Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
30. Oktober 2022

Mein Herr und Gott

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Christus ist unser Herr und Gott, ein Ich, das göttlich ist, Gottes Sohn persönlich. Im Evangelium haben wir zwei parallele Aussagen Christi. Sie gehen nebeneinander her und sind miteinander verflochten. In der einen Reihe sagt er: Ich bin ein Mensch, habe einen Leib, eine Seele, empfinde, denke, will und rede wie ein Mensch; ich hungere, leide, trauere, blute und sterbe als Mensch. Das sind die menschlichen Aussagen; sie gelten von einem Menschen. Die andere Reihe der Aussagen ist abweichender Art. Ich und der Vater sind eins – ich bin beim Vater seit Anbeginn der Welt – bevor die Welt gegründet war, bin ich in seiner Herrlichkeit – ehe die Welt ward, bin ich – ich bin das Licht der Welt – ich bin Weg, Wahrheit, Leben – der Vater hat mir alle Gewalt gegeben. Sein Verhältnis zum himmlischen Vater ist ein anderes als das Verhältnis, das wir haben: Ich gehe zu meinem Vater und eurem Vater, zu meinem Gott und eurem Gott. Wenn er uns beten lehrt, sagt er: So sollt ihr beten. Er selbst spricht ein anderes Vaterwort. Wir haben eine Reihe von Aussagen, die eine Einheit mit dem Vater bedeuten: Ich bin, ich lebe von Ewigkeit zu Ewigkeit. Ich besitze alles Gericht der Welt. Wer andere Geschöpfe mehr liebt als mich, ist meiner nicht wert. Er will absolute Liebe. Er lässt Sünden nach. Es gibt also eine Reihe von Aussagen, die auf ein göttliches Ich hindeuten. Es ist ein Ich, das zwei verschiedene Wesensaussagen machen kann. Ein Wesen, das göttlicher Natur und menschlicher Natur ist. Es ist beides in ihm erfüllt: „Ich und der Vater sind eins“ und „Ich bin euer Bruder“. Das hat die Theologie formuliert in der Lehre: zwei Naturen und eine Hypostase. Dass diese Aussage wahr sein muss, ist selbstverständlich, wenn wir die Persönlichkeit Jesus betrachten: diese ganz lautere, wahre, gesunde Persönlichkeit, in der nichts von Wahn, Überschätzung oder Krankheit zu finden ist. Seine Selbstaussagen hat er bestätigt durch seine göttliche Wunderkraft. So können wir nicht zweifeln, dass in Christus ein doppelter Seinsbestand ist.

Was bedeutet das? Das bedeutet, dass Gott uns nahe gekommen ist, der unsichtbare Gott, in sichtbarer Weise. Es gibt eine Weise, die Gott sichtbar in der Welt der Erscheinungen zeigt, nicht seine Gottheit selbst, die unsichtbar ist und bleibt, aber sein Ich ist da. Wenn ich diesen Leib sehe, kann ich sagen: Das ist ein Leib, der einem göttlichen Ich gehört. Wenn ich diese Seele spüre, kann ich sagen: Das gehört einem göttlichen Ich. Wenn diese Augen mich ansehen, ist es das Auge Gottes; wenn diese Hände mich anrühren, sind es die Hände Gottes. So nahe ist uns Gott gekommen, persönlich nahe in einer sichtbaren Erscheinung. Daraus folgt für unser religiöses Leben: Es ist auf den Gottmenschen Jesus Christus gegründet. Dieser Anschluss an Christus ist nicht bloß ein äußerlicher, er muss ein innerlicher, persönlicher sein, eine Hingegebenheit an ihn; er muss Glaube und Liebe sein. Wir können an Jesus glauben und ihn lieben, wie man an einen Menschen glaubt und ihn liebt, und dieser Glaube und diese Liebe zu Christus ist der Glaube und die Liebe an und zu Gott.

