Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
4. Oktober 2020

Die äußere Gnade

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Der Mainzer Katechismus von 1926 erklärte: Gnade nennen wir jede innere Gabe, die uns Gott zu unserem ewigen Heil verleiht. Die innere Gnade ist jene, welche das menschliche Ich berührt und verwandelt, indem sie es in eine neue Existenzordnung einführt. Die innere Gnade erfasst und erhebt die Seele innerlich. Sie wird unterschieden in helfende und heiligmachende Gnade. Die heiligende innere Gnade gibt uns Anteil an der göttlichen Natur, macht uns zu Kindern Gottes. Die helfende innere Gnade besteht darin, dass Gott durch innere Anregungen, Gedanken, Stimmungen (der Ermutigung, des Trostes, des Friedens) dem Menschen zu Hilfe kommt.

Eine weitgehend unbekannte Form des Gnadenhandelns Gottes ist die äußere Gnade. Die äußere Gnade ist ein äußeres Werk des göttlichen Heilswillens, durch das der Mensch zum Glauben, zur Hoffnung und zur Liebe aufgerufen wird. Oder kürzer: Äußere Gnade ist eine äußere Veranstaltung Gottes zu unserem Heil. Äußere Gnade thematisiert die Vermittlungsweise des göttlichen Gnadenbeistandes. Durch äußere Situationen, Umstände, Begegnungen, Verhältnisse, Worte steht Gott dem Menschen bei. Äußere Gnaden sind die Menschwerdung, Wunder und Tod Christi, das Beispiel Christi und der Heiligen, eine Predigt. Ihr Ziel ist die Vorbereitung der inneren Gnade. Ja, alle Ereignisse und Geschehnisse, die zu unserer Kenntnis gelangen, können und sollen nach Gottes Willen dazu dienen, unser Heil zu wirken. Sie sind äußere Gnaden. Man muss freilich die Grenzen der äußeren Gnaden sehen. Die äußere Gnade nutzt nichts ohne die innere. „Wer behauptet, wir könnten der Verkündigung der guten Botschaft zustimmen ohne die Erleuchtung und Einhauchung des Heiligen Geistes, der wird von einem ketzerischen Geist betrogen“, erklärte die Synode von Orange aus dem Jahre 529. Es ist jedoch anzunehmen, dass die äußere Gnade sich immer mit der inneren verbindet. Indem zum Beispiel das Wort Gottes verkündet wird, wird von Gott zugleich das Herz des Hörers erleuchtet, so dass man der Wortverkündigung gewissermaßen eine Art sakramentaler Wirksamkeit zuschreiben kann.

Äußere Gnaden sind alle Begegnungen mit Menschen. Jeder Mensch, dem wir begegnen, hat nach Gottes Absicht und Willen eine Bedeutung für unser Heil. Uns ist es aufgegeben, herauszufinden, was er uns sagen soll. Sittlich strebende, gotterfüllte, heiligmäßige Menschen sollen uns heilsam beschämen und zu der Frage bewegen: Warum bist du ihm an religiös-sittlicher Qualität nicht ebenbürtig? Gott wird uns einmal fragen: Was hast du aus der Begegnung mit den hochstehenden, wertvollen Menschen gemacht, die ich dir gewährt habe? Warst du willig, von ihnen zu lernen, sie nachzuahmen, oder warst du neidisch und ablehnend? Sittlich verkommene und religiös abständige Menschen richten eine andere Botschaft an uns. Sie lautet: Bist du apostolisch gesinnt, geht dir das Schicksal dieser Menschen zu Herzen, denkst du nach, womit du ihnen aufhelfen kannst? Gott wird dich fragen: Wie bist du mit den abstoßenden, widerwärtigen Menschen umgegangen, die deinen Lebensweg gekreuzt haben? Hast du die Geduld und das Mitleid bewährt, das der Heiland dir vorgelebt hat? Über jede Begegnung mit einem Menschen müssen wir nicht nur dereinst Rechenschaft ablegen, sondern jede Begegnung kann und soll uns auch Anlass zur Besinnung und zur Bekehrung werden. Die Begegnung mit einem Menschen kann eine Einladung, eine Aufforderung sein, dem anderen geistliche Güter mitzuteilen: das Anhören seiner Beschwerden, das Raten in seiner Verlegenheit, das Ermutigen in seiner Schwäche, das Trösten in seiner Not. Was Menschen uns erzählen uns anvertrauen, ist eine Aufforderung, es zu erwägen und zu bewahren, ja, es vor Gott zu tragen.

