Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
20. Februar 2005

Religion im Spannungsfeld zwischen Diesseits und Jenseits

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

„Ich beschwöre euch, meine Brüder, bleibet der Erde treu! Glaubt nicht denen, welche euch von überirdischen Hoffnungen reden! Giftmischer sind es, ob sie es wissen oder nicht.“ So hat einst Friedrich Nietzsche in seinem „Zarathustra“ geschrieben, ein Appell, der Erde treu zu bleiben und das Jenseits aus dem Leben zu streichen. Damit ist das Thema berührt, das eigentlich die ganze Menschheitsgeschichte und eines jeden Leben durchzieht, nämlich das Verhältnis von Diesseits und Jenseits. Das ist das Grundproblem unseres Lebens und die schwierigste Aufgabe. Man fühlt einen Zwiespalt, einen Gegensatz zwischen Diesseits und Jenseits, zwischen der Diesseitsaufgabe und der jenseitigen Sendung.

Wer trägt die Schuld daran? Die Materialisten mit Friedrich Nietzsche sagen: das Jenseits. Man muss das Jenseits drangeben, weglassen, um im Diesseits seine Aufgabe erfüllen zu können. Ein Jenseitsziel verträgt sich nicht mit unseren gegenwärtigen nächsten Aufgaben. Eine andere Richtung schlagen gewisse griechische Sekten ein, auch der Buddhismus, die eben das Diesseits vernichten, untergehen lassen wollen, um im Nirwana aufzugehen. Diesen Weg hat Christus nicht gewiesen. Er zeigt uns einen anderen Weg, nämlich eine neue Harmonie, die ausgedrückt ist in dem Worte: „Suchet zuerst das Reich Gottes, und alles andere wird euch hinzugegeben werden.“ Damit hat Jesus die Möglichkeit eröffnet, Diesseitsaufgabe und jenseitiges Ziel zu verbinden. Wir sollen unsere vielfältige Sehnsucht behalten, aber die Möglichkeit und das Gebot hat er uns gegeben, sie in einem einzigen Streben zu fassen und zur Erfüllung zu bringen. Das ist also das Thema unserer heutigen Überlegungen, unsere vielfältige Sehnsucht und unsere einzige Erfüllung.

Unser Leben verteilt sich auf zwei Hemisphären. Da ist zunächst einmal die Welt der Triebe, das naturhafte Streben, die Instinkte, die in uns sind, Hunger und Durst, Haß und Schrecken und die begehrliche Liebe. Diese haben wir mit dem Tier gemein. Aber auch da ist schon ein Unterschied, nämlich den menschlichen Instinkten ist nicht die Grenze gesetzt, die das Tier von Natur aus kennt. Die menschlichen Instinkte sind nicht durch eigene Dämme und Wehren reguliert. Außerdem hat der Mensch auch noch eine höhere Welt von Trieben: das Streben, dass es immer besser wird auf Erden, das heiße Verlangen nach Erkenntnis, der Glückshunger, der die Menschen treibt, und die bodenlos tiefe Fähigkeit, geistig und künstlerisch zu genießen. Man kann das den Kulturinstinkt des Menschen nennen. Dieser Kulturinstinkt ist es, der die Geschichte der Menschheit unermüdlich und rastlos vorantreibt, mit den Völkerwanderungen und den Rassenkämpfen, mit der Produktion und dem Genießen, mit dem sozialen Gewebe, mit dem wissenschaftlichen und künstlerischen Schaffen. Aber der Mensch ist mehr als ein instinktgetriebenes Wesen. Im Menschen liegt auch die freie Tat, und sie gehört der weiten Welt des Sittlichen an. Sittlichkeit bedeutet Vollendung, Vollendung des menschlichen Strebens nach dem Willen Gottes, und darum ist ihre Wurzel die Religion. Sittlichkeit und Religion gehören untrennbar zusammen. Vollkommene Sittlichkeit ist auch immer vollkommene Religion.

