Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
2. Juni 2002

Die göttliche und menschliche Dimension der Kirche

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Jede Zeit hat ihre Probleme. Während der Aufklärung waren es die übernatürlichen Wirklichkeiten, die in der Heiligen Schrift ausgebreitet werden. Man leugnete alle Wunder, alle Weissagungen, das Übernatürliche. Im 19. Jahrhundert war es der Geist, der zum Problem wurde. Man nahm nur noch Materie an. „Kraft und Stoff“, so heißt das Buch eines Materialisten des 19. Jahrhunderts. Nur was man messen, greifen, stoßen, wägen kann, das ist wirklich.

Unser Problem in der Gegenwart ist ein anderes. Es ist die Kirche. Die Kirche ist zum Problem geworden. An der Kirche nehmen viele Anstoß. Die Kirche ist für viele ein Hemmnis, zu Gott zu finden. Wegen der Kirche entfernen sich viele Menschen von Gott. Wir wollen deswegen in dieser Stunde uns vor Augen führen, was die Kirche ist, und wir wollen zwei Sätze aufstellen, nämlich

1. Die Kirche ist etwas Göttliches und

2. Die Kirche ist etwas Menschliches.

Erstens: Die Kirche ist etwas Göttliches. Sie ist von Christus gestiftet, dem Gottessohn. Er hat ihr seine Aufträge, seine Kräfte und seine Wirkungen vermacht. Es gibt kirchengründende Akte Jesu. Es ist nicht so, wie man in den meisten protestantischen und heute auch in katholischen Darstellungen lesen kann, daß die Kirche das Produkt von Pfingsten sei. An Pfingsten ist die Kirche an die Öffentlichkeit getreten, aber sie konnte nur an die Öffentlichkeit treten, weil sie vorher gegründet war. Pfingsten ist die Proklamation dessen, was der Herr den Jüngern aufgetragen hatte, aber es ist nicht der Gründungstag der Kirche. Es gibt kirchengründende Handlungen Jesu. Er hat Jünger berufen, in seine nahe Gemeinschaft gezogen; er hat ihnen Aufträge und Vollmachten gegeben. Er hat den anderen gesagt, daß sie auf diese Beauftragten, Apostel genannt, hören sollten. Er hat ihnen Kräfte vermacht, vor allem die wundervolle Fähigkeit, sein Kreuzesopfer gegenwärtig zu setzen. Es ist keine Frage: Die Kirche ist ein Geschöpf Christi. Die Kirche ist sein Werk.

Aber sie ist nicht nur sein Werk, sie ist auch sein Werkzeug. Durch sie handelt er, durch sie wirkt er. Sie ist sein lebendiges Werkzeug. Sie ist das Auge, mit dem er auf die Welt sieht; sie ist die Hand, die er segnend und heilend auflegt; sie ist der Fuß, mit dem er durch die Zeit wandelt; sie ist die Hand, durch die er die Menschen ergreift. Die Kirche ist etwas Lebendiges. Sie erhält das Leben, und sie erzeugt das Leben, freilich nicht das natürliche, nicht das irdische, nicht das alltägliche Leben, sondern das geistliche, das übernatürliche, das göttliche Leben. Sie erhält sich selbst, und das ist das Zeichen eines lebendigen Organismus. Diese Kirche hat schon bestanden, als Konstantin der Große das Toleranzedikt erließ. Diese Kirche war schon vorhanden, als der Apostel Johannes in Ephesus sein Evangelium schrieb. Diese Kirche war gegründet und hatte schon Bestand, als Paulus die Korintherbriefe verfaßte. Diese Kirche hat es auch verstanden, immer wieder Leben zu wecken, in den Menschen das Leben, das göttliche Leben zu entzünden. Aus dieser Kirche sind immer wieder Menschen hervorgegangen, die lebendig waren, nämlich vom Heiligen Geist lebendig gemacht, und die Leben zündeten in anderen. Die Kirche ist Leben zeugend immer gewesen.