Lob und Tadel, die uns zuteil werden, sind äußere Gnaden. Darin spricht Gott zu uns. Ein verdientes Lob, das uns zuteil wird, ist eine äußere Gnade. Es bestätigt, dass wir recht gehandelt haben, und ermutigt uns, auf diesem Wege weiter zu gehen. Ein unverdientes Lob, das uns gespendet wird, ist eine äußere Gnade. Denn es beschämt uns heilsam und veranlasst uns, der zu werden, für den andere uns halten. Ein gerechter Tadel, der uns trifft, ist eine äußere Gnade. Er mahnt uns, unser Tun und Lassen zu überdenken, womöglich eine Kurskorrektur vorzunehmen, demütig und bescheiden zu werden oder zu bleiben. Ein ungerechter Tadel, den wir erfahren, ist eine äußere Gnade. Denn er schmerzt uns und veranlasst uns gleichzeitig, reuig daran zu denken, wie oft wir andere voreilig und leichtfertig gerügt und verurteilt haben.

Besonders ergiebig ist die Begegnung mit Kindern. Normale Kinder sind offen, zugänglich, freimütig. Verstellung und Täuschung sind ihnen fern. Kindermund kann Wahrheit sprechen, die Erwachsene verbergen. Kinder muss man ernst nehmen. Sie sind kindlich, aber nicht kindisch. Vor Kindern muss man Ehrfurcht haben. Wenn uns gesunde und fröhliche Kinder begegnen, sollte Zuneigung und Freude in uns aufsteigen. Welch ein Wunder ist ein Kind! Als Gott die Welt erlösen wollte, ist er ein Kind geworden. Kinder, denen wir begegnen, sollten die Erinnerung an unsere eigene Kindheit aufwecken. Wir müssen mit Dankbarkeit oder mit Scham an die Jahre unseres Kindseins zurückdenken. Wenn uns ein mongolides oder schwachsinniges Kind begegnet, sollte dies Anlass sein, Gottes Segen über das arme Geschöpf herabzurufen und ein Dankgebet für das Geschenk der eigenen Gesundheit zu sprechen.

Auch die Ereignisse, Begebnisse und Geschehnisse unseres Lebens sprechen zu uns, sind Anstöße Gottes, nachdenklich zu werden und nach der Nutzanwendung für uns zu fragen. Gott spricht besonders laut im Unglück. Glück und Unglück sind zwei Ausdrücke für die Arbeit Gottes an uns. Frei geht das Unglück durch die ganze Erde (Schiller, Wallenstein). Es ist vielfältig. Es trifft mich ein Unfall. Seine Folgen: körperliche Schmerzen, Arbeitsunfähigkeit, Verdienstausfall. Was will er mir sagen? Vielleicht dass ich vorsichtiger wandeln soll? Dass ich in meinem Urteil über andere, die frühzeitig aus dem Arbeitsprozess ausgeschieden sind, zurückhaltender werden muss? Der Schmerz ist Gottes Bote. Kommt ein Schmerz, so halte still und frage, was er von dir will. Die ewige Liebe schickt dir keinen nur deshalb, dass du solltest weinen. In vielen Familien herrschen weder Friede noch Harmonie, sondern Zank und Zwist. Streit in der Ehe, Zwiespalt zwischen Eltern und Kindern, Zwistigkeiten unter Geschwistern, Erbstreitigkeiten. Wenn wir davon hören, sollen wir nachdenken, ob wir selbst Anlass zum Unfrieden gegeben haben und was wir tun müssen, um das gegenseitige Vertrauen und Verstehen wiederherzustellen.