Das Religiöse und das Sittliche sind nun durch Christus ins Übernatürliche erhoben worden. Das heißt, im Christentum steigen Religion und Sittlichkeit zum dreieinigen Gott empor, wirken liebend zusammen und schenken sich gegenseitig. Aber auf Erden ist der Gipfel dieses Strebens nicht zu erreichen, und deswegen treibt den Menschen die Sehnsucht weiter. Er hofft, es gibt ein jenseitiges Leben. Er ahnt, es gibt eine Vollendung in einem Zustand, der jenseits des irdischen Lebens liegt. So ist unser Leben über zwei Welten hin verteilt, und dazwischen scheint ein Abgrund zu liegen. In der Tat, meine lieben Freunde, ist es ein Abgrund des Wertes und des Standes. Die Religion ist wie ein goldenes Leuchten in einer armen Hütte. Man muss sich eigentlich wundern, dass die Menschen sich nicht abkehren von dieser bettelarmen Welt und sich hinkehren zu Gott in ekstatischer Umarmung des Kreuzes, in seliger Betrachtung der großen Jenseitshoffnungen. Wir wissen doch, dass eine Umkehrung der Verhältnisse zu erwarten ist. Es wird eine große Rangverschiebung geben nach dem Abschluß des irdischen Lebens. Was hier groß schien, das kann da klein werden, und was hier unbedeutend war, das wird dann in seinem Werte erkannt.

Aber es ist auch noch ein anderer Unterschied, nämlich: Können sich diese beiden Welten vereinigen, die Arbeit auf Erden mit ihrer Last, wo der Blick erdwärts geht und wo wir auf dem Boden schleifen, und die Religion als der aufsteigende Engel, der uns nach oben führt? Die Vereinigung ist nicht leicht, und so gibt es eben Menschen, die sagen: Ja, die Religion macht einen untüchtig für das Leben, sie macht einen unbrauchbar und unpraktisch in Geschäften. Sie ist ja so einfältig und so vertrauend und so leichtgläubig wie ein Kind. Und weil die Sittlichkeit aus der Religion wächst, deswegen kann man auch der Sittlichkeit den Vorwurf machen, sie sei weltfremd, und der wird uns ja fortlaufend gemacht. Wenn wir die Gebote Gottes verkünden, dann sagen die Menschen: Das sind Anweisungen für das Mittelalter, aber nicht für unsere Zeit. Unsere Zeit muss neue Tafeln schreiben. Wir können uns mit den überkommenen sittlichen Normen nicht mehr abfinden.

Tatsächlich, meine lieben Freunde, kommt dem Menschen die Verlegenheit von seinem Reichtum. Er kann die Fülle der Diesseitsaufgaben und des Jenseitszieles häufig nicht meistern. Da regt sich dann der Kleinglaube, und so kommt dann der Mensch dazu, dass er sagt: Die vollkommene Jenseitsliebe und die frische, unternehmende Diesseitsarbeit lassen sich nicht vereinbaren. Da wird der Mensch entweder in scheuem Argwohn seine Diesseitsaufgaben verkommen lassen, und das gibt es ja auch bei manchen Frommen, oder er wird seine Jenseitsliebe begraben, und dieses zweite ist die größere Feigheit, und sie ist so häufig, wie wir alle wissen.

Doch der Herr lehrt uns, nichts zu verachten und nichts wegzuwerfen von dem, was wir besitzen, vor allem nicht die Jenseitsliebe. Aber auch die Lebensinstinkte dürfen wir nicht auslöschen. Der Mensch muss der vielseitigen Sehnsucht seines Wesens eine umfassende Sättigung, eine umfassende Erfüllung zuteil werden lassen. Und das ist ja die Verkündigung der Kirche seit Anfang an. Die Kirche lehrt uns mit unerschütterlicher Festigkeit durch all die Jahrhunderte, dass Ehe und Familie, Staat und Wirtschaftsleben, Erwerb und Wissenschaft, Kunst und Natur von dem einen Gott, dem Schöpfer Himmels und der Erde, stammen und zu ihm zurückführen und dass die Kinder der Kirche sich auf diesen weiten Feldern betätigen können, betätigen sollen und betätigen müssen, ja, dass der Mensch gerade in der treuen Erfüllung seines Lebensberufes den Glauben bewähren und das Himmelreich finden soll. In diesem Sinne schreibt der heilige Apostel Paulus: Wenn jemand für die Seinigen nicht Sorge trägt, für die Hausgenossen nicht Sorge trägt, dann hat er den Glauben verleugnet. Bedenken wir einmal dieses Programm! Wenn einer für die Seinigen, vor allem für die Hausgenossen nicht Sorge trägt, hat er den Glauben verleugnet. Also gerade der Glaube, der hochfliegende Glaube, soll uns befähigen und veranlassen, die irdischen Aufgaben zu erfüllen. Wir sollen ein religiöses Leben von höchster Lauterkeit führen, wir sollen aber auch alles Irdische, Weltliche und Diesseitige, so gering es scheinen mag, in seinen heiligen Umkreis aufnehmen und es einschmelzen in das Gottesreich. „Suchet zuerst das Reich Gottes, und alles andere wird euch hinzugegeben werden.“

