Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  

Predigtreihe: Die Zehn Gebote (Teil 16)

3. November 2002

Die Pflicht zu Wahrheit und Wahrhaftigkeit (8.)

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Der materielle Besitz, das Eigentum, ist notwendig für unser leibliches Leben. Es gibt aber auch einen immateriellen, einen geistigen Besitz, und er ist notwendig für unser geistiges Leben. Dieser geistige Besitz sind die Wahrheiten, Erkenntnisse, Ideale, Werte, die in unserer Seele leben. Der geistige Besitz ist ähnlich befestigt wie der materielle Besitz: Ich habe meine Wahrheiten, die Wahrheiten, die ich erkannt habe; ich habe meine Tugenden, die Tugenden, die ich errungen habe. Ich habe meine Erkenntnisse, die Erkenntnisse, die ich erworben habe. Diese geistigen Besitztümer sind uns auch zur Verwaltung übergeben, ähnlich wie die materiellen Besitztümer. Wir sollen sie verwalten als gute Verwalter Gottes zum eigenen Nutzen und zum Nutzen der anderen.

Diese geistigen Besitztümer sind von Gott geschützt durch ein eigenes Gebot, und das lautet: „Du sollst kein falsches Zeugnis geben!“ So, wie das Gebot klingt, ist es auf einen bestimmten, sehr praktischen und sozial wichtigen Fall eingeschränkt, nämlich die Ablegung von Zeugnis, vor allem vor Behörden, vor dem Gericht. Aber der Sinn dieses Gebotes geht weit darüber hinaus. Er fordert eine Gesinnung der Wahrhaftigkeit, er fordert ein Stehen zur Wahrheit. Es läßt sich der Sinn dieses Gebotes in zwei Sätze zusammenfassen,

1. Du sollst die Wahrheit nicht unterdrücken und

2. Du sollst die Wahrheit nicht mißbrauchen.

Der erste Satz lautet: Du sollst die Wahrheit nicht unterdrücken. Solche Versuche zur Unterdrückung sind außerordentlich häufig. Wir Menschen neigen dazu, anderen die Wahrheit, den Wahrheitsgewinn zu versagen, wenn wir fürchten, daß dadurch unser Einfluß, unser Prestige, unsere Macht schwindet. Wir wollen andere hindern, zur Wahrheit zu kommen, weil wir dadurch selbst einen Verlust an Persönlichkeitskredit, an Privilegien, an Vorrechten fürchten. Dieser Versuch, Menschen daran zu hindern, die Wahrheit zu finden, ist außerordentlich verbreitet. Er ist vor allem im Bereich der Politik zu Hause, aber auch bei den Massenmedien ist es gang und gäbe, daß die Wahrheiten verheimlicht, unterdrückt werden daß die Menschen nicht zur Erkenntnis kommen sollen. Wahrheit ist Teilnahme an der Wirklichkeit, geistige Teilnahme an der Wirklichkeit. Immer, wenn wir eine Wirklichkeit erfassen, begreifen, schauen, dann erwerben wir eine Wahrheit. Und daran suchen Menschen in großer Zahl andere zu hindern, weil sie Verlust an Einfluß, an Ansehen, an Macht befürchten.

Die Wahrheit kann aber auch in einer anderen Weise unterdrückt werden, nämlich indem man Menschen hindert, der erkannten Wahrheit zu folgen. Die Verfolger des Christentums aller Zeiten haben versucht und versuchen, die Christen daran zu hindern, der christlichen Wahrheit ihr Leben zu weihen. Aber viel gefährlicher, weil viel tückischer als die gewaltsame Unterdrückung der Wahrheit ist der Versuch, durch verführerische und schmeichlerische Reden die Menschen daran zu hindern, der Wahrheit zu folgen. Das sind alle jene, die Zweifel in die Gewissen werfen. Das sind alle die, welche die Menschen, die der Wahrheit folgen, lächerlich machen, irre machen an der Wahrheit. Das sind alle diejenigen, welche den Zweifel in die Seelen säen, damit sie der erkannten Wahrheit nicht folgen. Man hört diese Reden im Büro und an der Arbeitsstätte, auf Wanderungen und Fahrten: Das kann doch keine Sünde sein, das tun doch alle, das ist doch eine Forderung der Menschennatur und der Humanität. Die solches tun, unterdrücken die Wahrheit, weil sie die Menschen hindern, der erkannten Wahrheit zu folgen.

