Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
19. August 2012

Christus festhalten!

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Eine der elendesten und schmutzigsten Großstädte der Erde war am Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts Charbin im Fernen Osten. Es gehörte eine Zeit lang zu Russland, später kam es zur Mandschurei und mit der Mandschurei unter japanische Vorherrschaft. Als das Land und die Stadt noch zu Russland gehörten, wurde die mandschurische Bahn gebaut. Und sie führte über Charbin. In dem großen Wartesaal des Bahnhofsgebäudes errichteten die Russen eine lebensgroße Christusstatue. Als die Stadt mandschurisch geworden war, ließ man die Statue stehen. Als dann die Japaner kamen, regte sich Widerstand und man unternahm Schritte, die Statue zu entfernen. Man wandte sich an den heidnischen Bahndirektor und legte ihm nahe, das Christusbild abzubauen. Der Bahndirektor ging wiederholt in den Wartesaal und schaute nach der Statue. Stets fand er Leute, die vor dem Heilandsbilde knieten. Mütter mit ihren Kindern, Männer, die voll Sorgen niedergebeugt waren, arme Flüchtlinge, verlassene Auswanderer. Der Beamte beobachtete dies genau und bald glaubte er gemerkt zu haben, dass die Menschen, die dort knieten, froher, zufriedener und hoffnungsvoller sich wieder von den Knien erhoben. Da entschied er: Das Heilandsbild bleibt an seiner Stelle, weil es den Armen Trost spendet.

Meine lieben Freunde, auch unser Leben ist eine Reise und manchmal sogar eine Flucht. Die Erde ist wie ein Wartesaal, denn wir sind hier nicht bleibend. Durchreisende sind wir alle. Wie arm wären wir, wenn Christus nicht in diesen Wartesaal gekommen wäre. Ohne Jesus ist die menschliche Vernunft sich selbst überlassen, ihres höchsten Lichtes beraubt. Ohne Jesus ist das menschliche Leben auf dieser Erde eingeschränkt, ohne Erwartung eines ewigen Lebens. Ohne Christus kann der Mensch mit Sünde und Schuld nicht fertig werden, weil er das Lamm Gottes nicht kennt, das die Sünden hinwegträgt. Ohne Jesus vermag der Mensch dem Versucher nicht widerstehen, weil er nicht mit dem verbunden ist, der den Satan besiegt hat. Ohne Jesus ist der Mensch wie ein in der Wüste verirrtes Schaf. Er kennt nicht den guten Hirten, der den Schafen, den verlorenen Schafen, nachgeht. Ohne Jesus ist der Mensch krank, weil er den Arzt nicht kennt, welcher der Leiden Herr wird. Ohne Jesus findet der Mensch keinen Frieden, weil ihm der Friedensfürst fern ist. Wenn Christus nicht gekommen wäre, wäre das Leben ohne Trost und ohne Freude und ohne Hoffnung. Er ist Licht und Leben, Wahrheit und Gnade. Er ist der Arzt, der die Gebrechen heilt. Er ist der Hirt, der uns auf gute Weide führt. Er ist der Freund, in dessen Seele wir uns versenken können. Er ist der Weinstock, der uns nährt. Er ist der Seligmacher, unser Heiland, der alles, was mühselig und beladen ist, an sich ziehen will.

Weil er das alles ist, meine lieben Freunde, deswegen rufen wir den Feinden Gottes zu: Lasst Christus im Wartesaal des Lebens stehen. Wir sagen es den Leugnern Christi: Lasst Christus im Wartesaal des Lebens stehen! Wir sagen es den Gegnern der Kirche, im Bundestag und in der Regierung: Lasst Christus im Wartesaal des Lebens stehen! Nehmt den Menschen nicht den Urheber des Lebens, nehmt ihnen nicht den Quell des Trostes, nehmt ihnen nicht die Hoffnung auf die Ewigkeit.

In Lettland, bei Riga, reiht sich Wald an Wald, so weit das Auge reicht. Dort tobte im September 1917 wochenlang der Krieg. Die Russen waren ja schon bolschewistisch verseucht. Endlich gaben sie den Kampf auf und zogen ab. Aber auf ihrem Rückzug verwüsteten sie jedes Haus und jedes Dorf, machten, wie man sagt, verbrannte Erde. Die Bevölkerung flüchtete. Da erlebte man eines Tages ein erschütterndes Schauspiel. Es dunkelte. Auf der Landstraße, die durch die Wälder führte, zogen Wagen an Wagen flüchtender Bauern. Auf armseligem Ackergefährt hatten sie, was man in der Aufregung halt zusammenrafft, aufgeladen: Bettzeug, Wäsche, Lebensmittel. Die alten Leute, die Kinder hatte man auf die Wagen gesetzt. Die Frauen und die Männer liefen nebenher. Es war nicht viel, was die Leute aus ihrem Leben gerettet hatten. Aber ein Gegenstand fehlte auf keinem Wagen. Überall war er zu finden. Meist war er vorn an der Deichsel auf einer Querstange befestigt. Es war ein Kruzifix. Im letzten Augenblick, als schon alles zur Flucht bereit war, hatten die armen Menschen es aus dem Herrgottswinkel gerissen und auf ihren Wagen gestellt. Von Haus und Hof vertrieben, Heimat und Glück hinter sich lassend, flohen sie durch die schwarze Nacht einer ungewissen Zukunft entgegen. Einzig das Kreuz war ihr Trost, ihre Hoffnung und ihr Führer.

