Die Wahrheit verkündigen,
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Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  

Predigtreihe: Das Geheimnis der menschlichen Seele (Teil 2)

23. Januar 2005

Die Geistigkeit der Seele

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Es ist eine alte Erfahrung, dass fast alles Unheil von den Professoren ausgeht, oder besser von Professoren, nicht von allen, aber von Professoren geht das meiste Unheil aus. So ist es auch in bezug auf die Seele. Wenn Sie in den letzten Monaten die Diskussion in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung verfolgt haben, dann haben sie dort immer wieder gelesen, wie Professoren der Philosophie versuchen, die Seele zu leugnen. Sie lassen sie zusammenfallen mit den Gehirnfunktionen. Die Seele ist nichts anderes als die Summe dessen, was sich im Gehirn abspielt. So erklären diese – natürlich ungläubigen – Professoren: Gehirnvorgänge sind identisch mit der Seele. Und selbstverständlich, da das Gehirn ja beim Tode des Menschen zerfällt, ist der ganze Mensch tot. Es gibt kein Weiterleben nach dem Tode, es gibt keine ewige Seligkeit, und damit ist die ganze Religion und der Glaube und das Christentum erledigt.

Ich hatte am vergangenen Sonntag versucht, Ihnen anhand einer zumindest missverständlichen Äußerung des Limburger Bischofs zu zeigen, dass es eine Seele als selbständiges Sein, als selbständiges Etwas gibt. Es existiert eine Seele, und diese Seele ist immateriell, also geistig. Sie ist ein geistiges Sein, und dieses geistige Sein kann man erschließen aus den Tätigkeiten der Seele, denn jedes Sein wirkt ja nach der Maßgabe seiner eigenen Befindlichkeit. Die Tätigkeit richtet sich nach dem Sein. Und so ist es auch bei der Seele. Wenn die Seele immateriell ist, dann müssen auch ihre Tätigkeiten zumindest ein immaterielles Moment enthalten, so sehr auch die Seele in diesem irdischen Leben mit dem Leibe vereinigt ist und deswegen auch auf den Leib angewiesen ist, selbstverständlich. Daran ist kein Zweifel. Aber dass die Seele eben über den Leib hinausgeht, dass sie den Leib überragt, dass sie den Leib steuert und dass sie den Leib beherrscht, dass sie forma corporis ist, wie die Theologen des Mittelalters schon gesagt haben, die formgebende Kraft des Leibes, das ist das Entscheidende, darauf kommt es an. Die Seele gebraucht den Leib in werkzeuglicher Art. Sie gebraucht auch das Gehirn, die Gehirnbewegungen, um über das bloß Stoffliche hinausgehend etwas zu schaffen. Die äußeren Vorgänge werden uns selbstverständlich durch die Sinne herangetragen. Wir hören, wir sehen, wir tasten, wir fühlen, wir beobachten – das alles kommt von außen. Aber was uns von außen an Reizen übermittelt wird, das deutet und das interpretiert die Seele. Die Seele bemächtigt sich des Materials, das von außen an uns herangetragen wird, durchdringt es und beherrscht es.

Man spricht von seelischer Energie, und das ist ja nicht falsch. Aber die Energie der Seele ist eine andere als die Bewegungsenergie, zum Beispiel wenn ich den Arm hebe, etwas anderes auch als die chemische Energie bei chemischen Reaktionen, etwas anderes als die elektrische Energie. Es ist eine Energie immaterieller Art. Es gibt eine solche Energie, aber sie ist anders als die mechanische Energie, die Gesetzmäßigkeiten untersteht. Das menschliche Bewusstsein ist nämlich geleitet von Absichten und Zwecken, und diese Absichten und Zwecke sind der freien Persönlichkeit anvertraut; sie lassen sich nicht aus Reizen erklären. Die Reize mögen diese Absichten und Zwecke anregen, aber sie sind nicht imstande, sie zu determinieren. Die chemischen Vorgänge sind andere als die seelisch-energetischen Vorgänge. Das Gehirn ist nicht eine letzte Ursache für das, was der Mensch tut und was er denkt und was er schafft und arbeitet, sondern das Gehirn ist ein Werkzeug, dessen sich die Seele bedient, um die Vorgänge im Leibe oder auch im Geiste zu steuern.

