnen gesprochen. Diese wissen, was ich ihnen gesagt habe." Ein solcher freier und furchtloser Ton war im jüdischen Gerichtslokal unerhört. Dem subalternen Verstand eines Gerichtsbüttels musste die Antwort Jesu ehrfurchtslos und beleidigend vorkommen. In augendienerlicher Beflissenheit gab er dem Beschuldigten einen Schlag auf die Wange, wobei er ihn anfuhr: "Antwortest du so dem Hohenpriester?" Jesus nahm die rohe Beschimpfung hin, aber nicht, ohne den Täter ruhig und bestimmt auf sein Unrecht hinzuweisen. "Habe ich ungehörig geredet, so weise mir die Ungehörigkeit nach. Habe ich aber recht geredet, warum schlägst du mich?"

Annas schickt Jesus nach Beendigung des Verhörs zu Kaiphas, natürlich ohne ein Urteil zu fällen, denn er war ja in diesem Falle eine inoffizielle Persönlichkeit. Die Sitzung fand im Palast des Kaiphas statt, in einem höhergelegenen Saale. Hier versammelte sich der Hohe Rat. Man kann fragen: Konnten die Ratsherren so schnell zusammengerufen werden? Gewiß! Es waren ja einige bei der Verhaftung dabei. Und außerdem: Von den 71 Ratsherren brauchten nur 23 zur Sitzung zu erscheinen, damit die Sitzung vollzählig war. Die Versammlung konnte den Prozess führen, auch wenn zwei Drittel nicht anwesend waren. Die Verhandlung gegen Jesus begann mit der Beweisaufnahme. Das Synedrium, also der Hohe Rat, das Synedrium suchte Zeugnis gegen Jesus, um ihn zu töten. Das stand von vorneherein fest. Man wollte nicht die Wahrheit erforschen, man wollte ihn umbringen! Dass ein Todesurteil gefällt werden sollte, das stand fest, aber man wusste noch nicht, womit es begründet werden könnte. Das jüdische Prozessverfahren kennt keinen Staatsanwalt, keinen Ankläger. Die Anklage wurde von den Zeugen erwartet. Ein Verteidiger war vorgesehen, wurde aber Jesus nicht gestellt. Die Zeugen mussten ihre Aussage einzeln, mündlich in Gegenwart der Richter und des Beschuldigten abgeben. Ihre Aussagen waren wertlos, wenn sie sich auch nur geringfügig widersprachen. Es gab Belastungszeugen und Entlastungszeugen. Die Entlastungszeugen sollten zuerst gehört werden. Im Prozess Jesu trat kein einziger Entlastungszeuge auf. Warum nicht? Entweder ließ man sie nicht zu, oder es wagte keiner vor dem Gerichtshof zu erscheinen, um für Jesus zu sprechen. Dafür aber umso mehr Belastungszeugen. Die Evangelisten berichten nur von einer Aussage, mit der sie Jesus beschuldigten. "Wir haben ihn sagen hören, ich will diesen mit Händen gemachten Tempel abbrechen und in drei Tagen einen anderen aufbauen, der nicht mit Händen gemacht ist." Eine ähnliche Äußerung hatte Jesus gemacht. Johannes berichtet uns, wie sie lautete, nämlich: "Brecht diesen Tempel ab, und ich werde ihn in drei Tagen wieder erstehen lassen." Und er sagte: "Das meinte Jesus vom Tempel seines Leibes." Die Zeugen wollen das Wort Jesu aber ganz anders verstanden wissen, nämlich als Drohung gegen das jüdische Nationalheiligtum. Zerstörung eines Kultgebäudes gehörte in der ganzen Alten Zeit zu den schwersten Delikten. Den Juden musste schon die bloße Androhung eines Attentats gegen den Tempel als eine Äußerung erscheinen, die des Todes würdig war. Aber die Aussagen stimmten nicht überein. Sie waren daher wertlos. Man konnte sie nicht zur Verurteilung Jesu benutzen.

