Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  

Predigtreihe: Die Zehn Gebote (Teil 5)

28. Juli 2002

Das Beten und Flehen zu Gott (2.)

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Wir haben am vergangenen Sonntag gesehen, daß das zweite Gebot Gottes von uns verlangt, den Namen Gottes würdig auszusprechen. Wir dürfen uns auf Gott berufen, aber wir dürfen seinen Namen nicht vergeblich nennen. Wir dürfen uns auf den allwissenden, auf den helfenden, auf den schaffenden Gott berufen, aber es muß in einer gotteswürdigen Weise sich vollziehen. Nun wird der Name Gottes in tausendfach verschiedener Weise angerufen. Selbst der Atheist, der sich rühmt, von Gott nichts wissen zu wollen, selbst der Atheist spricht den Namen Gottes aus, manchmal laut und gehässig, manchmal leise und bange, wenn er inne wird um das Geheimnis des Todes und der eigenen Begrenztheit. Der Christ aber, der an Gott glaubt, der sich Gott übergeben hat, der Gott geweiht ist, spricht den Namen Gottes glaubend, hoffend und liebend aus. Er spricht ihn ehrfurchtsvoll und zärtlich aus. Er spricht ihn im Gebet aus; denn das Gebet ist nichts anderes als das Nennen des Namens Gottes über uns, das Nennen des Namens Gottes über unserem armseligen Leben in dreifach verschiedener Weise, nämlich als verlangendes, als empfangendes und als leidendes Gebet.

Die Gebete der Menschen sind verschieden. Der eine betet am liebsten, wenn er allein ist. Der andere kommt erst richtig in Fahrt in einer betenden Gemeinde. Der eine betet stundenlang, der andere begnügt sich mit einem stillen Gebet am Abend. Der eine kann am besten beten in der Kirche, ein anderer ist bei Gott und betet, während er über den Marktplatz geht und im Gedränge der Menschen ist. Der eine findet in den Psalmen alles, was er Gott sagen möchte, ein anderer formuliert selbst Gebete, die ihn zu Gott tragen sollen. Alle diese können vollkommene Beter sein, wenn sie beten im Geist und in der Wahrheit. Das Gebet im Geist und in der Wahrheit ist jenes Gebet, das Gottes Namen ehrfurchtsvoll und vertraulich nennt. Wer immer in Ehrfurcht und Vertrautheit Gottes Namen anruft, der betet. Wenn Gott ihm begegnet, wenn er Gott anerkennt, wenn er Gott verehrt, wenn er Gott liebt, dann betet er. Aber wie gesagt, das Gebet ist mannigfaltig. Es kann ein verlangendes, es kann ein empfangendes und es kann ein leidendes Gebet sein.

Ein verlangendes Gebet spricht derjenige, der sich bedrängt weiß. Und wer von uns ist denn nicht zumindest dann und wann in Bedrängnis? Ein jeder spürt doch seine Enge und seine Armut. Selbst der stolze und selbstgewisse Mensch hat Stunden oder Tage oder Jahre, in denen er an seine Grenzen kommt und weiß: Ich kann nicht mehr weiter, ich muß meine Zuflucht nehmen zu Gott. Und wenn einer auch selbst nicht bedrängt wäre, es sind so viele Menschen seiner Umgebung, die bedrängt sind und für die er beten kann und beten soll. Das verlangende Gebet ist ein Ausstrecken der Arme nach Gott, das Betteln eines Kindes, ein aus der Bedrängnis kommendes Rufen zum Vater der Lichter. Wie sollten wir ihn nicht anrufen, der barmherzig und allmächtig ist? Wie sollten wir nicht zu ihm rufen, der das Weltgeschehen und die Naturgesetze in seiner Hand hält? Wie sollten wir nicht zu ihm rufen, der den Plan für uns seit Ewigkeit gemacht hat und in diesen Plan unsere Gebete eingezogen hat, der den Lauf der Welt so bestimmt hat, daß unsere Gebete dabei berücksichtigt, ja sogar erhört sind, sofern sie der Erhörung würdig und fähig sind?