Sie gibt objektives und subjektives Leben. Objektiv gibt sie Leben, indem sie die Menschen zu Christus führt. Die Kirche ist der Raum, in dem man Christus findet. Die Kirche ist die Stätte, in der die Menschen von Christus an der Hand genommen werden, zum Vater geführt werden. Ja, das ist  der ganze Sinn, das ist das Wesen des Christentums, daß Christus sagt: Siehe, Vater, das sind die, die an deinen Namen glauben. Sie sollen deine Kinder sein. Das ist das Wesen des Christentums, daß wir sagen: Mein Jesus, du gehst zum Vater im Himmel: Nimm mich mit! Das geschieht im Bereich der Kirche. Und wer immer zu Christus kommt, ist in irgendeiner Weise von der Kirche erfaßt. Das Wort von der alleinseligmachenden Kirche ist nicht falsch; es muß nur richtig verstanden werden. Die Kirche ist alleinseligmachend. Sie ist es deswegen, weil nur in ihr und durch sie Christus gefunden werden kann, der die Menschen zum Heil führt. Das kann in einer sichtbaren Weise geschehen durch Anschluß an die Kirche. Das kann auch in einer unsichtbaren Weise geschehen, indem die Menschen eben getreu ihrem Gewissen Gott suchen und so unsichtbar zu Gliedern der Kirche gemacht werden.

Die Kirche gibt auch subjektiv Leben, nämlich sie gibt Führung. Das ist für manche Menschen das Ärgerliche an die Kirche. Sie wollen sich von ihr nichts sagen lassen. Ihre Führung im Glauben und in der Sittenlehre ist ihnen verdächtig, ist ihnen zuwider, ja ist ihnen zuweilen verhaßt. Sie berufen sich auf die Autonomie, auf die Selbstbestimmung, auf die Eigengesetzlichkeit. Aber der Traum von der Autonomie ist ein leerer Traum, meine Freunde. Wir alle müssen fortwährend übernehmen, was andere erforscht, erfunden, geschaffen haben. Der Mensch ist niemals autonom. Er ist auf all das angewiesen, was die Umwelt, was die Mitwelt ihm bietet. Und so ist es auch in der Religion. Der Mensch kann sich die Religion nicht selbst schaffen, er muß sie entgegennehmen von dem, der sie begründet hat, von Christus, der weiterlebt in seiner Kirche. Der Mensch ist auch immer führungsbedürftig. Es ist nicht wahr, daß der Mensch sich stets und in jeder Sache selbst vorstehen und führen könnte. Wenn er sich nicht von der Kirche führen läßt, dann eben von einer Partei oder von einer Sekte oder von einem Spiegel. Irgendwie wird der Mensch immer geführt. Wer sich nicht der Führung der Kirche überläßt, der tritt in die Gefolgschaft eines anderen Führers, womöglich eines Verführers, ein.

Die Kirche ist etwas Göttliches, und deswegen gibt sie Gemeinschaft und Einsamkeit. In der Kirche finden sich Menschen gleicher Gesinnung, gleichen Glaubens, gleicher Gesittung. Man wird in der Kirche immer gleichgesinnte und gleichartig gestaltete Menschen finden, mit denen man zusammen zum Himmel geht. „Ein Weg, auf dem wir ziehen, ein Gott, vor dem wir knien, ein Himmel dir und mir.“ Und es gibt in der Kirche auch viele Gemeinschaftsgründungen, Vereine, Verbände, Orden, und alle diese Gründungen zeigen, daß die Kirche etwas Göttliches ist, denn sie werden in einer unerschöpflichen Fruchtbarkeit aus ihrem Schoße geboren. Wenn man glaubt, jetzt ist es um die Kirche geschehen, dann kommt wieder eine neue Gründung, und sie reißt die Menschen mit sich, sie zeigt, daß Gottes Geist noch in der Kirche wirkt und daß die Kirche nicht verloren und schon gar nicht verlassen ist. Die Kirche gibt auch Einsamkeit. Man kann in der Kirche, wenn man das Bedürfnis hat, einsam sein. Es gibt die Eremiten, die in der Einsamkeit leben und Gott durch Buße und Arbeit dienen. Aber auch ohne Eremit zu sein, kann man einsam in der Kirche sein, wenn man es sein will. Man kann sich die Messe aussuchen, in die man gehen will. Man kann sich weit hinten niederlassen, um eben möglichst ungestört zu sein. Niemandem ist das zu verübeln.