Deswegen schritt jetzt Kaiphas als vorsitzender Richter zur Vernehmung oder besser zum Verhör Jesu. Er sollte zu den vorgebrachten Beschuldigungen Stellung nehmen. Wenn er die Beschuldigungen bestätigt, dann wird der Mangel der Übereinstimmung der Zeugen geheilt. Dann ist ein fester Anhaltspunkt für die Verurteilung gegeben. Aber Jesus schweigt. Das bestürzt den Hohenpriester. "Erwiderst du nichts zu dem, was diese gegen dich bezeugen?" Er mag so manchen Prozess geführt haben, und da hat er erlebt, wie die Beschuldigten mit vielen Worten ihre Unschuld beteuerten. Einen solchen Angeklagten hat er noch nicht erlebt. Jesus schweigt. Er lehnt es ab, vor diesen offensichtlich böswilligen Richtern über sein Tun und Lassen eine Erklärung abzugeben, die doch nur auf Unverstand und Unglauben stoßen würde. Aber sein beharrliches Schweigen verbaut dem Gerichtshof die Möglichkeit, aus dem Zeugenmaterial doch noch Kapital zu schlagen. Die Gläubigen freilich wissen, dass dieses beharrliche Schweigen des Angeklagten eine Weissagung erfüllt, eine Weissagung des Propheten Isaias. "Er wurde misshandelt, doch er gab sich willig darein. Er tat seinen Mund nicht auf. Wie ein Lamm, das man zu seinem Scherer führt. Wie ein Lamm, das vor seinem Scherer verstummt, tat er seinen Mund nicht auf.“

Kaiphas aber, diese Kraftnatur, Kaiphas will zum Ziele kommen. Er stellt jetzt Jesus eine direkte Frage, und zwar nach seinem messianischen Selbstverständnis. "Bist du der Messias, der Sohn des Hochgelobten?" Der Hohepriester sucht jetzt eine Entscheidung zu erzwingen. Für ihn bedeutet die Frage, ob Jesus sich schuldig bekennt oder nicht, denn er ist entschlossen, mit seinem ganzen Gerichtshof die bejahende Antwort als Gotteslästerung einzustufen. Und deswegen leitet er die Frage ein mit der Beschwörung. "Ich beschwöre dich beim lebendigen Gott, dass du uns sagest, ob du der Messias bist!" Im Falle einer bejahenden Antwort hielt der Gerichtshof Jesus für überführt. Die Richter beabsichtigten die offene und klare Bezeugung der Messiaswürde durch Jesus als Kapitalverbrechen, das mit dem Tode zu ahnden war, zu behandeln. Und diesmal antwortet Jesus: "Ich bin es. Und ihr werdet den Menschensohn sitzend zur Rechten der Kraft und kommend mit den Wolken des Himmels sehen!" Jesu Messiaswürde, Jesu Messianität entsprach in keiner Weise den Vorstellungen der Juden. Und dennoch bejaht er die Frage. Aber er ergänzt sie, er ergänzt sie, indem er Bezug nimmt auf zwei messianische Texte des Alten Testamentes: "Sitzend zur Rechten der Kraft", das ist Anspielung auf den Psalm 110. "Kommend mit den Wolken des Himmels", das ist Anspielung auf den Propheten Daniel. Die Richter, die jetzt nach seiner Messiaswürde fragen, werden ihn einst als verherrlichten Menschensohn in himmlischer Majestät zur Rechten Gottes sitzen und als Richter kommen sehen. Seine Wiederkunft wird die jeden Widerspruch ausschließende Offenbarung seiner Messiaswürde sein. Damit begegnet er dem Einwand, seine Messiaswürde sei angemaßt. Nein, sie ist nicht angemaßt, sie ist von Gott verliehen. Seine glorreiche Ankunft ist die Legitimation für seine Messiaswürde. Jetzt legt er sie vor, jetzt wirkt er das Zeichen, nach dem sie immer verlangt haben. Jesus hat offen und feierlich sich als den Messias bekannt und damit den Tatbestand erfüllt, den sie als Gotteslästerung zu behandeln entschlossen waren. Da zerriß der Hohepriester seine Kleider und sprach: "Wir brauchen hier keine Zeugen mehr. Ihr habt ja alle die Gotteslästerung gehört!" Durch das Zerreißen des Gewandes bringt Kaiphas symbolisch zum Ausdruck, dass er Jesu Erklärung als Gotteslästerung betrachtet. Eine Prüfung des Messiasanspruches Jesu findet nicht statt. Man setzt voraus, was zu beweisen wäre. Alle Anwesenden sind Ohrenzeugen des Ausspruches, dessen blasphemischer Charakter feststeht, sodass sich das Zeugnis anderer erübrigt. Worin- noch einmal- worin lag für die Richter die Gotteslästerung? Darin, dass dem Anspruch Jesu, der Messias zu sein, die göttliche Bestätigung zu fehlen schien. Seine Wunder nahmen sie nicht zur Kenntnis. Auf das Ereignis in der Zukunft wollten sie sich nicht einlassen. Der Anspruch, den Jesus vorbrachte, war für sie eine Antastung der göttlichen Majestät. Und so fordert Kaiphas seine Mitrichter auf: "Was dünkt euch, was fällt ihr für ein Urteil?" Sie sprachen alle, alle einstimmig: "Er ist des Todes schuldig!" Auf Gotteslästerung stand die Strafe der Steinigung. Das jüdische Strafprozessrecht kannte keinen Instanzenzug. Man konnte also nicht Berufung einlegen. Der Hohe Rat in Jerusalem besaß seit dem Jahre 6 n. Chr. zwar noch das Recht, Todesurteile zu verhängen, nicht aber, sie zu vollstrecken. Um Todesurteile zu vollstrecken, musste Jesus der römischen Besatzungsmacht ausgeliefert werden. Und dort erfolgte die Hinrichtung nach römischer Rechtspraxis, also Kreuzigung.

