Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  

Predigtreihe: Jesus, Gottes Sohn (Teil 1)

21. Februar 1993

Das Erkenntnisleben Jesu

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

 

Geliebte im Herrn!

Vor einiger Zeit fand an der Mainzer Universität ein Vortrag über theologische Gegenstände statt. Im Anschluß an den Vortrag entwickeltes sich eine Diskussion, und dabei ging es um das Wort des Evangeliums: „Es sind einige von den Herumstehenden, die den Tod nicht kosten werden, bis sie den Menschensohn kommen sehen in seiner Herrlichkeit.“ Der Menschensohn ist aber bis dahin nicht gekommen. Da sieht man's ja, sagte der eine katholische Theologieprofessor, Jesus hat sich geirrt. Ein anderer versuchte zu erklären, wie diese Stelle zu verstehen sei. Da warf ihm der erste vor: „Willst du Jesus reinwaschen?“

So ist die Lage unter katholischen Theologieprofessoren im Jahre des Heiles 1993. Meine lieben Freunde, wir wollen Jesus kennenlernen, um ihn mehr lieben zu können. Man kann nur lieben, was man kennt, und je besser man etwas kennt, je besser man einen wertvollen Menschen kennt, um so mehr kann man ihn lieben. Und so wollen wir den heutigen Sonntag und die folgenden Sonntage dem Bemühen widmen, Jesus kennenzulernen, Jesus vor allem natürlich in seiner menschlichen Natur. Der heutige Sonntag soll uns dazu dienen, über das Erkenntnisleben Jesu nachzudenken, über das menschliche Erkenntnisleben Jesu. Wir wissen, Jesus ist der vom Himmel herabgekommene Sohn Gottes. Er ist der Logos, das Wort Gottes. Aber dieses Wort existiert auf Erden in zwei Naturen, in einer göttlichen und in einer menschlichen Natur. Der Logos denkt, weiß, liebt und will in der göttlichen Natur auf göttliche Weise. Er denkt, weiß, liebt und will in der menschlichen Natur auf menschliche Weise.

Nun ist freilich das Erkenntnisleben Jesu ein undurchdringliches Geheimnis. Aber das gläubige Nachdenken, die Forschung der gläubigen Theologen vor allem, hat manches von diesem Erkenntnisleben ausfindig gemacht, was von der Kirche bejaht und anerkannt wurde und auch gelehrt werden darf, ja muß. Die Allwissenheit Gottes kann selbstverständlich auf einen Menschen nicht übergehen. Ein Mensch ist nicht fähig, eine göttliche Seinsfülle in sich aufzunehmen. Aber dennoch muß das Wissen des Menschen Jesus, also Jesus in seiner menschlichen Natur, sehr weit gezogen und sehr hoch angesetzt werden. So lehren die gläubigen Theologen, daß Jesus in seiner menschlichen Natur die Gottesschau besitzt. Er weiß also, daß er der Sohn Gottes ist. Es ist ihm nicht verborgen, daß er vom Himmel herabgestiegen ist und daß er der Sohn des ewigen Vaters ist. Er will ja die Menschen zum Himmel führen, also muß er doch wohl wissen, was der Himmel ist. Was die außergöttlichen Dinge angeht, so schreiben ihm die gläubigen Theologen ein irrtumsfreies Wissen der gesamten Wirklichkeit zu. Man muß also den Kreis des Wissens sehr weit ziehen, denn Jesus ist ja als Mensch das Haupt der geschaffenen Dinge, das Haupt der Schöpfung, der Erstgeborene unter allen Brüdern. Und darum muß sein Wissen möglichst weit gezogen werden.

Ja, aber wie erklärt sich dann, wenn Jesus schon von vornherein so viel weiß, daß er auch Erfahrungen macht? Die Theologen unterscheiden zwei Arten des Wissens in Jesus, das eingegossene Wissen und das erworbene Wissen. Das eingegossene Wissen ist jenes, das ihm Gott geschenkt hat, das also nicht durch Erfahrung, durch Lernen, durch Beobachtung, durch Belehrung entstanden ist. Das erworbene Wissen dagegen ist durch Beobachtung, durch Belehrung, durch das Leben in Gemeinschaft erworben worden. Das eingegossene Wissen ist vorbewußt. Es ist also so ähnlich wie das Wissen, das ein Täufling hat. Ein kleines Kind, das getauft wird, bekommt die Glaubensgnade eingesenkt. Aber das mit dem geschenkten Habitus des Glaubens verbundene Wissen um Gott und die göttlichen Dinge ist noch gehalten. Es muß erst durch die Erfahrung, durch die Belehrung, durch die Predigt bewußt gemacht werden. Ähnlich-unähnlich ist es in Jesus. Durch die Erfahrung, durch das Erleben wird das, was vorbewußt ist, bewußt.