In gewisser Hinsicht ist auch unser Leben ein Kriegsgeschehen. Wir sind im Kampfe und in diesem Kampfe gibt es nicht nur Siege zu verzeichnen, sondern Niederlagen, schmerzliche Niederlagen, schwere Niederlagen. Leid und Sorgen brechen wie eine Sintflut über uns herein, vernichten die mühsam geschaffene Geborgenheit, stehen wie zerschossene Bäume am Wegrand des Glückes. Das sind die Niederlagen unseres Lebens. Die Flucht aus dem Glück setzt dann ein. Durch die Nacht der Niedergeschlagenheit wandern wir in eine dunkle Zukunft. Glücklich der Mensch, der in solchen Lebenslagen das Kreuz nicht vergisst. Im Kreuz ist Kraft, im Kreuz ist Heil. Im Kreuz ist Schutz vor den Feinden. Im Kreuz ist der Strom himmlischer Wonne, Stärke des Geistes, Freude des Herzens. Im Kreuz ist der Inbegriff aller Tugend, im Kreuz vollendete Seligkeit. Ehe es das Kreuz gab, existierte noch keine Leiter in den Himmel. Seit aber das Kreuz aufgerichtet ist, ist der Zugang zum Himmel eröffnet. Das Kruzifix ist der Mittelpunkt des Lebens des katholischen Christen, die Quelle aller Hoffnung, das Sinnbild aller Liebe. Das Kreuz ist uns heilig, weil es gesalbt ist mit dem Blute des Heilands, aber auch geweiht mit den Tränen seiner Mutter. Wir Christen sinken nur deshalb nicht in den Stürmen des Lebens, weil wir vom Kreuzesholz getragen sind. Und deswegen höre ich ein Stimme, die vom Kreuze ruft: „Mein Christ, wenn du leiden musst, vergiss das Kreuz nicht! Wenn du ausziehen musst aus deiner Heimat, vergiss das Kreuz nicht. Wenn deine letzte Stunde schlägt, vergiss das Kreuz nicht.“ Sprich zu dem gekreuzigten Heiland: „Wo du bist, mein Herr, da ist der Himmel; wo du nicht bist, da ist Tod und Hölle.“

Es hat einmal einer einen Traum gehabt. Der Traum setzte in dem Augenblick ein, als das Weltgericht begann. In einem gewaltigen Kreise, in einem Kreise von gewaltigem Ausmaß, sah der Träumende ungezählte Menschen, alle Menschen von Adam und Eva an, alle – ohne Ausnahme. Und in der Mitte des Kreises, da ragte das Kreuz empor. Vor dem Kreuze saß auf dem Thron Christus, der Richter. Einzeln trat jeder vor ihn hin und wurde nicht gerichtet, sondern richtete sich selbst. Der Träumende hatte schon manche Predigten über das Weltgericht gehört und vernommen, wie sich die Prediger das Weltgericht dachten. Einer erklärte, da würden der Teufel und der Schutzengel sich um die Seele streiten, wem sie gehören sollte, der Teufel als Ankläger, der Schutzengel als Verteidiger. Ein anderer Prediger hatte erklärt, der Richter würde aus seinem untrüglichen Gedächtnis alle Sünden eines Menschen aufzählen, mit Tag und Stunde. Wieder ein anderer hatte gemeint, im Letzten Gericht würde es wie ein Blitz aufleuchten, der im Bruchteil einer Sekunde dem Menschen sein ganzes Leben überschauen lässt. Solcher Art waren die Predigten, die er gehört hatte. Aber die Wirklichkeit, die er jetzt im Traume sah, war anders. In unübersehbarer Schlichtheit vollzog sich das Gericht. Es bestand einzig darin, dass der einzelne Mensch zu Christus hintrat und sprach: „Ich liebe dich!“ Das war alles. Das war das ganze Gericht. Aus der Ferne gewahrte der Träumende, dass viele von denen, die zu Christus hingingen, sprachen: „Ich liebe dich!“ Sie sprachen es jubelnd, jauchzend. Diese wies der Richter zu seiner Rechten. Dann aber kamen andere, die brachten die wenigen Worte, die verlangt waren, nicht aus dem Munde, nicht über die Lippen. Sie stotterten, stockten und verstummten. Diese wies der Richter auf die linke Seite, wo undurchdringliche Finsternis sich ausbreitete. Seltsam, dachte der Träumende, warum können diese Menschen die drei Worte nicht aussprechen? Nichts leichter als das. Wenn ich an die Reihe komme, werde ich mit Leichtigkeit diesen kleinen Spruch hersagen können. Zwar habe ich Christus in meinem Leben nicht sonderlich geliebt, denn seine Gebote waren mir lästig, aber das Verslein werde ich bestimmt aufsagen können. So dachte der Träumende und übte dann einige Male: „Ich liebe dich; ich liebe dich; ich liebe dich.“ Er merkte, das ging ohne Schwierigkeiten. Ohne Zweifel würde er das Gericht bestehen. Immer mehr teilte sich inzwischen die Menschheit und allmählich kam auch die Reihe an ihn, immer näher kam er dem Richter. Und da traf ihn ein Blick aus den Flammenaugen des Herrn. Seine Seele begann zu beben. In heller Angst versuchte er noch einmal übend den Spruch zu sprechen: „Ich...“, aber er kam nicht weiter. Er kam nicht weiter und unvermutet schnell stand er vor dem Richter. Wie aus einem Meer der Klarheit überblickte er sein ganzes Leben. Da wusste er, dass er seiner Sünden wegen Christus nicht geliebt hat und dass er niemals wird in Ewigkeit sagen können: „Ich liebe dich!“ In diesem Augenblick verstummte er, und mit einem Schrei wurde er wach. Das Ganze war ein Traum. So oder so aber wird der Traum einmal Wirklichkeit werden. Wie der einzelne Mensch zu Christus steht hier auf Erden, so wird es auch in der Ewigkeit sein. Mit Christus ewig leben oder ohne Christus ewig verloren sein, das ist das Ende eines jeden Menschen. Christus ist die Lebensscheide der Ewigkeit.