Es gibt kein Leben ohne Leiden auf dieser Erde. Das Leiden ist ein Christusmal an der christlichen Seele, ein Segen über Auserwählte, nicht ein Fluch über Verstoßene. Christus lehrte uns leiden; er lehrte es, indem er selber litt. Das Leiden ist eine Gnade, die viele andere einschließt. Die wertvollste Erfahrung ist die Erfahrung des Leidens. Das Leiden ist die Feuerprobe für die Menschen; es ist auch die Feuerprobe für die Religionen. Wie können wir es bewältigen, Nutzen daraus ziehen? Ein schlesischer Dichter gibt die Antwort: „Wenn du recht schwer betrübt bist, dass du meinst, kein Mensch auf Erden könne dich trösten, so tue jemand etwas Gutes; gleich wird es wieder besser sein.“ Anderen Menschen Freude machen hilft über das eigene Leid hinauszuwachsen. In wenigen Begebnissen und Erfahrungen spricht Gott so deutlich und kraftvoll wie im Tod. Der Tod erinnert uns an die Gefährdung und an das Ende des eigenen Lebens. Der heilige Abt Silvester erlebte seine Bekehrung am offenen Grab eines Verstorbenen. Er kam zu der Einsicht: „Ich bin, was er war; was er ist, werde ich sein.“ Die Todesfälle anderer mahnen uns: Sterblicher, denk’ ans Sterben! Schnell und schneller als du glaubst, kann es mit dir hienieden geschehen. Niemand schmeichle sich mit der Hoffnung, lange zu leben, da man auch nicht mit einem einzigen Tage sicher rechnen kann. Wie viele haben sich mit falscher Hoffnung betrogen und mussten zu einer Stunde, die sie nicht erwartet hatten, aus dieser Welt scheiden.

Die Natur gehorcht den Naturgesetzen. Aber die Naturgesetze gehorchen Gott. Gott spricht auch in der Natur. Das Wachsen und Gedeihen kommt ebenso von ihm wie das Verblühen und Verdorren. Gott ist der Herr der Natur. Die Wunder der Natur preisen ihren Schöpfer. Das Meer und die Berge, die Tageszeiten und die Jahreszeiten sind ein Loblied auf den unendlichen Geist, dessen Weisheit und Macht sie hervorbrachte. Das Wachsen und Gedeihen der Pflanzen, Sträucher und Bäume sollen den Menschen veranlassen, die Hände zu falten und die überragende Intelligenz und Kraft ihres Urhebers zu bewundern. Die gesamte Schöpfung ruft uns auf zum Dank für das Werk Gottes. Der Mensch darf nicht stumm bleiben angesichts der Wunder der Natur. Aber auch die riesigen Katastrophen in der Natur haben Gott zum Urheber. Die Erdbeben, Tsunamis und Vulkanausbrüche, von denen wir hören und lesen, sind Ausdruck der Sprache Gottes an die Menschheit. Auch wir in Mitteleuropa sind nicht gegen Naturkatastrophen gefeit. Erdstöße im rheinischen Grabenbruch sind möglich, Vulkane der Eifel können wieder ausbrechen. Wir erleben seit Jahren Dürre, Trockenheit, der Regen bleibt aus, unsere Pflanzen verdursten, die Wälder leiden Schaden. Ob uns Gott nicht dadurch belehren und ermahnen will? Für das hohe Gut des Wassers zu danken. Mit diesem Gut sorgsam umzugehen. Um Regen zu bitten. Überhaupt in sich zu gehen. Sich zu bekehren.

Es gibt äußere Gnaden. Gott spricht zu uns durch Begegnungen und Ereignisse. Ein Kreuz am Wege – siehe, eine äußere Gnade, Gott zu grüßen und dem Heiland zu danken. Das Geläut der Glocken – siehe, eine äußere Gnade, an Gott zu denken und der Einladung zum Gebet und Gottesdienst zu folgen. Ein Gang über den Friedhof – siehe, eine äußere Gnade, an den Tod zu denken und um eine gute Sterbestunde zu beten. Es gilt wachsam zu sein, sich selbst und seine Umgebung zu beobachten, die Begegnungen und Ereignisse zu befragen, was sie uns sagen wollen. Heute, wenn ihr seine Stimme hört, verhärtet eure Herzen nicht!

Amen.

Schrift
Seitenanzeige für große Bildschirme
Anzeige: Vereinfacht / Klein
Schrift: Kleiner / Größer
Druckversion dieser Predigt