Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
10. Oktober 2010

Die Eigenschaften des Gewissens

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Wir hatten uns vorgenommen, Überlegungen anzustellen über das Gewissen. Wir hatten erkannt: Das Gewissen, das aktuelle Gewissen, ist ein Urteil der praktischen Vernunft über die Sittlichkeit des eigenen Handelns. Man unterscheidet das vorangehende Gewissen, das sagt: Es ist dir erlaubt, oder es ist dir nicht erlaubt, und das nachfolgende Gewissen, das feststellt: Was du getan hast, war recht, oder es war unrecht.

Das Gewissen sollte bestimmte Eigenschaften haben. Die wichtigsten Eigenschaften sind Wachsamkeit und Zartheit. Ein wachsames Gewissen ist jenes, das nicht nur durch schwere Anstöße, durch außerordentliche Fragen, sondern auch aus kleineren Anlässen geweckt und zum Nachdenken angeregt wird. Im Gegensatz zum stumpfen oder schlafenden Gewissen ist das wachsame Gewissen geeignet, rasch und aufmerksam auf die sittliche Seite des Handelns zu achten. Das Gewissen soll wach sein. Es soll also Reaktionsbereitschaft auf das sittliche Handeln, Reaktionsbereitschaft zum sittlichen Handeln haben. Zart ist das Gewissen, wenn es die rechte Antwort auf die gestellte Frage findet. Die Zartheit bedeutet die Geneigtheit, auch bei kleinen Ausschlägen des Gewissens zu reagieren, auch bei geringen Unterschieden zwischen gut und böse eine Antwort zu finden, auch bei kleinen Abweichungen vom Guten eine rasche Antwort zu finden.

Wachsamkeit und Zartheit des Gewissens stellen sich nicht von selbst ein; sie müssen erworben werden. Sie bedürfen der Pflege. Es muss sich eine Ausbildung dieser Fähigkeiten in uns vollziehen. Natürlich an erster Stelle durch Unterrichtung. Man muss sich unterrichten lassen über das, was geboten und was verboten ist. Wir müssen also unser moraltheologisches, unser sittliches Wissen erweitern. Wir müssen unsere Gewissenanlage ausbilden, nachdenken über Gottes Willen, uns belehren lassen durch Fragen, auch durch Gebet um Erleuchtung und um Führung. Kompetente Personen können uns Auskunft geben, was Gottes Wille ist. Und vor allem auch durch die Nähe zu Christus werden wir das Gewissen wach und zart gestalten. Je näher wir Jesus kommen, um so besser wissen wir, das zu tun und was zu lassen ist. Wenn wir vor Handlung fragen: Was würde Jesus an dieser Stelle tun?, dann wissen wir sogleich, was wir tun müssen. Und wenn wir nach der Handlung fragen: Wie wird Jesus denken über diese Handlung?, dann wissen wir auch, ob wir recht oder unrecht getan haben.

Zartes und wachsames Gewissen bedürfen auch bestimmter Eigenschaften des Gefühls und des Willens. Wir müssen das Gefühlsleben sorgsam pflegen. Wir müssen unseren Willen ausbauen und schulen. Wir müssen die niederen Leidenschaften beherrschen und die beharrliche Geneigtheit zum Gehorsam in uns entwickeln. Vor allem aber ist es notwendig, Gewissenserforschung zu halten. Wir müssen jeden Abend, bevor wir uns zur Ruhe begeben, fragen: Wie ist dieser Tag verlaufen? Was war recht, was war unrecht? Was habe ich getan, was habe ich unterlassen? Wo habe ich mich verfehlt? Gewissenserforschung ist jeden Abend notwendig. Und besonders natürlich bei der heiligen Beichte. Wenn wir zur Beichte gehen, halten wir Gewissenserforschung. Das ist ja das große Plus des katholischen Menschen, dass er durch die Beichte zur Gewissensschulung und zur Gewissenserforschung angehalten wird. Wir müssen bei der Beichte die schweren Sünden nach Art und Zahl bekennen, also wie sie beschaffen sind und wie oft sie geschehen sind. Und dazu dient die Gewissenserforschung. Wir können sie durch eigenes Nachdenken vornehmen, aber wir können uns auch an einen guten Beichtspiegel halten. Die Beichtspiegel in den Büchern, die hier vor Ihnen liegen, sind hervorragend. Diese Beichtspiegel können unbedenklich empfohlen werden.