So soll also unser Glaube sittliche Tat werden, lebendiges Wirken und Wollen. Und was soll er vollbringen? Er soll mit den Talenten wuchern, die Gott in das Menschenleben gelegt hat, und keines vergraben. Es gibt eine Genügsamkeit, eine schuldhafte Genügsamkeit im katholischen Bereich, dass man sagt: Hauptsache, dass ich den Himmel gewinne. Gewiß ist das die Hauptsache, aber man kann die Hauptsache nicht haben, wenn man die angeblichen Nebensachen nicht richtig bedient. Wir müssen aus den irdischen Wegen das himmlische Gold graben. Wir müssen durch unser irdisches Leben die Ewigkeit erobern. Wir müssen durch unser Arbeiten und unser Tätigsein den Himmel gewinnen. Die kostbare Zeit sollen wir nützen und nicht vermodeln und nicht vertändeln. Die Gaben und Güter der Natur sollen frei, gewiß, geistesfrei und freudig, aber zu bedeutenden Zwecken verwenden: unsere Kräfte, unser Geld, unsere Mittel. Wir sollen uns würdige Aufgaben stellen und Zins tragen und schließlich dadurch die eine kostbare Perle gewinnen. Aus dem Diesseits sollen wir das Gold des Jenseits graben.

Das soll der Christusglaube vollbringen. Gleichzeitig soll er aber auch sich selbst vollenden. Er soll ein vollendetes Menschenbild schaffen. „Lasset uns den Menschen machen nach unserem Bild und Gleichnis“, so heißt es in der Genesis, im ersten Buch der Heiligen Schrift. Und dazu hat Gott dem Gebilde aus Erde seinen Geist eingehaucht, Leben und Gnade. Jenes Gotteswort war das erste göttliche Gebot an den Menschen, denn der Mensch ist noch nicht fertig. Er muss dafür sorgen, dass die Schöpfung Gottes erst zur Vollendung kommt. Er muss durch sein religiös-sittliches Leben sich selbst aufbauen zu einer vollendeten sittlichen und religiösen Persönlichkeit. Er soll ein Gleichbild der ewigen Schönheit in sich herausbilden. Das soll die religiöse Tat vollbringen. Und wahrhaftig, sie ist stark genug, denn die Religion entbindet eine Kraft, und diese Kraft ist stärker als alles. Diese Kraft nennen wir die Liebe. In jeder echten Religiosität steckt eine Einheitskraft, die weit und hoch ist wie der Himmel, und diese Einheitskraft ist die Liebe. „Ihr möget essen oder trinken oder sonst etwas tun, tut alles zur Ehre Gottes!“ Das ist das Programm unserer Diesseitsbewältigung. Da ist uns eine unerschöpfliche Diesseitsaufgabe zugewiesen. Das Essen und Trinken, also die Befriedigung der einfachsten Instinkte, der tägliche Broterwerb, das wirtschaftliche Streben, die wissenschaftliche Forschung, das künstlerische Schaffen, alles das ist aufgenommen in die Kulturformel Pauli: „Ihr möget essen oder trinken, tut alles zur Ehre Gottes!“

Hast du sie schon gesehen, mein lieber Christ, diese Gottesliebe? Hast du sie schon gesehen in ihrer Unermüdlichkeit und Ausdauer, selbst im schwersten Berufe? Wie viele Schritte sie wohl macht an jedem Tage im Dienste anderer in selbstvergessener Aufopferung? Wie ihre Hände doch zerarbeitet sind, und ihre Stirne, wie sie ernst ist von all dem Sorgen und Forschen und Vorsehen! Und die kleinen Rinnsale in ihren Wangen, hast du sie auch gesehen, diese Rinnsale, durch die so viele Kümmernisse geflossen sind? Und dabei ist das Herz gut geblieben und immer gütiger geworden. So ist die Religion Christi eine milde Herrscherin. Sie ist nicht weltflüchtig, aber von unnahbarer Reinheit. Sie ist nicht feindselig und misstrauisch gegen das Diesseitsstreben, aber sie ist frei und hochgesinnt. Sie hat ihre Heimat in ewigen Höhen, aber sie ist den irdischen Dingen darum nicht fremd und nicht fern. Sie ist ein folgerichtiger Jenseitsglaube und unbesiegliche Jenseitsliebe. Aber gerade so gibt sie dem Menschentum seinen abschließenden ganzen Sinn. Sie wird zur Einheitsmacht, die alles Diesseitige durchdringt, die das Vielseitige und Vielfältige und Zerstreute zusammenführt zur Einheit. Ihr möget essen oder trinken oder sonst etwas tun, tut alles zur Ehre Gottes!

Amen.

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