Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
23. Oktober 2022

Mein Meister

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Jesus ist der ewig Lebendige, der immerfort nahe ist allem, was wirklich ist. Was Jesus uns sein kann, lässt sich in das Wort fassen, mit dem ihn Jüngerinnen und Jünger angesprochen haben. Maria Magdalena sagte: Mein Meister. Der Apostel Thomas sprach: Mein Herr und mein Gott. Darin ist alles enthalten. Er wurde unser Meister, der Mensch unserer Gemeinschaft. Und er ist unser Gott, der sichtbar gewordene Gott, der uns in Person erschienene Gott. Wir wollen heute und am kommenden Sonntag überlegen, was es bedeutet, wenn ein Mensch zu Jesus sagt: Mein Meister oder Mein Herr und mein Gott.

„Mein Meister“ ist das Wort der Gemeinschaft. Wir gehören zusammen, du und ich. Gemeinschaft ist das Prinzip des Lebens. Ohne Gemeinschaft erstarrt, verwelkt alles. Gemeinschaft schaffen und erhalten ist eine schwere Aufgabe, ist auch ein großes Problem. Denn Ich-Du-Verhältnisse von wirklichem Wert unter Menschen gibt es wohl nicht viele. Gemeinschaften von mehr als zwei Personen unter bloßen Menschen und allein von Menschenkraft gestützt sind wohl sehr selten. Auch die Gemeinschaften von zwei Menschen sind selten, wenig tragfähig, großen Gefahren ausgesetzt. Man kommt in Gefahr, sich zu verlieren, missbraucht, ausgebeutet, enttäuscht, betrogen zu werden. Und man bringt den anderen in die gleiche Gefahr, ihn zu verlieren, zu erniedrigen, zu enttäuschen. Alle solche Gemeinschaften auch zwischen zwei Menschen sind schließlich in Gefahr, eines Tages aufzuhören, mit einer Katastrophe zu enden, in Hass und Ferne umzuschlagen oder in Fremdheit und Gleichgültigkeit zu versanden. Es ist der Lauf der Dinge, dass Menschen, die einander nahekommen, in verhältnismäßig kurzer Zeit in innerer Fremdheit auseinandergehen, in Gleichgültigkeit und innerer Müdigkeit. Doch wir brauchen Gemeinschaft, auch menschliche Gemeinschaft. Wir brauchen einen Menschen oder viele Menschen, dem oder denen wir vertrauen können, mit dem oder denen eine Verbundenheit besteht, wo keine Fremdheit, keine Angst am Platze ist. Eine solche Gemeinschaft gibt es. Es ist die Gemeinschaft Jesu mit seinen Jüngern. Die Gemeinschaft, die mit dem Wort „mein Meister“ bezeichnet ist, umfasst viele Seelen, und doch ist jede Seele in dieser Gemeinschaft geborgen, als wäre sie allein da. Das Meister-Jünger-Verhältnis ist ein gegenseitiges Verhältnis des Schenkens und des Empfangens.

Was strömt von Jesus über auf alle, die zu ihm sagen: mein Meister? Er ist ihr Meister, ihr Lehrer, Heiland und Erlöser. Er hat die Aufgabe, sich ihrer anzunehmen, sie zu Gott zu führen, zu seinem Vater, heraus aus der Enge des Irrtums, aus dem Dunkel des Nichtwissens und Zweifelns, aus dem Kerker ihrer Leidenschaft und Sünde, ins Freie, Weite, Lichte, Ewige, zu Gott. Das ist sein Beruf, seine Lebensaufgabe. Der Hunger und Durst seines Bewusstseins, das Glühen seines Herzens ist darauf gerichtet, den Willen Gottes an uns zu erfüllen. Es gibt keinen fleißigeren Arbeiter, keinen sorgsameren Hirten als ihn. Es gibt keinen Augenblick des Lebens, in dem wir uns selbst überlassen wären. Es gibt keine Verlassenheit. Kein Mensch kann sagen: „Es nimmt sich niemand meiner an, niemand sorgt für mich.“ Es gibt ein Herz, das sich unser annimmt, das schafft, sorgt, liebt, dessen Beruf, Pflicht, Liebe es ist, uns zu dienen. Er dient uns in uneigennütziger Weise, mit größtem Opfersinn und Opfermut, kein Opfer war ihm zu groß. Undank und Anfeindung waren nicht imstande, seinem Eifer im Dienst der Menschen Eintrag zu tun. Je näher die letzte Stunde kommt, desto sehnlicher drängt es ihn, den Menschen zu dienen. „Ich muss wirken die Werke dessen, der mich gesandt hat, solange es Tag ist; es kommt die Nacht, da niemand wirken kann“ (Joh 9,4). Das ist das erste: unser Heiland und Erlöser will er sein.

