Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  

Predigtreihe: Die Heilsbedeutung Mariens (Teil 13)

12. Mai 1996

Die Freiheit Mariens von der Erbsünde

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Die Auserwählung und Weihung Mariens durch Gott drückt sich in wenigen Tatsachen deutlicher aus als in ihrer Freiheit von der Erbsünde und von der ungeordneten Begierlichkeit. Es ist ein Glaubenssatz unserer Kirche: „Maria ist im ersten Augenblick ihres Daseins durch eine besondere Gnade des allmächtigen Gottes im Hinblick auf die Verdienste Christi, des Erlösers, von jeder Makel der Erbsünde frei geblieben.“ Dieser Glaubenssatz wurde von Papst Pius IX. am 8. Dezember 1854 verkündet. Seitdem feiern wir am 8. Dezember das Fest der Unbefleckten Empfängnis. Der Text der päpstlichen Definition vom 8. Dezember 1854 lautet folgendermaßen: „Zur Ehre der heiligen, ungeteilten Dreifaltigkeit, zur Zierde und Verherrlichung der jungfräulichen Gottesgebärerin, zur Erhöhung des katholischen Glaubens und zum Wachstum der christlichen Religion erklären, verkünden und bestimmen Wir in Vollmacht unseres Herrn Jesus Christus, der seligen Apostel Petrus und Paulus und in Unserer eigenen: Die Lehre, daß die seligste Jungfrau Maria im ersten Augenblick ihrer Empfängnis durch einzigartiges Gnadengeschenk und Vorrecht des allmächtigen Gottes im Hinblick auf die Verdienste Christi Jesu, des Erlösers des Menschengeschlechtes, von jedem Fehl der Erbsünde rein bewahrt blieb, ist von Gott geoffenbart und deshalb von allen Gläubigen fest und standhaft zu glauben.“

Wenn man diese Glaubenswahrheit verstehen will, muß man sich erst einmal klarmachen, was die Erbsünde ist und welches die Folgen der Erbsünde sind. Maria, so heißt es, ist um ihrer einzigartigen Stellung willen in einzigartiger Weise erlöst worden. Sie blieb von der Erbsünde und von den Folgen der Erbsünde bewahrt. Die Erbsünde ist also ebenso zu erklären wie die Folgen der Erbsünde. Nach dem ursprünglichen Plan Gottes sollten die Menschen vom ersten Augenblick ihres irdischen Daseins an mit dem göttlichen Leben, mit der Gnade beschenkt sein. Die Vermittlung des irdischen Lebens sollte zusammenfallen mit der Beschenkung des himmlischen Lebens. Aber dieser ursprüngliche Plan Gottes wurde durch den Unglauben und den Ungehorsam der ersten Menschen zerstört. Seit dieser Tat der Ursünde treten alle Menschen nicht im Zustand der Begnadung, sondern im Zustand der Gnadenberaubtheit in das Leben. Ihnen fehlt, wenn sie in diese Welt eintreten, das göttliche Leben. Sie treten im Zustand der Erbsünde ins Dasein. Dieser Zustand heißt Sünde, weil er dem göttlichen Willen widerspricht.

Es ist dies keine persönliche Sünde, sondern es ist ein sündhafter Zustand, der durch Erbschaft (nämlich von Adam her) den Menschen vermittelt wird. Der Zustand der Gnadenberaubtheit ist ein Widerspruch zum göttlichen Heilswillen und kann und muß deswegen als Sünde bezeichnet werden.

Der Mensch wird von diesem unseligen Zustand befreit durch die Taufe und den Glauben. Es kann sich in uns manchmal ein gewisser Widerstand gegen den Glaubenssatz von der Erbsünde regen. Wir fragen: Was kann der einzelne dafür, daß Adam gesündigt hat und daß er deswegen jetzt im Zustand der Gnadenberaubtheit ins Leben tritt? Aber wir müssen diese Wahrheit annehmen, weil sie von Gott geoffenbart ist, und wir dürfen zu unserem Troste hinzufügen: Gott hat von vornherein auch vorausgesehen und vorausbestimmt, daß der Zustand der Gnadenberaubtheit beseitigt und aufgehoben werden kann. Er hat also auch gleichzeitig mit dem Gesetz der Erbsünde die Möglichkeit der Befreiung geschaffen, eben durch Glauben und Taufe.