Ich will noch einmal in vier Fragen zusammenfassen, was vor dem Hohen Rat geschah. Erstens: Hat der Hohe Rat formell ein Todesurteil gefällt? Ja, es hat eine Verurteilung stattgefunden, und es wurde auf die Todesstrafe erkannt. Zweitens: Auf welchen deliktischen Tatbestand gründete sich das Todesurteil? Die einzige Grundlage bildete das als Gotteslästerung aufgefasste messianische Selbstzeugnis Jesu. Drittens: War die Verhandlung vor dem Hohen Rat ein legales Gerichtsverfahren? Darüber sind sich die Erklärer nicht einig. Sie verweisen auf das jüdische Gesetzbuch, die Mischna. Diese Mischna setzte bestimmte Regeln fest, die beim Prozess Jesu nicht eingehalten wurden. Zum Beispiel war es verboten, einen Prozess in der Nacht zu führen. Und es war untersagt, ein Todesurteil zu fällen und am selben Tage zu vollstrecken. Es musste ein Tag vergehen. Die Mischna wurde also nicht in allen Punkten beachtet. Aber, und das ist die andere Seite, die Mischna stammt in der Gestalt, wie wir sie kennen, aus dem zweiten Jahrhundert. Wir wissen nicht, welche Bestimmungen schon zur Zeit Jesu in Kraft waren. Und deswegen gibt es Erklärer, die zu der Ansicht neigen, der Prozess war nach damaliger Rechtslage legal. Allerdings eines kann man den Richtern nicht ersparen: sie traten nicht zusammen, um die Wahrheit zu erforschen, um das Recht zu finden, sondern sie waren entschlossen, Jesus dem Tode zu überliefern. Vierte Frage: Fand nach der Nachtsitzung noch eine Morgensitzung statt? Das könnte man meinen, wenn man das Evangelium nach Markus mit dem nach Lukas vergleicht. „Als es Tag wurde“, sagt Lukas, also in der Morgenfrühe. Aber der Unterschied löst sich sehr leicht auf. Die Nachtsitzung hatte eben mehrere Stunden gedauert und deswegen wurde sie am Morgen erst beendet.