Diese Unterscheidungen, die ich eben vorführte, zwischen dem eingegossenen und dem erworbenen Wissen, zwischen dem zuständlichen und dem tatwirklichen, zwischen dem vorbewußten und dem bewußten Wissen helfen uns nun, die Vorgänge im Leben Jesu zu erklären, von denen in der Heiligen Schrift die Rede ist. So wird an erster Stelle gesagt: „Jesus nahm zu an Alter, Weisheit und Gnade vor Gott und den Menschen.“ Jesus ist also nicht nur körperlich gewachsen, er hat auch geistig zugenommen. Er hat Erfahrungen gemacht, und er ist belehrt worden. Es wurde ihm dadurch nichts Neues vermittelt, aber es wurde das, was ihm bisher nicht bewußt war, durch diese Erfahrungen und Belehrungen bewußt gemacht. Das muß ja so sein. Wenn er ein vollmenschliches Leben führen wollte, dann mußte auch sein Erkenntnisumfang wachsen. Ein Gehirn eines Kindes vermag nicht das zu leisten, was das Gehirn eines Erwachsenen zu leisten vermag. Die Sinne eines Kindes vermögen nicht die Bilder aufzunehmen, die die geschärften Sinne eines Erwachsenen zu liefern vermögen. So ist es auch bei Jesus. Jesus dachte als Kind mit einem Gehirn, wie es ein Kind hatte, und er sah mit den Augen und hörte mit den Ohren eines Kindes. Wie es die heutige Lesung so schön sagt: „Als ich ein Kind war, redete ich wie ein Kind, dachte wie ein Kind.“ Als dann Jesus heranwuchs, entwickelte sich sein Gehirn, es entwickelten sich seine Sinne, und damit war auch die Möglichkeit gegeben, daß er durch Sinneneindrücke und durch Geistestätigkeit, durch Verstandestätigkeit sein Wissen, sein Erfahrungswissen erweiterte. So allein ist die vollmenschliche Würde des Logos gewahrt. Er wollte als ein echter Mensch nicht als eine Livreepuppe, er wollte als ein echter Mensch durch dieses Leben gehen, und dazu gehörte eben auch das Wachstum an Weisheit und Wissenschaft und Erkenntnis.

Die zweite Schwierigkeit, die durch diese Unterscheidung gelöst wird, ist die, wenn es im Evangelium beispielsweise heißt: „Von jenem Tag und jener Stunde hat niemand Kenntnis, weder die Engel im Himmel noch der Sohn, sondern nur der Vater.“ Von jenem Tag aber und jener Stunde hat niemand Kenntnis, weder die Engel im Himmel noch der Sohn, sondern nur der Vater.  Hier spricht sich also Jesus, denn er ist ja der Sohn, hier spricht sich also Jesus die Kenntnis des letzten, entscheidenden Tages, nämlich des Einbruchs der Gottesherrschaft in Fülle und Macht, des Weltgerichtes, ab. Und warum? Weil der Vater offenbar wollte, daß sein Blick als Mensch gehalten war. Er sollte als Mensch nicht mit einem bewußten Wissen Kenntnis von dem letzten, entscheidenden Tage haben. Und hier setzt nun die Polemik ein, von der ich am Anfang meiner Predigt berichtet habe. Ja, hat sich denn Jesus getäuscht? Hat er sich denn geirrt, wenn er sagt: „Einige von denen, die hier stehen, werden den Tod nicht kosten, bis sie den Menschensohn in seinem Reiche kommen sehen“? Sie sind aber doch alle gestorben, und der Menschensohn ist nicht wiedergekommen.

Meine lieben Freunde, man muß zunächst die Eigenart der evangelischen Berichte bedenken. Es handelt sich hier um Aufzeichnungen von mündlich überlieferten Worten. Diese Aufzeichnungen wurden von Evangelisten zusammengestellt, und sie haben sie zusammengestellt nach Sinneinheiten, nach Stichwortzusammenhängen. Wie die einzelnen Teile nun in der Geschichte, also im Munde Jesu, wirklich zusammengehören, ist damit nicht ausgemacht. In diesem Falle hilft uns also tatsächlich einmal die formgeschichtliche Methode, Schwierigkeiten zu erklären. Wenn Jesus hier sagt, daß einige von den Umstehenden nicht sterben werden, bis sie den Menschensohn kommen sehen, muß also nicht auf die am Ende, in der Endzeit geschehene Wiederkunft Christi in Macht und Herrlichkeit gedeutet werden. Es kann auf ein anderweitiges Kommen Jesu bezogen sein, z.B. auf seine Auferstehung. Das ist auch ein Kommen in Herrlichkeit nach dem Zusammenbruch am Karfreitag. Das ist eine machtvolle Offenbarung seiner Gottheit, und sie haben ja nun tatsächlich einige von den Umstehenden erlebt.

Man kann auch denken an Geschehnisse der Weltgeschichte, die aber von Gott gelenkt wurden, etwas das Strafgericht über die Mörder Jesu, über die Stadt Jerusalem. Auch das ist ein Kommen Jesu, denn durch die Zuchtrute von Titus und seinem römischen Heer hat eben Gott gehandelt an den Christusmördern.