Die Folgen der Erbsünde sind Verdunkelung des Verstandes, Schwächung des Willens, vor allem aber die ungeordnete Begierlichkeit. Die ungeordnete Begierlichkeit ist die im Menschen vorhandene Neigung, immerfort in Selbstherrlichkeit sich gegen Gottes Willen zu behaupten und durchzusetzen, also der Anreiz zur Sünde, den wir alle nur zu gut kennen. Das ist das Wesen der ungeordneten Begierlichkeit. Fortwährend muß der Mensch kämpfen, um das Gute durchzusetzen. Er sieht das Gute, und er tut das Böse; er möchte das Gute wollen, und er will das Böse. Die Gegensätzlichkeit gegen Gott, die in der Erbsünde liegt, setzt sich fort in der Gegensätzlichkeit im Menschen. Die rechte Ordnung zu Gott ist gestört, aber auch die rechte Ordnung im Menschen. Da gibt es den Widerstreit zwischen Vernunft und Willen, den Widerstreit zwischen Geist und Fleisch, den Widerstreit zwischen Höherem und Niederem, der uns allen aus Erfahrung nur allzu gut bekannt ist.

Maria blieb von der Erbsünde und von den Folgen der Erbsünde verschont. Im ersten Aufglimmen ihres Lebens war sie in der Gnade Gottes. Sie brauchte nicht von der Erbsünde befreit zu werden, weil sie von der Erbsünde bewahrt blieb. Sie hat niemals die ungeordnete Begierlichkeit in sich gespürt, also den Widerwillen gegen Gottes Gebote. Niemals ist aus den Tiefen ihres Selbst die Versuchung zur Sünde aufgestiegen; niemals hat sie in eine persönliche Sünde eingewilligt.

Da kann man die Frage erheben: Besteht denn dann noch eine wirkliche Beziehung zu uns, die wir Sünder sind und Sünder waren, die wir mit der Sünde zu ringen haben? Schon der heilige Ambrosius fragte einmal: Wie kannst du denn Maria uns als Vorbild hinstellen, die wir ja gar nicht nachahmen können? Nun, meine lieben Freunde, auch Maria blieben Kämpfe nicht erspart. Auch Maria mußte sich fortwährend dem Willen Gottes entsprechend emporringen zu immer höherer Bereitschaft und Liebe. Maria hatte dunkle Stunden und Leidvolles auszustehen. Ihre von Anfang an vorhandene Bereitschaft, Gottes Willen zu erfüllen, steigerte sich. Ihr Leben war ein ständiger Anstieg zu Gott, bis es auf dem Hügel Golgotha angekommen war, um das Kreuz ihres Sohnes zu ertragen. Maria war auch eine heimgesuchte Frau, und insofern steht sie uns nahe.