Wir dürfen und sollen um das tägliche Brot beten. Aber vor dieser Bitte kommen drei andere Bitten, nämlich: „Geheiligt werde dein Name! Dein Reich komme! Dein Wille geschehe!“ Diese Bitten kommen zuerst, und sie sollten auch in unserem verlangenden Beten die erste Stelle einnehmen. Erst die Sache Gottes und dann unsere Sache. Erst die Anliegen Gottes und dann unsere Anliegen. Erst die Not Gottes und dann unsere eigene Not. „Geheiligt werde dein Name!“ Auch durch mich soll er geheiligt werden. Auch ich will deinem Namen Ehre bereiten. Ich will deinem Namen keine Schande machen; dein Name soll nicht meinetwegen gelästert werden. Er soll gepriesen werden durch mein Verhalten, durch mein Leben, durch meine Tugenden. „Zu uns komme dein Reich!“ Dein Reich der Erlösung und der Gnade, es komme zu uns auch durch mich. Auch ich will an deinem Reiche mitarbeiten. Ich will die Menschen meiner Umgebung ernähren, erheben, fördern. Dein Reich soll auch durch mich vorangebracht werden. „Dein Wille geschehe!“ O, das ist vielleicht die schwerste dieser drei Bitten. Denn es soll ja nicht immer der Wille Gottes geschehen; wir wollen vielmehr, daß unser Wille geschehe. Und da heißt es eben, auf den eigenen Willen verzichten. Da heißt es, den eigenen Willen Gott übergeben: Nicht wie ich will, sondern wie du willst! Das ist das Gebet, das ein echtes verlangendes Beten ist: Nicht wie ich will, sondern wie du willst. Das verlangende Gebet ist der Erhörung sicher, wenn es im Geiste Christi, in der Gesinnung Christi, in der Verbindung mit Christus dem Vater vorgetragen wird. Wenn es noch unrein ist, wenn es noch vermengt ist mit kleinlicher Selbstsucht, dann muß es erst gereinigt werden, bevor Gott es erhören kann. Aber wenn immer das Gebet in Vereinigung mit Christus an den Vater im Himmel gerichtet wird, dann ist es der Erhörung gewiß.

Dann wird das verlangende Gebet zum empfangenden Gebet. Das empfangende Gebet ist ein Offensein, eine Empfänglichkeit, eine Aufgeschlossenheit für Gottes Schickungen und Schenkungen. Es ist eine Feinhörigkeit auf Gottes Einsprechungen. Es ist ein Lauschen auf die inneren Stimmen. Es ist ein Offenhalten der Augen für Gottes Kommen, ob er nun kommt als unbegreiflicher Fremdling oder als süßer Gast der Seele. Das empfangende Gebet ist ein Erwarten Gottes in seine Offenbarungen, in Natur und Übernatur, in Geschichte und Sakrament, in der Kirche und im alltäglichen Leben. Das empfangende Gebet ist ein Warten auf Gottes Kommen, ein Stehen auf Bergen, um das erste Kommen, das erste Erscheinen Gottes zu erspähen. Es ist eine innere Bereitschaft, Gott aufzunehmen, wann immer er kommt, ob als unbegreiflicher Fremdling oder als süßer Gast der Seele. Und wenn Gott dann kommt, dann nimmt ihn die Seele auf, dann ist sie voll Freude und Dankbarkeit. Da wird das empfangende Gebet zum Dank.

Es ist merkwürdig, und wer die Gebete der heiligen Messe mit Aufmerksamkeit mitbetet, weiß darum, daß wir in jeder Messe, auch in der Totenmesse, angehalten werden zu beten: „Es ist würdig und recht, dir immer und überall zu danken.“ Immer – also auch in der größten Not. Überall – also auch im Gefängnis oder auf der Intensivstation. „Es ist würdig und recht, dir immer und überall zu danken.“ Wir sollen danken für alle Gaben, Gnaden und Wohltaten, und das tun wir ja gern, wenn wir uns bei Gott dankbar zeigen für all das, was er uns getan hat. Ich will den Kelch des Heiles nehmen und dir danken für alles, was du mir getan hast. Wie süß bist du, o mein Herr! Aber wir sollen auch danken für die Bitterkeiten, für den bitteren Kelch, den er uns reicht. Es hat einmal einen Heiligen gegeben, Camillus, der viel in seinem Leben an Krankheiten gelitten hat. Aber er bezeichnete seine Krankheiten als die „Erbarmungen Gottes“. Seine Leiden empfand er also als Liebesgrüße von Gott. Erbarmungen Gottes nannte er seine Krankheiten. Und es hat einen anderen Heiligen gegeben, Johannes Chrysostomus, der seine Bischofsstadt Konstantinopel verlassen mußte, vertrieben, in die Verbannung geführt wurde. Er mußte alles zurücklassen, seine Herde, seine Gemeinden, seine Priester und ist in der Verbannung gestorben. Aber seine letzte Worte waren: „Gott sei Dank für alles!“ Also auch für die Verbannung, also auch für den Verlust seines Bistums. Gott sei Dank für alles! Das ist das empfangende Gebet. Es weiß sich Gott schuldig für alles, was Gott schickt oder schenkt, für alle Fügungen und Führungen, aber auch für alles Leid und allen Schmerz, den Gott uns zufügen läßt.