Besonders gefährlich ist dieser Versuch der Unterdrückung, wenn er im Namen der Wahrheit selbst geschieht, wenn sich diejenigen, welche die Menschen hindern wollen, der Wahrheit zu folgen, auf Gerechtigkeit, auf Humanität, auf Freiheit berufen, wenn sie – und das kommt vor – die Religion gegen den Glauben ins Feld führen und auf diese Weise die Menschen hindern wollen, der erkannten Wahrheit zu folgen. Sie verstecken ihre erbärmlichen Ziele hinter hehren Begriffen, aber im Inneren sind sie nur darauf aus, die Menschen zu hindern, der Wahrheit zu folgen.

Die äußeren Versuche, die Wahrheit zu unterdrücken, wären freilich wenig gefährlich, wenn es nicht auch die innere Versuchung gäbe, die Wahrheit zu ersticken. Auch wir spüren in uns die Versuchung, die erkannte Wahrheit wegzureden, wegzudiskutieren: Das kann doch nicht sein, das kann doch Gott nicht geboten haben, das kann doch die Kirche nicht wollen, das kann doch nicht den Menschen auferlegt sein. In der jüngsten Zeit hat sich eine merkwürdige Weise, die erkannte Wahrheit zu unterdrücken, herausgebildet. Sie besteht darin, daß man sagt: Alles, was beschwerlich ist, kann Gott nicht geboten haben. Ein Gebot ist so lange erträglich, als es nicht weh tut. Sobald es anfängt weh zu tun, sucht man dieses Gebot wegzureden, sucht man es wegzudiskutieren, sucht man es zu entschärfen.

Es ist merkwürdig, meine lieben Freunde, wie wenige Menschen es gibt, die sich nichts vormachen. Die meisten Menschen gebrauchen den Verstand, um sich selbst zu rechtfertigen, um sich selbst zu entschuldigen, um sich selbst etwas einzureden. Es ist eine schlimme Weise, den Verstand zu gebrauchen, wenn man ihn dazu benützt, um das zu rechtfertigen, was man gern tun möchte und nicht tun darf, oder was man schon getan hat, obwohl man es nicht hätte tun dürfen. Da ist ein gesundes Mißtrauen gegen uns selbst angebracht. Wir müssen uns selbst prüfen, ob nicht unsere Meinungen, vor allen Dingen wenn sie zu unserem Vorteil sind, zu diesem Zweck erfunden sind, ob nicht unsere Einsichten den einzigen Zweck haben, erkannte Pflichten wegzudiskutieren, unbequeme Erkenntnisse abzuleugnen, eigene Fehler und Schwächen und Sünden zu entschuldigen, als unerheblich hinzustellen.

Dagegen setzte sich das Christentum, setzt sich die Kirche zur Wehr. Der Apostel Paulus mahnt uns, vor dem Hintreten zur heiligen Kommunion uns zu prüfen. „Darum prüfe sich der Mensch.“ Er prüfe seine Einsichten, seine Ansichten, seine Motive, seine Entschlüsse. Er prüfe sich, und er schaue mit Mißtrauen auf sich. Er soll sich verurteilen, ob er nämlich würdig ist, dieses heilige Geheimnis zu empfangen. Deswegen lehrt uns die Kirche, an die Brust zu klopfen und zu sagen: „Ich bin nicht würdig“ und die Schuld zu bekennen: „Durch meine Schuld, durch meine übergroße Schuld.“ Deswegen mahnt sie, sich im Bußsakrament zu prüfen und ein Bekenntnis abzulegen und durch die Handauflegung des Priesters, durch das Machtwort, das der Priester im Namen Gottes spricht, sich reinigen zu lassen von seiner Schuld. Das ist der erste Teil des Gebotes: Du sollst die Wahrheit nicht unterdrücken.