Die Lehre von der Unbefleckten Empfängnis wird offensichtlich von vielen Menschen mißverstanden. Sie meinen, sie sage etwas aus über den Zustand der Eltern und über den Vorgang der Empfängnis, in dem Maria ins Leben trat. Das ist ein totales Mißverständnis. Der Glaubenssatz von der Unbefleckten Empfängnis beschäftigt sich mit den Eltern Mariens und mit dem Zeugnungsvorgang überhaupt nicht. Weder haben die Eltern Mariens etwas Besonderes vorausgehabt vor anderen Eltern, noch ist der Zeugungsvorgang, bei dem Maria entstand, vor anderen Zeugungsvorgängen besonders geadelt gewesen, sondern der Glaubenssatz hat es allein zu tun mit der Gnadenausstattung Mariens, mit Freiheit von der Erbsünde. Und diese Freiheit wurde ihr geschenkt allein aus Gnade. Auch Maria gehört zu dem Geschlecht Adams; auch Maria ist ein Glied der unerlösten Menschheit gewesen; auch Maria mußte erlöst werden. Sie konnte sich nicht selbst erlösen. Den Traum der Selbsterlösung hat sie nie geträumt. Sie mußte von Gott erlöst werden, aber sie wurde auf eine einzigartige Weise erlöst. Sie wurde dadurch erlöst, daß sie von der Erbsünde bewahrt blieb. Wir haben immer die Empfindung, erlöst könne man erst werden, wenn man vorher in der Sünde gelebt hat. Das haben jahrhundertlang auch die Theologen gemeint, und deswegen war es so schwer, zu der Erkenntnis von der Erbsündenfreiheit Mariens vorzudringen. Die Theologen, vor allem aus dem Dominikanerorden, wandten gegen die Lehre von der Unbefleckten Empfängnis, die vor allem von den Franziskanders vorgetragen wurde, immer wieder ein: Wie soll das möglich sein, daß jemand erlöst wird, der nicht vorher in der Unerlöstheit gelebt hat? Da haben zwei Franziskaner-Theologen die Wahrheit gefunden, nämlich Wilhelm von Ware, ein Engländer, und Johannes Duns Scotus, ein Schotte. Diese beiden Theologen um die Wende zum 14. Jahrhundert haben den Begriff der Vorerlösung geprägt. Man wird normalerweise erlöst, nachdem man sich die Sünde zugezogen hat. Aber es gibt eine besonders vollkommene, eine ganz radikale Form der Erlösung, und die besteht darin, daß man die Sünde, die man sich an sich zuziehen müßte, nicht zuzieht. Maria ist die Vollerlöste, sie ist die Ersterlöste, sie ist die Radikalerlöste, weil sie am Anfang des Erlösungswerkes Jesu Christi steht. Um ihrer einzigartigen Stellung willen wurde sie in einzigartiger Weise erlöst.

Diese Erklärung, die den beiden genialen Theologen Wilhelm von Ware und Johannes Duns Scotus zu verdanken ist, hat dann ihren Weg durch die Geschichte gemacht und sich zu immer größerer Klarheit entfaltet. Im 15. Jahrhundert hat z.B. Papst Sixtus IV. verboten, daß man etwas gegen die Unbefleckte Empfängnis schreibt. Er hat die Messe von der Unbefleckten Empfängnis und das Stundengebet von diesem Geheimnis eingeführt. Das Konzil von Trient hat schon andeutungsweise von dieser Wahrheit gesprochen, wenn es sagt: „Es ist nicht die Absicht dieser Kirchenversammlung, in dieser Lehrbestimmung, wo von der Erbsünde die Rede ist, die selige, unbefleckte Jungfrau Maria und Gottesgebärerin einzuschließen, sondern die Konstitutionen von Sixtus IV. bleiben zu beobachten unter den Strafen, die darin enthalten sind.“ Und ebenso hat das Konzil nicht nur die Erbsündenfreiheit Mariens angedeutet, sondern auch ihre Freiheit von persönlicher Sünde. „Wer behauptet, der einmal gerechtfertigte Mensch könne während des ganzen Lebens alle, auch die läßlichen Sünden meiden ohne besonderes von Gott verliehenes Vorrecht, wie es die Kirche von der seligsten Jungfrau lehrt, der sei ausgeschlossen.“

So hat sich also, geleitet vom Heiligen Geist, diese Wahrheit in der Kirche allmählich durchgesetzt, bis der Schlußpunkt erreicht war am 8. Dezember 1854. Die Lehre wurde schon vorher geglaubt, nur hatte man nicht die Gewißheit, daß es eine von Gott geoffenbarte Wahrheit ist. Das ist oft in der Kirche so, daß wir Lehren festhalten, die noch nicht die letzte Gewißheit von der Kirche erhalten haben, nämlich im Offenbarungsschatz der Kirche enthalten zu sein.