Eine einfache Überlegung zeigt schon, dass das Gehirnvolumen, also das Gewicht des Gehirns, nicht ausschlaggebend ist für die seelische Tätigkeit. Man hat bei bekannten und berühmten Persönlichkeiten das Gehirn gewogen und kommt da zu ganz erstaunlichen Ergebnissen. Cromwell, der berühmte Lordprotektor von England, hatte ein Gehirngewicht von 2.231 Gramm. Bismarck dagegen hatte nur 1.807 Gramm Gehirngewicht. Der Philosoph Kant hatte ein Gehirngewicht von 1.650 Gramm, und der große Dante Alighieri nur 1.420 Gramm. Es haben auch zwei Forscher das Gehirngewicht von Studenten untersucht und berechnet und festgestellt, dass die Intelligenz in keiner Weise von der Größe oder von der Kleinheit des Gehirns abhängig ist. Das Bewußtseinsleben des Menschen lässt sich nicht aus bloß reizbedingtem physiologischem Geschehen erklären. Natürlich nehmen wir die Gestalten wahr. Ich sehe zum Beispiel ein Haus, aber was ich jetzt aus diesem Gesicht mache, das ist eine Wirkung der Seele. Ich sage: Das ist ein Einzelhaus, oder das ist ein Reihenhaus, oder das ist ein großes Mietshaus. Das eben ist die Arbeit der Seele. Die Seele nimmt die Reize auf und verarbeitet sie, und sie tut etwas hinzu zu dem, was da gesehen oder gefühlt wird. Oder ich habe vor mir ein Kind. Ich stelle fest, es ist ein männliches Kind von drei Jahren. Diese Arbeit der Seele wird nicht vom Reize dem Menschen aufgezwungen, sondern der Reiz wird vom Menschen seelisch verarbeitet.

Die Eigentätigkeit der Seele zeigt sich besonders in der Phantasie. Phantasie ist ja das schöpferische Vermögen, mit dem der Mensch sich in andere als die gegebenen Situationen hineinzudenken vermag. Phantasie ist die Bedingung schöpferischer Arbeit. Welche Phantasie, welche Kraft der Phantasie muss am Werke gewesen sein, als Johann Wolfgang von Goethe Faust I und Faust II schuf! Das hat er sich ausgedacht, aber doch nicht durch Reize, die von außen kamen, sondern durch die innere Kraft seiner Seele. Oder welche Phantasie war nötig, als Ludwig van Beethoven die 3. Sinfonie schuf, die Eroica! Natürlich hat er Napoleon verherrlichen wollen, denn das war ja die Absicht damals, als er die Sinfonie schrieb, aber wie er ihn verherrlicht hat, das war seine eigenen Leistung, das war die Kraft seiner Seele. Oder denken wir etwa, wenn ein Architekt ein Haus entwirft. Der Entwurf entsteht in seinem Kopfe, er entsteht in seiner Seele, und dann legt er ihn auf dem Reißbrett nieder.

Denken wir auch an die Leistungen des Gedächtnisses. Wenn wir uns etwas Sinnvolles einprägen wollen, zum Beispiel ein Gedicht, dann ist das viel leichter möglich, als wenn wir die gleiche Summe von Worten, die sinnlos sind, uns einprägen möchten. Es zeigt sich eben, dass die Tätigkeit des Gehirns nicht mit dem geistigen Schaffen des Menschen zusammenfällt. Es ist ein Moment da, das über diese Gehirntätigkeit hinausführt, und das nennen wir Seele.

Außerdem ändert sich der Mensch in wenigen Jahren. Die Gehirnsubstanz ist in wenigen Jahren eine ganz andere, und doch wissen wir noch, was vor 10, 12, 15, 20, 50 Jahren geschehen ist. Weil die Seele eben über dem Gehirn steht, weil sie über das Gehirn hinausgeht, weil sie eine Macht ist, die sich des Gehirns bedient. Ähnlich ist es mit dem Gefühls- und Strebevermögen des Menschen. Das ist niemals identisch mit dem bloßen Reiz. Hier kommt eine eigene seelische Subjektivität zum Durchbruch, die durch physische oder physiologische Vorgänge nicht zu erklären ist. Ich will Ihnen ein Beispiel geben. Es ist jemand in Urlaub geflogen, und dann trifft bei den Zurückbleibenden ein Telegramm ein: Auf den Malediven angekommen. Jedermann freut sich: Auf den Malediven, auf diesen Inseln, angekommen, um einen Urlaub zu genießen. Aber wenn jetzt das Telegramm heißt: Auf den Malediven umgekommen, dann schrickt jeder zusammen und ist betrübt und verfällt in Trauer. Ja, kann sich das erklären aus der einfachen Tatsache, dass zwei Buchstaben bei beiden Telegrammen sich unterscheiden? Es ist unerklärlich, wenn hier nicht eine seelische Komponente mitspielt, die eben genau weiß, welcher ungeheure Unterschied ist, ob man irgendwo ankommt oder ob man irgendwo umkommt. Die Seele arbeitet hier weit über den Reiz, der von diesen beiden Worten des Telegramms ausgeht, hinaus.