Der Gegensatz zum zarten Gewissen ist das laxe Gewissen. Ein laxes Gewissen ist geneigt, den Ernst der sittlichen Verpflichtung und den Verpflichtungsgrad der Gebote abzuschwächen. Das laxe Gewissen ist zu weit, es schränkt irrigerweise das Gebiet der sittlichen Pflicht ein. Es erweitert unzulässig den Bereich der Freiheit. Die sittliche Laxheit und Lauheit kann sich auswachsen bis zur Gewissenlosigkeit, bis zur Skrupellosigkeit. Ich habe am Anfang schon einmal zitiert, was ein gelehrter französischer Autor über zwei französische Ministerpräsidenten des 19. Jahrhunderts sagte. Er wurde nämlich gefragt, worin der Unterschied zwischen den beiden besteht. Er sagte: „Der eine besitzt nicht die Fähigkeit, gut und böse zu unterscheiden. Der andere besitzt diese Fähigkeit, aber er macht keinen Gebrauch davon.“ Das sind laxe Gewissen. Es gibt sogar eine ganze Richtung in der Moraltheologie, eine falsche Richtung, den sogenannten Laxismus, der darauf zielt, die Verbindlichkeit der Gebote abzuschwächen. Der Laxismus behauptet: Um gegen die Verpflichtung eines Gebotes zu handeln, um anzunehmen, dass ein Gebot nicht verpflichtet, genügt es, wenn diese Meinung auch nur schwach oder zweifelhaft begründet ist. Auf diese Weise kann natürlich jedes Gebot ausgehebelt werden; es lassen sich ja irgendwelche Gründe fast gegen jedes Gebot vorbringen. Dieser Laxismus ist von dem Papst Alexander VII. feierlich verurteilt worden.

Wie kommt es zu einem laxen Gewissen? Nun ja, durch mangelhafte Belehrung; man will nicht wissen, um nicht gebunden zu sein, durch Fehler der geistig-leiblichen Anlage, durch Vernachlässigung der inneren Selbstzucht, durch Hingabe an den Sinnentrieb, durch öftere Verletzung und Betäubung des Gewissens. Wir wissen ja, meine lieben Freunde, wie es geht, wenn man sich von einem Gebot entschuldigt glaubt. Zunächst ist der Grund einsehbar. Aber wenn die Entschuldigung öfter angerufen wird, werden die Gründe immer schwächer. Und schließlich ist man gleichgültig geworden gegen die sittliche Verpflichtung. Es kann soweit kommen, dass auch bei schweren Sünden das Gewissen nicht mehr spricht. Es ist nicht tot, aber es ist betäubt. Gewöhnlich hat auch ein solcher Mensch eine Ahnung, dass er nicht recht handelt; denn ganz läßt sich das Gewissen eben doch nicht ausschalten. In stillen Stunden und auch angesichts des Beispiels der Gewissenhaftigkeit anderer Menschen wird er nachdenklich, und da kommt ihm die dumpfe Erkenntnis, dass er nicht recht handelt.

Es gibt auch das sogenannte pharisäische Gewissen. Wir wissen, wer die Pharisäer waren. Es waren Menschen, die es im Kleinen sehr genau nahmen, aber im Großen die Absicht hatten, sich zu entschuldigen. Das pharisäische Gewissen ist eine Mischung aus Irrtum, Abgestumpftheit und Skrupulosität. Der Mensch, der ein pharisäisches Gewissen hat, hält Bedeutendes für gering und Unbedeutendes für groß. Vor allem verfährt er bei der Beurteilung anderer heuchlerisch. Der Heiland hat es uns glänzend formuliert: „Ihr seht den Splitter im Auge des anderen, aber den Balken im eigenen Auge nicht.“ Der Mensch mit einem pharisäischen Gewissen sieht in Äußerlichkeiten, in leeren Formeln und äußerem Schein entscheidende Kriterien des Sittlichen. Der Herr hat über diese Menschen sein „Wehe“ gerufen: „Wehe euch, ihr Pharisäer und Schriftgelehrten. Ihr gebt den Zehnten von Pfefferminze, Dill und Kümmel. Aber was das Große am Gesetz ist, die Gerechtigkeit, die Treue, die Barmherzigkeit, die vernachlässigt ihr.“ Das ist das pharisäische Gewissen.