Der als des Todes schuldig befundene Messias muss jetzt den Ausbruch leidenschaftlichen Hasses über sich ergehen lassen. Die einen spucken ihn an, andere verhüllen sein Gesicht. Sie geben ihm Ohrfeigen und sprechen: "Weissage!" Die Diener bedenken ihn mit Schlägen. Anspucken ist Ausdruck der Verachtung. Misshandlung ist Verhöhnung seines Anspruchs als Messias. Aber damit erfüllt sich an ihm, was der Prophet Isaias über den Gottesknecht lange vorher verkündet hat. "Meinen Rücken bot ich den Schlägen dar, meine Wangen den Raufern, verbarg nicht mein Antlitz vor Schmähung und Speichel."

Meine lieben Freunde: Heute steht nicht mehr Jesus Christus vor Gericht. Nicht deswegen, weil man sich zu ihm bekennt, sondern weil man ihn vergessen hat, weil er der Masse der Zeitgenossen gleichgültig ist. An seiner Stelle steht die Kirche, seine Braut, vor Gericht. Sie ist den Zeitgenossen nicht gleichgültig, denn sie redet ihnen ins Gewissen. Das ertragen sie nicht. Sie wollen die unbequeme Mahnerin zum Schweigen bringen. Disqualifizieren! Und das geschieht auf zweierlei Weise. Man klagt sie an wegen der Verfehlungen von Einzelnen ihrer Glieder. Seit Jahren weicht der Begriff des Missbrauches nicht aus der Presse. Wir sind uns einig: Jeder Fall eines Missbrauches ist einer zuviel. Aber darf man deswegen die Kirche in den Anklagezustand versetzen? Wer verurteilt denn wegen des Judas alle Apostel? Wer klagt den Ärztestand an, wenn Mediziner wegen Abrechnungsbetrug verurteilt werden? Wer verwirft die Universitäten, wenn von ihnen graduierte Personen des Plagiats überführt werden? Die Kirche war so demütig oder so töricht, alle einschlägigen Fehltritte ihrer Kleriker und Laienangestellten seit 1945 auf den Tisch zu legen und sich so zum Angriffsobjekt der Massenmedien zu machen. Wer hat sie dazu gezwungen? Niemand! Wem ist damit gedient? Den Feinden der Kirche! Ich frage: Hat die Ärzteschaft jemals ihre Glieder, die sich seit 1945 an Patientinnen vergangen haben, zusammengestellt und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht? Haben die Polizeibehörden je daran gedacht, alle Angehörigen des Polizeidienstes, die sich seit 1945 schuldig gemacht haben, namhaft zu machen? Nein, sie haben es nicht getan, und damit haben sie recht getan! Welchen Sinn hat es, wirklich oder angeblich geschädigte Personen aufzurufen, um eine Entschädigung zu verlangen und zu empfangen, wenn die behaupteten Vergehen Jahrzehnte zurückliegen und die angeblichen Schädiger überhaupt nicht mehr zur Rechenschaft gezogen werden können? Im Sachsenspiegel, im Sachsenspiegel, den ich während meines Studiums kennengelernt habe, im Sachsenspiegel von 1224 steht der Satz: "Enes Mannes Rede ist kenes Mannes Rede, man soll sie hören bede".

