Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  

Predigtreihe: Natur und Übernatur (Teil 9)

11. Mai 2003

Das Spannungsverhältnis zwischen kämpfen und dulden

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Das Christentum ist die Religion der leidenden Liebe, daran ist gar kein Zweifel, denn das Symbol des Christentums ist das durchbohrte Herz. Die Christen rufen voll Dankbarkeit: „Wir beten dich an, Herr Jesus Christus, und benedeien dich, denn durch dein heiliges Kreuz hast du die Welt erlöst.“ Das Christentum ist die Religion der leidenden Liebe. Aber das war unsere Frage am vergangenen Sonntag: Hat denn in dem Christentum, der Religion der leidenden Liebe, auch die Freude eine Stelle? Ja, gibt es im Christentum auch die Möglichkeit, zu genießen und Lust zu empfinden? Denn das ist eine Spannung zwischen Leiden und Freude, zwischen Lust und Qual. Wir hatten gesehen, diese Spannung ist vorhanden, aber sie ist auflösbar.

Nun ist noch eine zweite Spannung zu beobachten, nämlich die Spannung zwischen kämpfen und dulden. Ist das Christentum nur die Religion des Duldens, des Hinnehmens? Hat nicht ihr Gründer gesagt: „Wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann reiche ihm auch noch die linke hin, und wenn dir einer den Mantel nimmt, dann laß ihm auch noch den Rock“? Ist das nicht Pazifismus in Hochkultur? Hat das Christentum nur die Möglichkeit eröffnet, zu dulden, oder gibt es auch die Möglichkeit, ja die Pflicht, zu kämpfen? Wenn wir diese Frage beantworten wollen, müssen wir auf unser Vorbild, auf unseren Herrn und Heiland Jesus Christus schauen. Er hätte im Ölgarten Scharen von Engeln zu sich rufen können, wenn er gewollt hätte; aber er wollte nicht. „Meint ihr nicht“, so sagt er den Jüngern, „daß ich zwölf Legionen Engel rufen könnte, die mir helfen? Aber wie soll dann der Wille des Vaters erfüllt werden?“ Er hat also im Ölgarten geduldet. Und doch hat er sich gegen die Bluttaufe gewehrt: „Wenn es möglich ist, laß diesen Kelch an mir vorübergehen“, obwohl er doch gesagt hatte: „Wie drängt es mich, die Taufe zu empfangen, bis ich sie empfangen habe!“ Der Herr hat sich verteidigt, als der Knecht des Hohenpriesters ihn ungerechterweise schlug. „Habe ich unrecht geredet, so beweise es mir, habe ich aber recht geredet, warum schlägst du mich?“ Er hat das Recht angerufen gegen das Unrecht. Er hat also nicht schweigend und duldend das Unrecht hingenommen.

Wenn wir diese unterschiedlichen Verhaltensweisen unseres Herrn verstehen wollen, müssen wir auf seine Grundentscheidung schauen, müssen wir seine seelische Haltung beachten, und wenn wir diese Haltung uns vor Augen führen, kommen wir zu drei Sätzen, nämlich erstens: Es gibt einen Kampf aus Haß, zweitens: Es gibt einen Kampf aus Angst und drittens: Es gibt einen Kampf aus Liebe.

Es gibt einen Kampf aus Haß; das wissen wir nur allzu deutlich aus unserem Leben. Der Haß ist eine weit verbreitete Erscheinung. Was will der Haß? Der Haß will rauben, will wegnehmen, will vernichten, will zerstören. Der Haß ist Vernichtungswille. Er ist nicht nur die Abwesenheit der Liebe, er ist die Verneinung der Liebe, er ist die Verleugnung der Liebe, er ist Verrat an der Liebe. Ein Kampf, der aus Haß geführt wird, ist deswegen den Christen ausnahmslos und immer verboten. Weil jeder Haß böse ist, ist auch der Kampf, der aus dem Haß hervorgeht, unzulässig. Wo ein Haßwille ist, ist immer eine Schuld. Für ein von Haß erfüllte Seele gibt es keinen erlaubten Kampf.

Der Haß kann sich in verschiedener Weise zeigen. Er kann sich der Gewalt, der brutalen Gewalt bedienen, er kann aber auch zu subtileren Mitteln greifen. Man kann auch mit dem Recht, mit Rechtsschikanen einen Feind vernichten. Der Haß kann sich äußern, indem man den Gruß verweigert, er kann aber auch zu Schimpfworten, ja zu Schlägen führen. Der Haß ist eine weit verbreitete Erscheinung, und wo immer und wann immer er sich in Handlungen umsetzt, bringt er eine Schuld mit sich. Der Christ muß lieber Unrecht leiden als Unrecht tun. Wenn man einen Angreifer nicht anders als mit Haß und mit Haßgesinnung zurückweisen kann, dann muß man darauf verzichten. Es gibt einen Kampf aus Haß.