Erst recht reißt sich der Mensch im Denkvermögen von seiner Umgebung los und erweist sich jedem bloßen Eindruck, der von außen kommt, überlegen. Der Mensch vermag begrifflich zu denken. Er vermag Begriffe zu schaffen. Ich will Ihnen das erklären. Sie alle haben, sehen, kennen viele Bücher; aber jedes Buch ist ein einzelnes. Der Begriff „Buch“ kommt in der Wirklichkeit nicht vor; es kommen nur einzelne Bücher vor. Aber der Mensch vermag sich von den einzelnen Büchern loszulösen, zu abstrahieren, wie man das nennt, und zu dem Begriff „Buch“ vorzudringen. Also ein Gegenstand, der aus vielen Seiten besteht, zusammengebunden ist und mit einem Titel versehen ist. Oder denken wir einen anderen Begriff: Tuberkulose. Wir kennen tuberkulöse Menschen. Wir wissen, wie Tuberkulose entsteht, wie sie fortschreitet, wie sie vielleicht geheilt werden kann. Aber die Tuberkulose als solche kommt nirgends vor. Es gibt immer nur tuberkulöse Menschen. Die medizinische Wissenschaft jedoch erarbeitet den Begriff Tuberkulose, indem sie aus den vielen Fällen tuberkulöser Menschen das Gemeinsame der Krankheit zusammenfaßt. Das ist eine eigene geistige Leistung, eine Leistung der Seele, die nicht mit den verschiedenen, in der Erfahrung vorfindlichen tuberkulösen Persönlichkeiten zusammenfällt.

Auch ist dem Menschen gegeben, Zukünftiges zu ahnen. Wir ahnen, wie sich ein Mensch entwickeln wird. Wir ahnen, wie eine Politik fortschreiten wird. Wir ahnen, wie unser Leben unter bestimmten Bedingungen sich verhalten wird. Dieses Ahnen ist nur dem Menschen gegeben. Es ist ihm gegeben, weil er in seiner Seele eine Kraft besitzt, die ihn zu Ahnungen befähigt.

Eine andere Tätigkeit der Seele, die niemals von mechanischen Wirklichkeiten ausgesagt werden könnte, ist die Reflexion auf sich selbst. Der Mensch kann über sich selbst nachdenken. Das kann kein Tier; das kann kein Affe. Das kann nur der Mensch. Der Mensch ist fähig, sich auf sich selbst zurückzubeziehen. Und diese Reflexion auf sich selbst ist einer der durchschlagendsten Beweise für die Existenz und für die Geistigkeit der Seele. Vor Jahrtausenden, meine lieben Freunde, hat der weise Grieche Sokrates einmal geschrieben: „Die Seele denkt dann am besten, wenn nichts Körperliches sie stört, weder Gehör noch Gesicht noch ein Schmerzgefühl noch ein Lustgefühl, sondern wenn sie sich soviel wie möglich auf sich selbst beschränkt, ohne Rücksicht auf den Körper und möglichst ohne Gemeinschaft und Berührung mit ihm dem wirklich Seienden zustrebt.“ Was Sokrates hier aussagt, das ist eben der Adel und die Reinheit des Geistes, der in Innerlichkeit und Selbständigkeit zur Erkenntnis rein geistiger Inhalte finden kann.

Am vollendetsten tritt die Unmöglichkeit, die Seele mit körperlichen Vorgängen zusammenfallen zu lassen, im freien Willen zutage. Wir alle wissen, und damit ringen wir ja jeden Tag, wir könnten uns so oder anders entscheiden. Wir könnten früh liegen bleiben im Bett, oder wir könnten in die heilige Messe gehen. Wir könnten bei Tisch uns vollschlagen, oder wir könnten uns auch beherrschen. Das alles ist uns gegeben. Der Mensch hat die Fähigkeit, sich auch gegen naturhafte Triebe zur Wehr zu setzen, sie zu beherrschen und zwischen ihnen auszuwählen. Das zeigt seine Überlegenheit, das zeigt die Überlegenheit der Seele über die naturhaften Reize. In der Tätigkeit des freien Willens ist eine Spontaneität, die sich nicht auf den Zwang von Reizen zurückführen lässt. Der Mensch hat die Fähigkeit zur Selbstinitiative, zur Selbstbestimmung, die nur aus dem Geist zu erklären ist.

Und so ist es schließlich auch bei all den hohen Tätigkeiten, die der Geist entworfen hat, in Wissenschaft, Kultur. Das alles lässt sich nur durch die Tätigkeit, durch die Kraft und durch die Intensität der Seele erklären. Der Mensch erschafft sich auch eine Weltanschauung, weil er den Gedanken „Gott“ denken kann. Gott begegnet ja nicht unseren Reizen, aber der Mensch vermag sich aus der Schöpfung zum Schöpfer zu erheben. Das ist eine schlußfolgernde Tätigkeit, die die Seele leitet. Das Wesen der Seele ist eine geistige Kraft, eine selbständige Kraft, eine unzerstörbare Kraft zu sein. Allen materialistischen Bestrebungen zum Trotz ist die Seele die einzige unter allen lebenden Entelechien, die den Namen Geist beanspruchen kann. Unsere Seele ist Geist, und ihr Geschehen ist geistiges Geschehen. Die Alten haben den schönen Satz formuliert: „Mens agitat molem“ – der Geist bewegt die Masse. Und dieser Satz ist wahr. Er wird bestätigt durch die Wissenschaft, er wird bestätigt durch die vorurteilsfreie Wissenschaft, er wird bestätigt durch unsere Suche nach Wahrheit. Mens agitat molem – Der Geist bewegt die Masse.

Amen.

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