Der zweite lautet: Du sollst die Wahrheit nicht mißbrauchen. Ja, ist denn das möglich, die Wahrheit zu mißbrauchen? Warum ist es möglich? Wieso ist es möglich? Es ist deswegen möglich, meine lieben Freunde, weil die Wahrheit in unsere Hand gegeben ist, weil die Wahrheit unser innerer, unser seelischer Besitz ist, weil wir ein Bewußtsein haben, in das niemand eindringen kann, kein Mensch, keine Kreatur, wenn wir nicht die Tür unseres Herzens öffnen. Wir sind imstande, unsere Seelenbewegungen, unsere Erkenntnisse, unsere Willensentschlüsse im Herzen zu verbergen, und niemand darf willkürlich und selbstsüchtig in dieses Heiligtum eindringen. Nur Rücksichten der Gerechtigkeit oder der Liebe, nur der Befehl und das Gebot Gottes könnten uns veranlassen, das Tor zu unserem Bewußtsein zu öffnen.

Ich bin überzeugt, daß dieses Geheimnis des Bewußtseins für uns Menschen unerläßlich ist; zunächst einmal für uns selbst. Wir müssen uns eine innere Welt aufbauen, eine innere Kultur, eine Pflege des Inneren, und das muß eben im Kämmerlein des Bewußtseins, verborgen vor den anderen Menschen, vor sich gehen. Aber das Verschlossensein im Bewußtsein ist auch notwendig um des Zusammenlebens willen. Was wäre, meine lieben Freunde, wenn ein jeder in der Seele des anderen lesen könnte, was er im Augenblick denkt und will und beabsichtigt? Das Zusammenleben wäre unerträglich. Deswegen hat Gott in weiser Voraussicht dafür gesorgt, daß es ein unveräußerliches Menschenrecht gibt, nämlich das Bewußtsein zu bewahren, das Wissen, das wir in uns tragen, für uns zu behalten, solange nicht höhere Rücksichten, Ansprüche der Liebe und der Gerechtigkeit oder ein Gebot Gottes uns befehlen, es mitzuteilen.

Es gibt Geheimnisse, die besonders geschützt sind. Das ist das anvertraute Geheimnis, wenn uns jemand etwas unter dem Siegel der Verschwiegenheit unterbreitet. Es gibt das Berufsgeheimnis, das mit der beruflichen Tätigkeit zusammenhängt. Es gibt das Amtsgeheimnis von Amtspersonen. Es gibt das Beichtgeheimnis des Priesters, das auch bei Todesgefahr verpflichtet und niemals und unter keinen Umständen gebrochen werden darf. Der Grund für dieses Geheimnis ist, wie ich sagte, die innere Kultur, ist das Zusammenleben unter Menschen, das eben unerträglich wäre, wenn jeder willkürlich und selbstsüchtig in das Geheimnis des anderen eindringen könnte.

Und weil das Geheimnis unseres Bewußtseins so gewichtig ist, müssen wir auch sorgsam damit umgehen. Wir müssen umsichtige Verwalter des Geheimnisses sein. Wir dürfen es nicht jedem offenbaren. Wir müssen überlegen, wem, wann und wie wir die Geheimisse unseres Bewußtseins weitergeben. Mancher empfindet ein gewisses Unbehagen, wenn er höflich ist, denn sein Besucher ist vielleicht lästig oder gleichgültig oder widerwärtig. Aber diese Höflichkeit ist keine Lüge. Man spricht hier von konventioneller Lüge, aber es ist dies keine Lüge, sondern wer aus Verantwortung die Höflichkeit gegenüber unliebsamen Personen bewahrt, der geht sorgsam um mit der Wahrheit. Das ist ein uns befohlener Umgang mit der Wahrheit, und erst recht gilt das gegenüber den Menschen, die uns als Vorgesetzten oder als Nahestehenden anvertraut sind. Auch hier muß man mit großer Umsicht zu Werke gehen, wenn man ihnen etwas offenbart, muß überlegen, was man sagt. Da ist ein beherrschtes Schweigen, eine kluge Rücksicht, eine liebende Überlegung unbedingt notwendig, um nicht andere zu verletzen, zu entmutigen, zum Zorn zu reizen. Ja, vor allen Dingen wenn wir von Rachedurst erfüllt sind, wenn uns der Zorn überwältigt, wenn wir dem anderen einmal die Wahrheit sagen möchten, dann ist höchste Gefahr, und dann muß man besonders wachsam sein, was man über seine Lippen kommen läßt, denn dann ist die Gefahr vorhanden, einen anderen zu stören, zu zerstören, zum Haß, zur Verzweiflung zu bringen. Man darf nicht jedem Menschen alles sagen, was man ihm sagen möchte. Man muß schweigen aus Verantwortung, aus Liebe, aus Gerechtigkeit. Ich weiß es, meine lieben Freunde, es ist manchmal ein Widerstreit zwischen Aufrichtigkeit und Barmherzigkeit, zwischen Ehrlichkeit und Rücksicht, aber dieser Zwiespalt muß durchgestanden werden. Wir müssen versuchen, beides zu vereinigen, aufrichtig zu sein und barmherzig, ehrlich und rücksichtsvoll, um auf diese Weise unsere Gemeinschaft vor Schaden zu bewahren. Ja, nicht nur unsere Gemeinschaft, auch uns selbst. Im Buch von der Nachfolge Christi steht der inhaltsschwere Satz: „Sooft ich unter Menschen gewesen bin, bin ich als weniger Mensch zurückgekehrt.“ Das will sagen: Oft, wenn wir zu Menschen gehen, haben wir uns ausgegossen, haben wir unüberlegt, haben wir hartherzig dahergeredet, und dadurch sind wir selbst ärmer geworden. „Sooft ich unter Menschen gewesen bin, bin ich als weniger Mensch zurückgekehrt.“