Dann auch unser Freund und Vertrauter. Sein Dienst erwächst nicht nur aus Pflicht, aus Mitleid. Es ist eine persönliche Neigung, die er zu allen trägt. Er liebt sie alle. Er ist ein vollkommener Mensch. Es ist bei ihm keine Kluft zwischen Wille und Gefühl. So ist seine Liebe eine Herzensliebe, eine warme Liebe. Er kann so viele Menschen umfassen, als ob er jeden einzelnen allein liebt, weil er so groß ist, so unendlich stark und weit. Unser Herz ist stets in der Gefahr, sich zu beschränken in seiner Zuneigung. Wir unterscheiden zwischen Freunden und Feinden, zwischen Nahen und Fernen, zwischen Gefährten und Gleichgültigen. Das Herz Jesu ist ein von Gott in Besitz genommenes Herz und darum von einer Fassungskraft, die unbegrenzt ist. Es kann alle Kreaturen, alle Menschen aufnehmen. Jesus kann uns wirklich lieben, wie ein Mensch uns liebt, aber mit einer umfassenden, endlosen, unerschöpflichen Kraft der Liebe.

Ferner gehört zu einer Gemeinschaft und zum persönlichen Vertrautsein das Verstehen. Das ist das dritte, was Jesus uns schenkt: das Verstehen, das Verstehen unseres Wesens, unseres Lebens, unserer Wege, unserer Irrungen, unserer Schuld, unseres Leides. Unter Menschen hat das Verstehen immer eine Grenze, so dass einer dem anderen sagt: Ich kann nicht begreifen, warum du so bist. Ich habe es nicht erwartet. Ich bin enttäuscht, dass du das nicht fertig bringst. Irgendeine Enttäuschung kommt, und das ist die Grenze des Verstehens. Eine solche Verwunderung ist bei Jesus nicht möglich. Er kennt uns, besser, als wir selbst uns kennen. Er kennt die innersten Motive und die Vorgeschichte unserer Taten. Er versteht den Matthäus, der das schmutzige Geschäft des Zöllners betreibt; er versteht die Frau, die beim Ehebruch ertappt wird.

So kann er uns auch erwählen. Er kann sagen: Folge mir nach. Dann verlässt der Berufene Vater und Mutter, seinen Beruf und sein Haus. Er kann unser Leben teilnehmen lassen an seinem eigenen Fruchttragen. Das ist der bedeutendste Inhalt, den ein Menschenleben haben kann. Der Weg ist dem seinen sehr ähnlich. Der Weg zur Erlösung der Welt geht immer über Kalvaria, über ein Kreuz, ein Grab. Immer muss einer verzichten, damit ein anderer gewinne. Dieses Gesetz, das in Jesus gewirkt hat, muss auch in unserem Leben wirken. Es kann sein, dass er einen Menschen, der viel für sein Werk beitragen muss, ans Kreuz heften lässt.