Die Wahrheit von der Unbefleckten Empfängnis hat auch Stützen in der Heiligen Schrift. Die erste Stütze ist das sogenannte Proto-Evangelium, das erste Evangelium, nämlich die Stelle Genesis 3.15. Dort spricht Gott zu der Schlange: „Feindschaft will ich setzen zwischen dir und der Frau, zwischen deiner Nachkommenschaft und ihrer Nachkommenschaft. Sie wird dir den Kopf zertreten, du aber wirst sie an der Ferse verletzen.“ Auf wen geht diese Textstelle? Nun, nach der übereinstimmenden Meinung der Kirchenväter ist unter den Nachkommen der Frau, also Evas, Christus zu verstehen. Er ist der Nachkomme, der der Schlange, d.h. dem Satan, den Kopf zertritt, der den Satan überwindet und besiegt. Aber mit dem Schlangentreter, mit Christus, in inniger Verbindung steht natürlich seine Mutter. Sie ist heilsgeschichtlich auf das engste mit ihm vereinigt. Und wegen dieser innigen Verbindung kann man von ihr nicht aussagen, daß sie jemals der Schlange unterlegen sei, daß sie jemals in einem sündhaften Zustand (Erbsünde) gelebt habe oder in eine persönliche Sünde gefallen sei. Also das Proto-Evangelium aus der Genesis gibt auch eine Andeutung, daß Maria von der Erbsünde bewahrt worden ist.

Die zweite Stelle ist im ersten Kapitel des Lukas-Evangeliums enthalten, wo es heißt: „Sei gegrüßt, du Gnadenvolle, der Herr ist mit dir!“ Das Wort „du Gnadenvolle“ ist wohl zunächst von der Auserwählung Mariens zu verstehen. Sie ist die Gnadenvolle, weil sie die Mutter des Erlösers sein sollte. Ihre Erwählung zur Mutter des Logos ist darin ausgedrückt. Aber da folgt gleich der zweite Satz: „Der Herr ist mit dir.“ Der Engel macht also Maria eine Mitteilung von Gott, daß sie in der Gemeinschaft mit Gott steht, daß Gott in einer besonderen Gemeinschaft mit ihr steht. Eine besondere Gemeinschaft mit Gott ist nicht denkbar, wenn man in der Sünde lebt. Deswegen ist anzunehmen, daß dieses Wort des Engels gleichzeitig eine Aussage ist über ihre besondere, alle anderen Menschen übertreffende Begnadung. So können wir also ruhig weiter im Ave Maria beten: „Du bist voll der Gnaden.“ Maria ist nicht nur auserwählt, sondern sie ist auch von der heiligmachenden Gnade beschenkt wie keine andere unter den Evastöchtern.

Die Frömmigkeit hat sich des Glaubenssatzes von der Unbefleckten Empfängnis vielfältig angenommen. Wir beten in der Lauretanischen Litanei von Maria: „Du unbefleckte Mutter, du unversehrte Mutter.“ Unbefleckt bedeutet, mit keiner persönlichen Sünde behaftet, unversehrt besagt, auch nicht mit der Erbschuld beladen. Außerdem kommt noch einmal eine ausdrückliche Aussage: „Königin, ohne Erbsünde empfangen.“ Sie wurde in die Lauretanische Litanei eingeführt, als das Dogma im vorigen Jahrhundert verkündet wurde. Aber ich sagte schon, viel früher hat die Unbefleckte Empfängnis bereits im Frömmigkeitsleben der Kirche eine große Rolle gespielt. Der heilige Fourier, ein französischer Priester in Lothringen, hat am Ende des 16. Jahrhunderts seinen Pfarrangehörigen geboten, jeder solle an die Haustür oder an die Stalltür schreiben: „Maria ist ohne Erbsünde empfangen.“ Dieser Verehrung der unbefleckt Empfangenen wird es zugeschrieben, daß diese Pfarrei von den Verheerungen des Krieges, der Plünderung, von Mord und Vergewaltigung verschont blieb. Die selige Bernadette Soubirous hat in Lourdes Maria als die Unbefleckte Empfängnis, als unbefleckt Empfangene geschaut, und wir alle wissen, daß die selige Jungfrau als die unbefleckt Empfangene jene ist, von der wir immer wieder bekennen: „Ganz schön bist du, Maria, der Erbschuld Makel ist nicht an dir.“

Amen.

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