An Jesus Christus glauben. Es ist nur möglich, an einen Menschen zu glauben, wenn in ihm die Qualität eines vollkommenen Menschen ist, zu dem wir aufschauen. Einem solchen unterwerfen wir uns im Geiste. Das ist Glaube. Wo in der Welt ein Glaube lebt, ist es die Unterwerfung in Ehrfurcht und Liebe. Indem wir an diesen guten, liebenswürdigen Menschen Jesus glauben, glauben wir an Gott. Da ist es eine absolute Unmöglichkeit, anzustoßen, erdrückt zu werden, getäuscht zu werden. Wenn er sagt: „Nehmet hin und esset, das ist mein Leib“, so ist es leicht, ihm das zu glauben, weil er es sagt. Man kann da nicht in Konflikt mit der Wirklichkeit kommen. Das kann so unbegreiflich sein, wie es will, darauf kommt es beim Glauben an Christus nicht an. Wir können an ihn glauben, an seine Erscheinung, an das schwache Kind in der Krippe, an seine kreuztragende Gestalt, an seine Kirche, an seine Schwächen, seine Rückschläge, an seinen Sieg, an seinen Triumph, auch wenn wir nichts davon sehen. Wir können ihm sagen: Ich glaube an dich, auch in der Gestalt eines Verachteten, eines Gekreuzigten; ich glaube, auch wenn du mir in tiefer Schmach, mit durchbohrtem Herzen begegnest. Ich glaube an dich, weil du es bist – es ist der Glaube an Gott selbst. In ihm wohnt die ganze Fülle der Gottheit wesenhaft (Kol 2,8). Dass Jesus, der Zimmermann von Nazareth, sich Gott gleichstelle, warfen ihm seine Feinde vor. Er ließ diesen Vorwurf auf sich beruhen; es war der gerechteste, der ihm je gemacht wurde. Wer fortan von Christus redet, ohne seine Gottheit und Wesenheit mit dem Vater zu bekennen, hat um Christus herumgeredet. Entweder keinen Christus oder den apostolischen! Und der apostolische Christus ist der Übermann der Sünde, des Todes und der Hölle.

Wir können ihn auch lieben, lieben, wie man einen Menschen liebt, und diese Liebe ist Liebe zu Gott. Da ist der große Dualismus gelöst, den wir immer empfinden. Wir möchten Gott lieben, aber der Mensch macht mehr Eindruck; wir lieben den Menschen und fürchten, dabei Gott zu verlieren. Diesen Menschen können wir lieben. Wir müssen seine Liebenswürdigkeit erfassen; müssen erkennen, was an diesem Mann so groß, so herrlich, so packend ist. Sein Reden: dieses überlegene, freie, beseelte, entschiedene, führende, gütige Reden: „So hat noch nie ein Mensch geredet.“ Und sein Schweigen ist vielleicht noch ergreifender: dieses Schweigen vor Kaiphas, Herodes und Pilatus; dieses Schweigen, das durch kein kleinliches Reden, keine unwürdige Klage, kein Abwälzenwollen auf andere unterbrochen wurde. Und sein Lehren, der Inhalt seiner Worte: diese weittragende Kraft und doch diese Einfachheit, diese Tiefe und doch Verständlichkeit. Wenn wir an seine Bergpredigt denken, an ein einziges Wort: „Alles, was ihr wollt, dass euch die Menschen tun, das sollt ihr ihnen tun“: Da liegt eigentlich die Versöhnung aller pädagogischen, aller sozialen und aller seelsorglichen Konflikte. Wenn es so unheilbar geworden ist in unserer Welt, so liegt es daran, dass wir von den Menschen etwas verlangen, was wir ihnen selbst nicht geben.