Freilich gilt auch, daß wir die Wahrheit in uns tragen, um sie mitzuteilen. Wir haben auch eine Verantwortung für das Verschenken der Wahrheit. Gott hat uns die Sprache gegeben als Mittel der Verständigung, damit wir die Wahrheit anderen mitteilen. Das muß uns selbstverständlich eine heilige Pflicht sein, die Wahrheit, die andere brauchen, die andere nötig haben, mit der wir anderen dienen können, zu vermitteln. Wir dürfen die Wahrheit nicht aus selbstsüchtigen Gründen anderen vorenthalten: Wenn er das erfährt, dann wird er mir gefährlich. Wir dürfen sie nicht aus selbstsüchtigen Gründen vorenthalten. Wir dürfen auch die Wahrheit nicht trüben, indem wir als Wahrheit ausgeben, was keine Wahrheit ist. Wir nennen das Lüge. Der Philosoph Kant hat einmal das Wort gesagt: „Die Lüge ist der eigentlich faule Fleck in der menschlichen Natur.“ Und in einem Psalm steht das furchtbare Wort: „Jeder Mensch ist ein Lügner.“ Alles, was unsere Vertrauenswürdigkeit, was die Vertrauenswürdigkeit unserer Selbstoffenbarung mindert, ist gegen das 8. Gebot. Wir sollten uns hüten, unsere Lippen, auf denen der Leib des Herrn geruht hat, zu entweihen durch die Lüge.

Wir müssen  auch vorsichtig umgehen, wenn wir andere Menschen beurteilen. Es kann sein, daß einer als wahrhaftig erscheint und tatsächlich in seinen Reden keine offenkundige Lüge tut, aber er versteht es so, die Wahrheit zu verbergen, daß er doch innerlich und innerlichst verlogen ist. Ein anderer, der vielleicht aus Phantastik, aus Romantik, aus Unbeholfenheit oder aus Angst die Wahrheit verbirgt, kann ein ganz wahrhaftiger Mensch sein, aber durch Überrumpelung sagt er etwas Falsches aus. Es ist also große Vorsicht am Platze, wenn wir andere Menschen der Lüge zeihen. Wir selbst aber sollten sorgsame Verwalter der Wahrheit sein. Ein Engel sollte an der Schwelle unseres Herzens Wache halten über alles, was in unsere Seele eingeht an Wahrheit von Gott oder von den Menschen, aber auch über alles, was aus unserer Seele ausgeht an Wahrheit, an Zeugnissen, an Aussagen zu den Menschen. Dieser heilige Engel sollte uns vor jedem unnützen Wort bewahren, er sollte uns auch zur Mitteilung der Wahrheit veranlassen, wann immer es notwendig und angebracht ist. Ja, eigentlich müßten zwei Engel an unseren Lippen und an unserem Herzen stehen, ein heiliger Cherub mit flammendem Schwert und ein heiliger Seraph mit flammendem Herzen.

Amen.

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