Er kann uns auch erfreuen, beglücken. Eine Gemeinschaft muss auch eine Freudenquelle, eine Tröstung sein. Menschen sind dazu bestimmt, einander aufzurichten und zu ermutigen, zu beruhigen und zu trösten. Kameraden, Freunde, Eheleute müssen einander aufmuntern, aufhellen, aufheitern. Erst recht vermag und will dies unser Meister. Jesus gibt wahrlich Freuden, vielleicht die einzigen, die in dieser Welt möglich sind, weil er auch die Vorbedingungen erfüllt hat. Es ist ein Gesetz, das man in der ganzen Breite des Menschenlebens verfolgen kann: Ein Mensch kann nur so viel an Freude schenken, als er selbst an Leid getrunken hat. Er kann nur den Kelch reichen, der ihm selbst ein Kelch der Bitterkeit gewesen ist und den er durch sein Trinken in Süßigkeit verwandelt hat. Jesus hat wahrhaftig den Kelch der Bitterkeit für uns alle geleert, so dass nur der Kelch der Süßigkeit übrig geblieben ist. Darum sind in unserem Leben die Stunden, die wir mit Gott waren, wohl die glücklichsten gewesen, die größten, die besten, da wir Jesus sagten: „Bleibe bei uns!“

Was können wir ihm schenken? Das ist unbedingt notwendig. Es ist die letzte Sehnsucht des Menschen, einem anderen etwas zu sein. Es ist der stärkste Wille in einem guten Menschen, jemand lieben, tragen, betreuen zu dürfen. Darum müssen wir Jesus etwas bieten. Zunächst uns selbst. Das ist das Wesentliche aller Gemeinschaft, dass man sich selbst schenkt, sein Vertrauen, sein eigenes Herz. Man muss sich selbst in die Gemeinschaft einbringen, ihr mit Herz und Verstand anhangen. Das Beste, was ein Mensch für einen anderen tun kann, ist immer das, was er für ihn ist. Das eigene Selbst zu schenken ist etwas Großes und Heiliges. Jesus kennt das Menschenherz; er würdigt es, wenn wir sagen: „Ich weihe mich dir, nimm mich hin; ich vertraue dir, wohin immer du gehst.“ Diese unbedingte Nachfolge ist etwas Ergreifendes, etwas Entzückendes in den Augen Gottes.

Wir können sodann dem Herrn unsere Arbeit weihen, unser Wirken. Wir können ihm bei seinem Werk der Erlösung helfen. Er ist auf Menschen angewiesen. Seine Lehre kann nur durch Menschenmund verkündigt werden, seine Sakramente können nur durch Menschenhand gespendet werden, seine Kirche kann nur durch Menschen geführt werden, seine Herrlichkeit kann nur durch Menschen geoffenbart werden. Man kann in einem richtigen Sinne sagen: Gott kommt in dieser Welt nur so weit, wie Menschen ihn tragen. Darum ist es etwas erschreckend Großes, dass das Höchste in schwache Menschenhände gelegt wird, und das Ärgernis ist unabsehbar, wenn die Menschen versagen und das Heiligtum schänden. Der hl. Paulus hat selbst die Sklaven in Korinth beschworen, sie möchten dem Evangelium Jesu Christi Ehre machen.

Wir können den Herrn schließlich auch beglücken. Im normalen Leben sollte der Mensch seine innigste Freude empfangen von den nächsten Angehörigen, mit denen er zusammenlebt. Jesus bezeichnet als seine nächsten Angehörigen alle, die den Willen seines himmlischen Vaters tun. Er wollte damit sagen: Sie sind mir nicht bloß so lieb wie nächste Angehörige, sie sind mir auch eine Quelle der Freude. Sie schaffen mir eine Heimat, in der ich geborgen bin, in der ich meine Stätte, meine Ruhe habe.

Das Meister-Jünger-Verhältnis ist getragen von Verehrung und Ehrfurcht auf der einen Seite und von Verantwortung auf der anderen Seite. Das gehört zu jeder wirklichen und dauerhaften Gemeinschaft. Freundschaften die das nicht haben, weil es entweder auf der einen Seite an Ehrfurcht fehlt oder auf der anderen Seite an Verantwortung, gehen auseinander. Darum ist Gemeinschaftsbildung mit Christus allein in vollkommenem Maße möglich: auf der einen Seite ein Aufblicken ohne Enttäuschung, ein Aufschauen seliger Bewunderung zu einem vollkommenen Menschen, auf der anderen Seite eine ewige, unendliche, göttliche Verantwortung. Jesus, mein Meister!

Amen.

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