Wie stehen wir, meine lieben Freunde, zu Christus? Können wir ihm ehrlich sagen: „Ich liebe dich“? Wer es in diesem Leben nicht gelernt hat, ehrlich und aufrichtig zu Gott zu sagen: „Ich liebe dich“, der wird es auch vor dem Richterstuhl Christi nicht fertig bringen, diese Worte zu sprechen. Jetzt ist noch Zeit zu lernen, das erlösende Wort zu sprechen. Und es nicht nur zu sprechen, sondern es zu leben: „Ich liebe dich!“ Im Alten Bund erging das Wort des Herrn an das auserwählte Volk: „Höre Israel, der Herr, dein Gott, ist ein Einziger. Du sollst darum den Herrn deinen Gott lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft.“ So steht es im Buche Deuteronomium. Jesus Christus hat dieses Gebot bestätigt. Du sollst den Herrn deinen Gott lieben mit deinem ganzen Herzen, mit deiner ganzen Seele und mit deinem ganzen Gemüte. Das ist das erste und größte Gebot.

Liebe zu Gott! Noch ist es Zeit, meine lieben Freunde, diese Liebe zu lernen und zu üben. In der Treue zu Gott, im Gehorsam gegen Gott, in der Arbeit für Gott, im Leiden mit Gott. Noch ist es Zeit. Der hl. Johannes schreibt: Die Liebe besteht darin, dass wir nach seinen Geboten handeln. Gott macht es uns leicht, ihn zu lieben. Wir brauchen nur die Bereitwilligkeit zu haben, nach seinen Geboten zu handeln. Freilich, damit untrennbar verbunden, wie wir es ja eben im Evangelium gehört haben, damit untrennbar verbunden ist die Liebe zu Gottes Geschöpfen. Denn Gott will, dass wir den Nächsten lieben wie uns selbst. Es gibt keinen sichereren Aufstieg zur Gottesliebe als die Liebe zum Mitmenschen. Was ist diese Liebe, wie äußert sie sich? Ihm helfen, das Leben zu erleichtern; ihm helfen, das Leben zu ertragen; ihm helfen, das Leben zu einem guten Abschluss zu bringen. Das ist Liebe zum Nächsten, und das trotz aller Unlust, trotz aller Müdigkeit, trotz aller Erschöpfung, trotz aller eigenen Verwundung und eigenen Trostlosigkeit. Den Mitmenschen annehmen, nicht nur den angenehmen, den liebenswürdigen, sondern auch den stacheligen, den garstigen. Liebe, die auswählt, ist nicht Liebe nach dem Sinne Christi. Lieben lernen in diesem Leben, meine lieben Freunde, darauf kommt alles an. Die reine, die selbstlose, die selbstvergessene Liebe, von der Paulus sagt: Die Liebe ist langmütig, sie ist gütig. Die Liebe ist nicht eifersüchtig, sie prahlt nicht, sie bläht sich nicht auf. Die Liebe sucht nicht das Ihre. Sie lässt sich nicht erbittern. Sie trägt das Böse nicht nach. Die Liebe freut sich nicht über das Unrecht, das einem anderen geschieht. Sie erträgt alles, sie erträgt alles! Sie glaubt alles, sie hofft alles, sie hält alles aus. Die Liebe hört nie auf. Der Glaube wird ins Schauen übergehen, die Hoffnung wird von der Erfüllung abgelöst, die Liebe bleibt in Ewigkeit. Ach, meine lieben Freunde, dass wir doch dem barmherzigen Samariter des heutigen Evangeliums nicht ganz unähnlich würden. Ach, dass wir doch in diesem Leben lernen möchten, das zu tun, was uns einmal im letzten Gericht retten wird, dem Herrn zu sagen: „Ich liebe dich!“

Amen.

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