Man klagt die Kirche an, weil sie sich an das Gebot Gottes hält. Es ist niemals, unter keinen Umständen und aus keinem Motiv erlaubt, in sich Böses zu tun. Es gibt Handlungen, die unter allen Umständen und aus jedem Motiv verboten sind. Die Kirche steht hier vor der letzten Instanz, nämlich vor Gott, vor der Majestät Gottes. Die Kirche ist kein Geschäftsmann, der mit sich handeln lässt. Die Kirche ist Zeugin der Wahrheit. Und sie vertritt die Wahrheit auch dann, wenn sie Opfer verlangt. Die Gebote Gottes entspringen nicht der Willkür. Sie sind Ausdruck seiner Liebe zu den Menschen. Die Kirche kann nicht von den Geboten lassen, weil sie sie nicht gegeben hat. Man klagt die Kirche wegen ihres Festhaltens an den Geboten der Erbarmungslosigkeit an. Gewiss, meine Freunde, eine vergewaltigte Frau mag erleichtert sein, wenn sie von der ungewollt empfangenen Frucht ihres Leibes befreit wird. Aber das ist eine rein irdische Sicht, die handelt, als ob es Gott nicht gäbe. Wer an Gott glaubt, sieht in der Abtreibung ein schweres Vergehen, einen Verstoß gegen Gottes Heiligkeit, und dieser Verstoß wiegt schwerer als die Pflicht, ein nicht begehrtes Kind auszutragen. Wer ist erbarmungslos? Wer Menschen zu einer Todsünde der Abtreibungverhilft oder wer sie vor einer Todsünde bewahrt? Im letzten Kriege und noch danach wurden in Schlesien Dutzende von katholischen Ordensschwestern von Soldaten der Roten Armee vergewaltigt. Die Ordensschwestern, die ein Kind empfangen hatten, haben alle ohne Ausnahme das Kind ausgetragen.

Was die Masse der Menschen will, das ist klar: Der Nutzen, der irdische, der jetzige, der menschliche Nutzen entscheidet. Eine überirdische Instanz kommt nicht in Frage. Das praktische Bedürfnis des einzelnen, das rechtfertigt die Handlung, das gibt den Ausschlag, was man tun und was man lassen muss. Für jeden Verstoß gegen Gottes Gebot lassen sich Gründe finden, die den Menschen einleuchten. Was jemanden aus Gefahren und Schwierigkeiten befreit, das leuchtet allen ein. Unheilbar Kranke zu töten, ja warum denn nicht? In einer ausweglosen Lage sich selbst umzubringen, warum nicht? Unnütze Esser wegzuschaffen, wenn das Brot nicht mehr reicht für alle, warum nicht? In der Zeit der Christenverfolgung konnte man sich das Leben erkaufen, indem man Weihrauch streute, warum nicht? Die Christen der Urzeit haben anders gedacht.

Vor kurzem, meine lieben Freunde, sagte mir eine Dame in Mainz, die katholische Kirche müsse protestantischer werden, eine katholische Dame! Die katholische Kirche müsse protestantischer werden. Das heißt, sie soll ihre gottgewollte Sittenlehre aufgeben und die billige Moral des Protestantismus übernehmen. Der Protestantismus ist eine Religion, die es den Menschen recht machen will. Die katholische Kirche hat die Religion, die es Gott recht machen will. Das ist der Unterschied! Was der Protestantismus tut, indem er zum Beispiel auch die Abtreibung gestattet, was der Protestantismus tut, das ist die Missachtung Gottes, das ist Verrat am Evangelium. Durch diese Haltung wird man beliebt, da kommt man an bei den Massenmedien. Gegen den Protestantismus haben die Presseorgane nichts einzuwenden. Der Protestantismus ist die Religion der großen Worte. Die katholische Kirche ist die Religion der schweren Taten. Die Moral, die der Protestantismus vertritt, geht den Menschen ein, denn sie ist von Menschen gemacht. Die Sittenlehre, welche die katholische Kirche verkündigt, weckt bei den Menschen Widerstand, denn sie ist von Gott gegeben. Das ist eben der Unterschied zwischen einer Kirche, die unter dem Antrieb des Heiligen Geistes steht und einer anderen Gemeinschaft, die sich vom Zeitgeist lenken läßt. Was die Kirche mit ihrer Verkündigung und mit ihrem Festhalten an der Sittenlehre tut, das ist Gehorsam gegen den gebietenden Gott. Wenn die Kirche deswegen vor Gericht gestellt wird, dann kann sie mit ihrem Heiland und Herrn sagen: "Habe ich Unrecht geredet, dann beweise es mir. Habe ich aber recht geredet, warum schlägst du mich?"

Amen.

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