Eine besonders traurige Angelegenheit ist das skrupulöse Gewissen. Um zu verstehen worum es sich handelt, erzähle ich Ihnen eine wahre Begebenheit, eine wahre Begebenheit. Ein Priester hatte durch Unachtsamkeit den Kelch verschüttet – nach der Konsekration. Das Blut Christi ergoß sich über den Altar. Er kam nie mehr in seinem Leben von dieser Handlung los. Er beichtete, er beichtete wieder, er legte Generalbeichten ab. Sein Betreuer mußte ein Schreiben an die heilige Pönitentiarie in Rom richten, die für solche Verfehlungen zuständig ist. Er wurde von der (angeblich zugezogenen) Exkommunikation enthoben. Es war objektiv gesehen alles in Ordnung. Aber er kam von dieser angeblichen oder wirklichen Verfehlung nicht los. Er fand immer neue Ausreden und Hinweise, wie es doch gewesen sein könnte oder wie es nicht gewesen war. Das ist das skrupulöse Gewissen. Es ist von einer ungesunden Erregtheit. Es stellt dauernd Erwägungen über Dinge an, die zweifellos erlaubt oder klargestellt sind. Es findet keine Ruhe. Es bringt immer weitere Fragen vor, wiederholt das Nachdenken. Es ist offensichtlich, dass hier eine Angstneurose vorliegt. Ein Mensch mit einem skrupulösen Gewissen ist krank. Es ist das eine krankhafte seelische Erscheinung. Hier stellen sich Zwangsvorstellungen ein, die ihn nicht ruhen lassen. Immer neue Bedenken, immer neue fremdartige und peinliche Elemente mischen sich in das Denken ein, eine krankhafte Furcht: Habe ich das richtig erkannt? War die Beichte gültig? Und auf diese Weise wird das Seelenleben dieses armen Menschen buchstäblich zerstört. Er hat keine Freude mehr an Gott, an der Religion. Es gibt kein rüstiges und freudiges Fortschreiten im Guten. Das Bild Gottes als des Vaters verwischt sich. Die väterliche Führung Gottes gerät ins Hintertreffen. Ein solcher Mensch ist in einer schweren seelischen Not. Wir Beichtväter wissen, worum es sich handelt.

Man kann die Skrupulosität bekämpfen, und man soll sie bekämpfen. Ein solcher Mensch braucht einen Seelenführer, einen geschulten, einen pastoral auf der Höhe befindlichen Beichtvater, der das nötige Wissen, aber auch die erforderliche Entschiedenheit besitzt. Denn wenn er von seiner Skrupulosität geheilt werden kann, dann nur, indem er sich im Gehorsam seinem Seelenführer öffnet und anschließt. Man muss einem solchen Menschen sagen, dass pflichtmäßig nur die Beichte schwerer Sünden ist. Man muss ihm verbieten, die Beichten zu wiederholen, denn er findet durch Wiederholung keine Ruhe. Man muss ihm sagen, dass er verpflichtet ist, im Gehorsam gegen den Beichtvater zu verharren. Und man muss ihn auf die Liebe und Barmherzigkeit Gottes hinweisen, der nicht will, dass sich der Mensch quält, sondern dass er in Freude Gottes lebt. Man muss ihm erklären, dass er nicht immer um seine Heilsgewißheit kreisen darf, sondern dass ihm die Ehre Gottes ein erstes Anliegen sein muss. Man muss ihn aber auch auffordern, sich abzulenken durch geregelte und fesselnde Arbeit. Auf diese Weise kann Skrupulosität geheilt werden.

Meine lieben Freunde, das Gewissen ist eine Mitgift Gottes an den natürlichen Menschen. Jeder Mensch hat ein Gewissen, jeder Mensch ist an das Gewissen, an den Spruch des Gewissens gebunden. Ich erinnere noch einmal, was Maximilian Robespierre auf dem Höhepunkt der Französischen Revolution in den Konvent hineingerufen hat: „Nehmt mir mein Gewissen, und ich bin der unglücklichste aller Menschen.“

Der gnadenhaft erhobene Mensch, der getaufte Mensch besitzt ein übernatürliches Gewissen. Das gehört zum neuen Sein in Christus. Es ist durch die Taufe angelegt, aber noch nicht entfaltet. Es bedarf der Ausbildung, der Belehrung, der Erziehung und der Übung. Das Gewissen ist die Empfangsstelle für die Gebote Gottes. Die Gebote Gottes lehrt uns der Glaube in der Auslegung der Kirche. Der Gaube sagt, was gut und böse ist, und das Gewissen bringt diese Gebote unserem Herzen zu Gehör. Geboten ist, Christus nachzufolgen, das Reich Gottes voranzubringen, die Gottesliebe und die Bruderliebe zu pflegen, den Himmel anzustreben. Oft und oft, meine lieben Freunde, sollten wir das ergreifende Gebet sprechen: „Neige, o Herr, mein Herz zu deinen Geboten!“

Amen.

Schrift
Seitenanzeige für große Bildschirme
Anzeige: Vereinfacht / Klein
Schrift: Kleiner / Größer
Druckversion dieser Predigt