Die Kirche gibt Gemeinschaft und Einsamkeit. Sie gibt auch Innerlichkeit und Ausdruck. Ein Mensch, der einmal von der Kirche wirklich berührt worden ist, kann niemals mehr ein ganz oberflächlicher Mensch werden, denn die Kirche vermittelt ihm eine innere Welt, eine innere Wirklichkeit. Auch der einfachste Katholik hat diese innere Wirklichkeit, die sich im persönlichen Gebet, in der einsamen Gewissenserforschung kundtut. Gleichzeitig verschafft sich die innere Wirklichkeit Ausdruck. Die Kirche hat Ausdrucksgestalten geschaffen, die wir bewundern, von den Gewändern, die der Priester trägt, angefangen über die Kirchenbauten, die uns ergreifen bis zu den feierlichen Gottesdiensten, die unser Herz bewegen. Das alles sind Ausdrucksgestalten in der Kirche. Sie deuten das Innerliche an und weisen auf das Innerliche hin.

Weil die Kirche etwas Göttliches ist, können wir an sie als das Werk Gottes glauben und können wir sie als das Werk Gottes lieben. Wir können an sie glauben, weil Gott in ihr wirksam ist. Wir werden gleich im zweiten Teil dieser Überlegungen sehen, daß das Menschliche an ihr stark, manchmal überstark und allzu stark ist, aber irgendwo wird sich das Göttliche sichtbar machen. Es gibt irgendwelche Punkte, und sie sind aufzufinden, an denen wir sehen: Sie ist das Werk Gottes. Deswegen können wir an sie glauben, brauchen nicht irre zu werden an ihr und können sie lieben. Wenn wir eine Reliquie von Jesus hätten, was würden wir sie in Ehren halten! Aber wir haben ein lebendiges Werk von ihm, und das ist seine Kirche. Und so wollen wir sie lieben als Werk Christi.

Die Kirche ist etwas Göttliches. Sie ist auch etwas Menschliches, und zwar zunächst etwas schönes Menschliches. In ihren guten Zeiten hat die Kirche immer den Menschen, auch den ungläubigen, imponiert durch ihre Geschlossenheit, durch ihre Disziplin, durch ihre Zielstrebigkeit. Wie hat sie sich ausgebreitet, wie hat sie ihre Missionare in die Eiswüsten Kanadas geschickt, ebenso in die Gluthitze der Wüste Gobi! Diese Kirche ist etwas menschlich Schönes, und wir haben allen Anlaß, auf diese Kirche stolz zu sein, auf ihre Erfolge, auf ihre Bemühungen, auf ihre segensreiche Werke, die sie geschaffen hat. Sie ist etwas schönes Menschliches.

Sie ist freilich auch etwas bloß Menschliches. Die Menschen, die in ihr leben, sind keine Übermenschen. Die Priester, die Bischöfe, die Päpste, sie sind keine Übermenschen. Wie schwach Menschen sein können, erleben wir ja an dem gegenwärtigen Papst. Eine italienische Zeitung sagte, er sei ein wandelnder Schatten. Ein wandelnder Schatten – das ist ja wohl nicht falsch. Also die Kirche ist auch etwas bloß Menschliches. Bloß menschlich sind auch viele ihrer Gründungen. Das Kardinalskollegium ist etwas bloß Menschliches. Es ist nicht von Christus eingesetzt, sondern die Kirche hat es geschaffen, aus gutem Grund geschaffen, und dieses Kollegium hat in seinen besten Zeiten vieles geleistet. Aber es bleibt etwas bloß Menschliches, und Kardinäle bleiben bloße Menschen. Das ist auch sehr wichtig für uns, wenn wir Äußerungen von kirchlichen Vertretern hören, bei denen wir befremdet sind. Solange sie im Rahmen ihrer Zuständigkeit sprechen, solange sie im Rahmen der Offenbarung bleiben, sind wir verpflichtet, auf sie zu hören. „Wer euch hört, hört mich.“ Aber wenn sie die Grenzen ihrer Zuständigkeit überschreiten, wenn sie sich von der Offenbarung entfernen, dann werden ihre Worte unverbindlich. Wenn ein Prediger etwas sagt, was nicht mit der Offenbarung Christi übereinstimmt, dann hören wir uns das an, aber sagen uns: Das nehme ich nicht an. Wenn ein Bischof etwas sagt zu politischen Dingen, die nicht die Grundsätze betreffen, die ethischen Grundsätze, dann mag er reden, soviel er will, das ist für uns unverbindlich. Die Kirche ist nicht aufgerufen, über das Maß der Zuwanderung zu entscheiden, das ist Sache der Politiker. Wir haben also auch in der Kirche eine beträchtliche Freiheit. Nämlich immer dann, wenn die Menschen in der Kirche nur als Menschen handeln und sich nicht auf ihren göttlichen Auftrag berufen können, sind wir frei, was sie sagen, anzunehmen oder abzulehnen.