Schauen wir auf den Charakter Jesu! Diese Weite und Größe. Es sind in seiner Seele Spannungen, die jeden anderen Menschen zerreißen würden. In ihm ist das Willensmäßige verbunden mit der Zartheit des Empfindens, der Sanftheit des Herzens, des Taktes. Wenn sonst ein Mensch sehr energisch und willensstark ist, kann er nicht so zartfühlend sein; er kann nicht alles empfinden, sonst würde seine Energie gelähmt. Jesus kann alles nachempfinden, jeden Schlag unseres Herzens, ohne dass sein Wille Schaden leidet. In Jesus ist eine vollkommene Sicherheit, Geradlinigkeit, Bestimmtheit, keine Unentschiedenheit, kein Schwanken; und dennoch auch nichts Einseitiges; ein umfassendes Wissen, ein Blick in die Welt in ihrer ganzes Breite. Er konnte sich geben, wie er war; er brauchte sich nirgends umzubiegen. Er vermochte die Schroffheit mit der Milde zu verbinden. In ihm ist nichts Sentimentales, Weichliches; alles ist ernst, männlich, wenn nötig schroff, aber trotzdem macht es nicht den Eindruck des Wehtuenden. Man nimmt die schroffe Rede an und fühlt ein liebendes Herz dahinter. Dass er ein fühlendes Herz hatte, sieht man deutlich an dem Vertrauen der Kinder, die zu ihm kommen wollten und sich bei ihm wohl fühlten. Ein Mensch, den die Kinder nicht lieben, kann kein guter Mensch sein. Umgekehrt: Wenn die Kinder Vertrauen haben, kann er kein böser, kein steinerner Mensch sein. Er besaß ein unermessliches Selbstbewusstsein, aber es ist mit der größten Schlichtheit verbunden. Er kann sich geben wie ein Bruder unter Brüdern, und doch fühlt man seine geheimnisvolle Größe und Überlegenheit. Er war den Menschen hingegeben und gehörte ihnen, und dennoch bestand eine Distanz. Als Jesus den Seesturm und das Seebeben gebändigt hatte, sprachen die Jünger zueinander: Was ist denn das für einer, dass ihm Wind und See gehorchen? Eine Herrschernatur, eine Königsgestalt ist Jesus, und doch wäscht er den Seinen die Füße. Stürmisch drängend ist sein Wille, herb bis zur Schroffheit, und doch kann er lieben, so zart und weich, wie nur eine Mutter es kann. Ganz Gott ist er, durchweiht vom Gebet langer Nächte, und doch verweilt er so gern bei Zöllnern und Sündern. Ein Feuerbrand ist er, aufkochend in prophetischem Zorn, und doch trägt er schweigend den größten Schimpf. Ein Einziger und Einsamer ist er, und doch liebt er die Menschen, wie sie noch keiner geliebt hat, und stirbt für sie. Er war Gott und Mensch zugleich, er war frei und hingegeben zugleich; ein Du, das in unendliche Höhen reicht und dennoch auf unserer Erde steht. So erklärt sich die Christusliebe der Heiligen. Seitdem Paulus das Lied der Christusliebe gesungen hat, ist es nicht mehr verstummt: „Er hat mich geliebt und sich für mich hingegeben“ (Gal 2,20). Jesus ist gehasst worden wie kein Mensch. Aber die ihn hassen, das sind die Henker der Menschheit: die Pharisäer, die Unwahrhaftigen; Herodes, der Lüstling; Pilatus, der Feigling – das sind die, die ihn hassen. Aber die ihn lieben, das sind die Heiligen, die Martyrer, die Jungfrauen, die Bekenner, die Helden der Liebe. Sie lieben ihn über alles mit einer Menschenliebe, und es ist doch eine Liebe zu Gott. Man kann ihn rückhaltlos lieben, ohne Gefahr zu laufen, etwas zu verlieren. Kein Missbrauch, keine Täuschung ist zu befürchten; denn in ihm lieben wir Gott. Christus ist König, weil der himmlische Vater ihm an Gewalt, Macht und Würde verlieh, was nur immer eine Menschennatur zu fassen vermag. Er übergab ihm die Herrschaft über die ganze Welt. Nicht mit dem Schwert, sondern mit dem Kreuz macht sich Christus den Erdkreis untertan. Alle Könige verlieren bei ihrem Tode mit dem Leben zugleich auch ihre Macht. Einzig Christus wird seit seinem Tode am Kreuze von aller Welt angebetet. Vom Widerschein des Blutes Christi, das am Kreuze für uns alle vergossen ward, ist noch die ganze Welt gerötet. Sein Blut hat der eingeborene Sohn Gottes für uns vergossen. Seele, richte dich auf! So viel bist du wert (Aug.).

Amen.

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