Es gibt aber auch einen Kampf aus Angst. Das ist vielleicht der häufigste Kampf, den Menschen führen. Die Angst ist allgegenwärtig. Die Menschen haben Angst um ihr Leben, Angst vor dem Tode, Angst, in einen Nachteil zu geraten, Angst, wichtige Werte zu verlieren. Aus dieser Angst wehren sie sich, und das ist richtig, das ist notwendig, das ist ein Instinkt, der im Menschen lebt, nämlich der Instinkt zur Selbsterhaltung. Man darf sich selbst erhalten, man darf um Selbsterhaltung kämpfen. Das Christentum hat immer die Notwehr heiliggesprochen. Es ist möglich, den ungerechten Angreifer zurückzuweisen. Auch der Kampf, den Familien oder Völker führen, kann berechtigt sein, ein Kampf aus Notwehr kann eine Tat hochstehenden Gemeinschaftswillens sein, und ein solcher Kampf ist berechtigt.

Freilich muß der Instinkt mit dem sittlichen Willen ein Bündnis eingehen. Man darf sich bei der Abwehr nicht dem Instinkt überlassen, man muß sich fragen: Bin ich berechtigt, in diesem Falle zum Kampf zu greifen? Darf ich mich in diesem Falle wehren? Ich will Ihnen zwei Beispiele geben. In meiner Kindheit hatte ich eine Mitschülerin, die zum Reichsarbeitsdienst eingezogen wurde und sich dort, bei den schlechten Verhältnissen, eine lebenslange Krankheit zuzog. Man verweigerte ihr zunächst eine Rente, aber sie hat so lange gekämpft, vor Gericht gekämpft, bis sie die Rente erstritten hatte, und sie war berechtigt dazu, denn das Leiden ging auf diesen Einsatz im Reicharbeitsdienst zurück. Ein zweites Beispiel: Vor anderthalb Jahren besuchte mich ein Herr, der sich als Missionar aus Peru ausgab. Er sei auf der Rückreise, morgen reise er wieder ab, und er wolle doch seinen Seelsorgsanvertrauten helfen. Er wolle eine Pumpe einbauen in dem Dorfe, wo er als Seelsorger tätig sei, und da brauche er noch Geld. Ich gab ihm 500 Mark. Wenig später sprach ich mit einem Kollegen, der mir erzählte, der Missionar sei auch bei ihm gewesen, und da habe er gesagt, er sei nicht in Peru, sondern in Equador, also in einem anderen lateinamerikanischen Lande. Schließlich erfuhr ich, daß ein dritter Kollege ebenfalls den Besuch dieses Herrn gehabt hatte und schließlich ein vierter in Tübingen. Ich entschloß mich, auf dem Polizeipräsidium in Mainz Erkundigungen einzuholen. Dort legte man mir Bilder vor; ich erkannte sofort meinen Besucher. „Ja, der ist uns bekannt“, sagte der Kriminalpolizist, „der ist uns bekannt, das ist ein bekannter Betrüger.“ Nach einem halben Jahr rief mich derselbe Mann wieder an, aber unter einem anderen Namen. Er hatte vergessen, welchen Namen er bei seinem ersten Besuch gebraucht hatte. Ich sagte ihm: „Sie haben sich doch als Schüller vorgestellt, und nun nennen Sie sich Stoffels.“ Ich glaube, daß es berechtigt war, zur Polizei zu gehen und den Fall namhaft zu machen. Und doch sind mir nachher Zweifel gekommen. Ich habe mir gedacht: Das ist ein armer Teufel; Geld braucht er. Er hat es zwar betrügerisch erschlichen, aber er ist in Not, denn er ist nicht seßhaft, er reist umher und lebt von der Hand in den Mund. Wie immer es sein mag, es gibt Fälle, in denen man sich wehren darf und vielleicht auch wehren muß. Es gibt Fälle, wo das Recht verletzt wird und wo man um der Gerechtigkeit willen den Kampf aufnehmen muß. Aber es darf dieser Kampf nicht entarten. Es darf sich nicht der Haß einmischen. Es darf auch nicht die Selbstsucht bestimmend sein. Der Selbsterhaltungswille darf nicht zu einer gemeinen Selbstsucht werden, und der Naturinstinkt darf nicht übersteigert oder überspannt werden. Man darf nicht aus Machtgier oder aus Mißtrauen gegen den anderen zu der Abwehr treiben. Gerade das Mißtrauen ist eine große Gefahr, eine Gefahr, die manchmal sogar erst das Übel herbeiruft, gegen das man sich wehren möchte. Es gibt einen Kampf aus Haß; es gibt einen Kampf aus Angst.