Und da wird das empfangende Gebet zum leidenden Gebet. Das leidende Gebet erhebt sich zunächst einmal aus dunkeln Tiefen. „De profundis clamavi ad te.“ Aus der Tiefe, Herr, rufe ich zu dir. Und welches ist diese Tiefe? Das ist die Tiefe unserer Schuld. Das ist unser Schuldbewußtsein, das uns zwingt, in Reue uns Gott zuzuwenden. Wir haben ja heute im Evangelium des Tages das ergreifende Beispiel eines Mannes vor Augen geführt bekommen, der sich seiner Schuld bewußt war. Der Zöllner blieb von ferne stehen. Er ging nicht in die Nähe des Heiligtums. Aus der Ferne betete er. Er erhob die Augen nicht zum Himmel. Er hat sich nicht als würdig angesehen, den Himmel zu erblicken. Er senkte den Blick nach unten. Und er schlug sich an die Brust, das heißt er erkannte, daß er Strafe verdient hatte für seine Sünden, daß er strafwürdig war, weil er Schuld auf sich geladen hatte. Sein Beten war dann ganz einfach, er hat keine vielen Worte gemacht: „O Herr, sei mir Sünder gnädig!“ Wahrhaftig, wer so betet, der ist in das leidende Gebet eingedrungen, der hat begriffen, daß es ein leidendes Gebet, ein Gebet, das aus dem Leiden kommt, geben muß.

Wenn es auch nicht immer die Schuld ist, die uns zum Gebet antreibt, so entdecken wir doch in unserem Herzen so vieles, was Gott und uns mißfällt. Wir entdecken unsere Opferscheu, unsere Flucht vor dem Leiden, unsere geringe Liebe gegenüber Gott und den Menschen. Wir entdecken unsere Schwächen und unsere Armseligkeiten. Wir haben am letzten Sonntag gesagt: Was muß Gott alles sehen, wenn er in unser Herz, wenn er in mein Herz schaut! Was muß Gott da alles sehen! Und wahrhaftig, da wird das leidende Beten zu einem Kampf mit sich selbst, da wird es zu einer Scham und zu einer Schwäche, da wird es zu einem hinknienden Beten, zu einer unstillbaren Bangigkeit: O Gott, ich müßte mich eigentlich selbst verwerfen, und obwohl ich mich selbst verwerfen muß, verwirf du mich nicht! Verwirf mich nicht, obwohl ich mich selbst verwerfen muß!

Aber das leidende Gebet steigt noch eine Stufe höher. Das ist das Gebet des Gottverlassenen, der am Kreuze hängt, der von allen Kreaturen aufgegeben ist und nun auch von Gott verlassen wird. „Gott, mein Gott, wie hast du mich verlassen!“ Da ist der Name Gottes in die Gottesferne hineingerufen worden, und da hat der Name Gottes die Gottesferne ausgefüllt, und da ist in der Gottesferne der Name Vater für Gott ausgerufen worden: „Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist.“ Ach, meine lieben Freunde, da ist die letzte und endgültige Liebe auf das abgründigste Leid, auf die äußerste Verlassenheit gegründet worden. Da ist der furchtbare Gott von einem liebenden Kind besiegt worden. Da sind die Schranken des Todes beseitigt worden durch das liebende Lächeln eines Gemarterten. Da weiß man, und seitdem weiß man es, daß die Liebe nicht nur stärker ist als der Tod und die Hölle, daß die Liebe selbst stärker ist als der allmächtige Gott. Denn diese Worte des Gottverlassenen sind durch das Himmelstor gedrungen, sind zum Throne Gottes gelangt und haben dort die Erlösung bewirkt.

Darum hat der Herr auch die letzten Worte laut gesprochen. Während seines irdischen Lebens betete er einsam auf Bergen in der Mitternacht, aber hier spricht er laut die sieben letzten Worte. Er spricht sie, damit wir sie hören, damit sie in unser Herz dringen, damit wir die Gesinnung, die aus ihnen spricht, nachahmen. Einmal muß das Beten laut werden. Das Beten eines frommen Menschen hat immer etwas Ergreifendes an sich. Wenn man ein Kind beten sieht, ein Kind, das wirklich zu beten versteht, da hat man den Eindruck: Das ist etwas Ähnliches wie ein Engel. Und auch ein Erwachsener, der in seiner Sammlung und Gehaltenheit, in seiner Ehrfurcht und Stille betet, der hat etwas Schönes, etwas Ergreifendes an sich. Aber was ist alle äußere Schönheit gegenüber der Kraft und der Macht, die in solchem Beten liegt! Da flüstert einer den Namen Gottes, und dieses Flüstern dringt in die Unendlichkeit, und es kommt zu Gott, und Gott hört es, und Gott antwortet. Da entsteht ein Zwiegespräch, ein Zwiegespräch zwischen Gott und der Seele. „Ich habe dich bei deinem Namen gerufen“, sagt Gott, und der, der da gerufen ist, spricht: Mein Gott bist du, in deiner Hand sind meine Geschicke. Ich bin dein. Wie verfügst du über mich?

Wenn Gottes Name so ausgerufen wird, da ist das zweite Gebot vom Sinai aufgehoben, weil es erfüllt ist, weil es nicht mehr verletzt werden kann. Da hört Gott seinen Namen so, wie er ihn hören will, nämlich aus liebendem Herzen und aus ehrfürchtigem Munde. Da wird Gottes Geist selbst betend im Herzen des Menschen und ruft mit unaussprechlichen Seufzern: „Abba, lieber Vater.“

Amen.

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