Die Sicht Jesu ist sodann eine prophetische. Was versteht man unter einer prophetischen Sicht? Ein Prophet sieht Ereignisse, die weit voneinander entfernt sind, in die Nähe gerückt. Es ist gleichsam so, wie man vor den Alpen steht. Wenn man hinaufschaut zu den Bergen, da erhebt sich ein Gipfel hinter dem anderen, und zwar außerordentlich nahe gerückt. Man denkt, sie sind benachbart. In Wirklichkeit sind zwischen den einzelnen Gipfeln tiefe Täler, kilometerlange Täler und Sattel. So ähnlich-unähnlich muß man sich das prophetische Bewußtsein vorstellen. Der Prophet sieht – und Jesus ist ja auch Prophet – sich selbst und künftige Ereignisse zusammen. So sieht Jesus sich selbst als den künftigen Richter und das Gericht, als den künftigen König und sein Königreich und das gegenwärtige Geschlecht als die Vertreter der Menschheit über alle Generationen hinweg. So, aus dieser prophetischen Sicht, erklärt sich, daß er weit entfernte Ereignisse, wie zum Beispiel die Eroberung Jerusalems und die Wiederkunft am Ende der Tage, in eins sieht, und die Evangelisten haben dieser Vorstellung Vorschub geleistet, indem sie ganz verschiedene Dinge räumlich in einem Kapitel ihres Buches zusammengestellt haben. Sie haben die prophetische Sicht Jesu übernommen und dadurch den begreiflichen Irrtum heraufgeführt, als ob die Zerstörung Jerusalems unmittelbar dem Wiederkommen Jesu voranging.

Jesus hat sich nicht getäuscht, Jesus hat sich nicht geirrt. Es gibt viele Stellen des Evangeliums, meine lieben Freunde, die eindeutig zeigen, daß er mit einer langen Zeit rechnet, die bis zur Wiederkunft vergeht. Denken Sie an die Gleichnisse vom Senfkorn, das ganz allmählich durch viele Jahre zu einem Baum zusammenwächst, oder an das Gleichnis von dem Mann, der verreist und nach langer Zeit erst zurückkehrt. Die vielen Gleichnisse, die mit langen Zeiträumen rechnen, beweisen, daß Jesus nicht mit einer nahen, noch in der gegenwärtigen Generation sich vollziehenden Wiederkunft gerechnet hat. Jesus hat sich nicht getäuscht, weil er sich nicht täuschen konnte. Sein Erkenntnisleben wird vom Logos getragen. Ein Irrtum dieses Erkenntnislebens müßte dem Logos zugeschrieben werden, also der zweiten Person Gottes. Gott aber kann nicht irren, kann nicht täuschen, kann sich nicht täuschen lassen. Gott ist die absolute Wahrheit.

Eine dritte Schwierigkeit, die sich ergeben kann, wenn man die Evangelien liest, ist die Tatsache, daß Jesus Furcht gehabt hat, daß er in Angst geraten ist. Wir denken vor allem an den Ölberg. „Er fing an zu zittern und zu zagen. Sein Schweiß rann wie Blutstropfen zur Erde.“ Ja, wie kann der zittern und zagen, wie kann der in Angstschweiß ausbrechen, der sich als den Sohn Gottes weiß, geborgen in der Gottheit? Wie ist das möglich, daß er, der die Gottschau hat, in Furcht und Angst geraten kann? Man muß in der Seele Jesu, in der menschlichen Seele Jesu unterscheiden zwischen der Spitze, der mens superior, wie der heilige Augustinus sagt, die immer eingetaucht war in die Herrlichkeit Gottes, und zwischen den Außenbezirken, bei denen das nicht der Fall war. Diese Außenbezirke sind nicht überströmt von der Glücksempfindung und von der Wirklichkeit der Gottesschau. Und in diesen Außenbezirken konnte er, auch eben um ein vollmenschliches Leben zu führen, von Angst und Furcht überfallen werden. Da konnte die Todesangst ihn ergreifen, und er hatte mehr Anlaß, sich zu ängstigen, weil er die Furchtbarkeiten der Welt viel deutlicher sah als alle anderen Menschen, weil er die Möglichkeiten des Bösen viel tiefer erkannte. Seine Angstfähigkeit war also viel gewaltiger als die aller anderen Menschen. Und er wollte ja alle Furchtbarkeiten dieser Welt aufarbeiten. So mußte er auch in das Mysterium der Angst eingehen. Dadurch hat er die Angst für uns überwunden, dadurch, auch durch seine Angst, hat er uns erlöst.

Wir wollen also,  meine lieben Freunde, uns nicht irremachen lassen. Wir wollen Jesus nicht reinwaschen, wie dieser Theologieprofessor sagte, sondern wir wollen ihn gläubig als den entgegennehmen, der er ist, als der vom Himmel herabgekommene Sohn Gottes, der in einen göttlichen Natur göttlich denkt und will, und der in einer menschlichen Natur menschlich denkt und will, der ein vollmenschliches, echt menschliches Leben geführt hat, um als Mensch zu erlösen, was der Mensch Adam verloren hatte. Wir können also getrost weiterrufen, wie wir es an jedem Herz-Jesu-Freitag tun: Herz Jesu, voll der Erkenntnis, voll der Wissenschaft, du Heimstatt aller Wissenschaft und aller Erkenntnis, erbarme dich unser.

Amen.

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