Die Kirche ist letztlich auch etwas allzu Menschliches. Allzu Menschlich sind ihre Klöster, ihre Priester; allzu menschlich ist das gläubige Volk. Es ist doch viel, was die Kirche auch an Staub mit sich herumträgt, es ist allzu viel; es ist mehr, als sein sollte. Und deswegen leiden die Heiligen an der Kirche und weinen über die Kirche. Die größten Heiligen haben am meisten an dem allzu Menschlichen der Kirche gelitten und haben sich dagegen gewehrt. Wenn Sie einmal, meine lieben Freunde, lesen würden, was der heilige Bernhard von Clairvaux den zeitgenössischen Bischöfen und Päpsten vorgehalten hat, dann würden Sie staunen, wie dieser von Liebe zur Kirche erfüllte Mensch auf seine Zeitgenossen eingeredet hat. Oder wenn Sie die Briefe, die vielen Briefe der heiligen Katharina von Siena lesen würden, die sie an die Großen ihrer Zeit, auch an die Päpste, richtete, dann würden Sie staunen, wie diese heilige Frau mit ihren Zeitgenossen umgegangen ist. Dem Papste schrieb sie: „Du hast Deine Macht nicht erhalten, damit Du sie nicht benutzt, sondern damit Du sie gebrauchst!“ Die größten Heiligen haben am meisten an der Kirche gelitten. Aber es muß natürlich dieses Leiden an der Kirche ein heiliges Leiden sein, weil es aus einer heiligen Liebe kommt. Es darf kein ressentimentgeladenes Leiden sein, kein bitteres, kein verbittertes, kein haßerfülltes Leiden. Es muß ein Leiden sein, das der Kirche helfen will.

Manche, die die Kirche kritisieren, sind ganz froh, daß die Kirche nicht vollkommen ist, denn sie sagen sich: So, wie sie ist, ist sie nicht vollkommen, also brauche ich mich auch nicht anzustrengen, also brauche ich mich auch nicht zu bemühen. Sie haben geradezu Freude daran, wenn sie von Skandalen in der Kirche hören und berichten können, denn das macht ihr unruhiges Gewissen ruhig, weil sie sich sagen: Die Kirche ist nicht so, wie sie sein soll, also brauche ich mich auch nicht zu bemühen, besser zu werden. Nein, das ist nicht die richtige Weise, wie man Kritik an der Kirche übt. Es muß eine Kritik sein, die aus der Liebe kommt, und man muß der Kirche zu helfen suchen. Wie kann man ihr denn  helfen? Man kann ihr helfen, indem wir selbst Glieder der Kirche werden, welche die Kirche schmücken. Wenn wir die Kirche zieren mit unseren Tugenden, mit unserer Liebe, mit unserer Demut, mit unserer Geduld, mit unserer Großmut, wenn die Kirche durch uns als eine Gemeinschaft der Heiligen erscheint, dann helfen wir der Kirche, dann helfen wir ihr wirklich. Wenn die Menschen sagen: Die Katholiken sind doch anders als die anderen, sie sind doch besser, wenn sie das sagen können, dann haben wir der Kirche geholfen.

An Christus waren zwei Wirklichkeiten zu beobachten, eine göttliche und eine menschliche. Er war derjenige, der dem Sturm sagte: „Schweige! Verstumme!“ Er war aber auch ein Ausgestoßener, ein Geschlagener, ein Mann der Schmerzen, von dem man das Antlitz abwenden wollte. Ähnlich ist es mit der Kirche. Auch sie ist etwas Göttliches und etwas Menschliches. Sie geht ihren Weg wie ihr Meister und Herr mit blutenden Füßen und mit einer Dornenkrone auf dem Haupte, verlacht und verkannt und geschmäht, und dennoch: Sie ist eine Königin!

Amen.

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