Es gibt aber auch drittens einen Kampf aus Liebe. Ja, kann denn die Liebe kämpfen? Heißt es nicht im Korintherbrief: „Die Liebe duldet alles?“ Kann die Liebe kämpfen? Die Liebe kann kämpfen, weil sie dem Herrn und Meister ähnlich ist, der aus Liebe für die Seinen gekämpft hat. Wenn wir sein Leben anschauen, dann sehen wir, daß er, der die Liebe in Person war, gekämpft hat für die Seinen. Er hat den Kampf geführt gegen das Unrecht, gegen die falschen Lehren der Pharisäer. Er hat gekämpft gegen die äußeren Feinde seines Volkes, nämlich, die ihnen den Himmel versprachen durch falsche Lehren. Er hat gekämpft gegen die Verführung, er hat gekämpft gegen die Ärgernisse, weil er die Seinen geliebt hat und sie geliebt hat bis zum Ende. Deswegen hat er für sie gekämpft. Er hat auch gegen die inneren Feinde seiner Lieben gekämpft. Die inneren Feinde sind diejenigen, die den Menschen umgarnen. Das sind die Feinde, die ihn zu krankhaftem Mißtrauen aneifern. Das sind diejenigen, die im Inneren Haßgefühle gegen andere haben. So hat Jesus gegen die inneren Feinde seiner Freunde gekämpft. Als er dem Knecht sein Handeln verwies, da hat er um die Seele dieses Mannes gerungen. Er ahnte oder wußte, daß in ihm noch ein Funke von Gerechtigkeitsgefühl war, und deswegen hat er ihn gefragt: „Warum schlägst du mich?“ Er wollte dieses Gerechtigkeitsgefühl aufwecken. Er hat auch gerungen um die Seele des Judas. „Wehe dem Menschen, durch den der Menschensohn verraten wird! Es wäre ihm besser, es würde ihm ein Mühlstein um den Hals gehängt und er würde in die Tiefe des Meeres versenkt.“ Er hat gerungen um die Seele dieses Mannes, dieses Apostels, dieses Judas.

So müssen auch wir ringen gegen die äußeren Feinde derer, die uns anvertraut sind, und gegen die inneren Feinde. Wir verwechseln leicht die Gegnerschaft gegen eine verkehrte Seelenhaltung mit dem Kampf gegen den Träger dieser Haltung. Die verkehrte Seelenhaltung dürfen und sollen wir ablehnen, aber den Menschen dürfen wir nicht hassen. Wir dürfen den Beleidiger Gottes nicht hassen, den Sünder, wir dürfen den Beleidiger, der gegen uns vorgegangen ist, nicht hassen, und wir dürfen schon gar nicht die hassen, die anderer Meinung sind als wir. Wir müssen ihre falsche Meinung bekämpfen, aber wir dürfen sie nicht hassen. Wir müssen sie lieben. Deswegen sagt der Herr: „Liebet eure Feinde!“ Man kann nicht auf des Messers Schneide leben, entweder man haßt oder man liebt; eine bloße Neutralität gibt es nicht. Deswegen müssen wir die Feinde lieben.

Gewiß, die Liebe kann kämpfen; sie muß auch manchmal dulden. Sie muß vielleicht häufig dulden. Wenn der Kampf zum Ärgernis wird, dann muß die Liebe dulden. Wenn der Kampf größeren Schaden, größeres Unheil hervorruft als Nutzen, dann muß man den Kampf unterlassen. Wenn der Kampf aussichtslos ist, dann muß man ihn einstellen. Das war ja das große Verbrechen des Mannes, der zwölf Jahre lang an der Spitze Deutschlands stand, daß er den aussichtslosen Kampf nicht einstellte. Percy Ernst Schramm, der Tagebuchführer im Führerhauptquartier, ist der begründeten Meinung, daß Hitler im Frühjahr 1942 wußte, daß der Krieg verloren war, und doch hat er ihn noch drei Jahre weitergeführt mit unendlichen Verlusten, mit unermeßlichen Schäden. Das war ein falscher Kampf von Anfang an und erst recht, als er aussichtslos geworden war.

Die Liebe muß einem raten, was zu tun ist, ob man kämpfen muß oder ob man dulden muß. „Liebe nur“, sagt der heilige Augustinus, „liebe nur, und dann magst du tun, was du willst, du wirst immer das Richtige treffen.“ Wenn wir wirklich Liebe haben zu unserer Familie, dann werden wir wissen, wann wir für diese Familie kämpfen müssen und wann wir für sie dulden müssen. Wenn wir wirklich Liebe haben zu unserem Volke, dann werden wir wissen, wie wir uns zu anderen Völkern verhalten müssen. Wenn wir wirklich Liebe haben zu unseren Kindern, zu unseren Zöglingen, zu den uns Anvertrauten, dann wisse wir, wann wir ihnen widerstehen müssen, wann wir ihnen Hartes zumuten müssen wie ein Arzt, dann werden wir aber auch wissen, wann wir ertragen müssen, wann wir ihnen etwas ersparen können und wann wir etwas auf uns selbst nehmen müssen. Wenn wir Liebe haben zu uns selbst, dann werden wir wissen, wann wir ein Kreuz tragen müssen und den Leidenskelch austrinken müssen und wann wir uns gegen das Leiden wehren dürfen.

 Unsere Zeit und unsere Welt ist verworren,  meine lieben Freunde, und es gibt in dieser Welt nur ein einziges Licht, das ist die Liebe. Es gibt nur einen einzigen Mut, und das ist der Mut der Liebe, nämlich der Großmut. Es gibt nur einen einzigen heiligen Krieg, das ist der Kampf der Liebe. Und es gibt nur einen einzigen Heldentod, das ist der Opfertod der Liebe.

Amen.

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