Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
24. November 1996

Die Stufen der Entwicklung der Sünde

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Häuser stürzen nicht auf einmal ein. Zunächst lösen Wassertropfen, die nicht abgewehrt werden, den Mörtel auf, lockern die Mauer, und schließlich fällt das ganze Gebäude zusammen. Ähnlich ist es mit der sittlichen Persönlichkeit des Menschen. Nicht auf einmal wird der Mensch zu einem lasterhaften Wesen, sondern die Sünde hat ihre Entwicklung. Wir wollen uns heute die Stufen ihrer Entstehung vor Augen führen.

Jede Sünde beginnt mit einem Gedanken, mit einer Vorstellung. Eine sündhafte Erscheinung tritt in unserem Geiste auf. Nun gibt es in unserer Seele zwei Herren; der eine ist die Sinnlichkeit, der andere ist das Gewissen. Sobald eine sündhafte Vorstellung in unserem Geiste auftaucht, kämpfen die beiden Herren um unsere Seele. Die Sinnlichkeit rät und redet zu. Das Gewissen rät ab und warnt uns. Wir können es niemals dahin bringen, daß wir keine schlechten Gedanken hätten. Der heilige Ephrem der Syrer vergleicht den Menschen mit einer Insel. Die Insel wird fortwährend von den Wellen umspült, aber sie widersteht den Wellen. So ähnlich, meint er, ist es im Menschen; sündhafte Gedanken kommen unweigerlich und unvermeidlich. Aber der Mensch hat die Macht, sie abzuwehren. Die sündhaften Gedanken können auf dreifach verschiedene Weise aus unserem Geist entfernt werden. Einmal, indem wir beten, zum anderen, indem wir uns die schlimmen Folgen der Sünde vor Augen stellen, schließlich, daß wir an Tod und Gericht denken. Wenn man diese Mittel anwendet und sogleich die Gedanken abwehrt, wie man Mücken vom Körper abwehrt, dann vermögen sich die sündhaften Gedanken nicht in uns festzusetzen. Aber noch einmal: Jede Sünde beginnt im Geiste; jede Sünde beginnt mit den Gedanken. Wenn wir sie nicht abwehren, stellt sich das Wohlgefallen an den sündhaften Vorstellungen ein. Das Wohlgefallen ist die zwecklose und zweckwidrige, mit ungeordneter Lust verbundene Vorstellung von Sündhaftem – die zwecklose und zweckwidrige, mit ungeordnetet Lust verbundene Vorstellung von Sündhaftem. Das Wohlgefallen ist also schon ein Fortschritt in der Entstehung der Sünde, ja es ist sogar schon sündhaft, wenn es sich auf etwas Sündhaftes richtet. Das Wohlgefallen bestimmt sich in seiner sittlichen Qualität nach dem Gegenstand, woran wir Wohlgefallen haben. Ist das, woran wir Wohlgefallen haben, eine läßliche Sünde, dann ist auch das Wohlgefallen eine läßliche Sünde. Ist aber das, woran wir Wohlgefallen haben, eine schwere Sünde, dann ist auch das Wohlgefallen eine schwere Sünde.

Wenn das Wohlgefallen anhält, kommt es zur dritten Stufe der Sünde, und das ist die Begierde. Die Begierde ist der Wunsch oder das (vorläufig noch unwirksame) Verlangen nach dem Sündhaften. Bei der Begierde ist der Wille schon beteiligt. Die Begierde ist schon Einwilligung; und deswegen ist die Sünde im Inneren schon außerordentlich weit gediehen. Der Herr selber spricht von dieser dritten Stufe der Sünde in der Bergpredigt. „Ihr habt gehört, daß zu den Alten gesagt worden ist: Du sollst nicht ehebrechen. Ich aber sage euch: Jeder, der ein Weib lüstern ansieht, der hat schon Ehebruch mit ihr begangen.“ Hier ist deutlich, daß das Begehren von Sündhaftem schon die Qualität der (inneren) Sünde hat.

Wenn sich die Gelegenheit gibt, wird das Begehren wirksam werden. Das wirksame Begehren nennt man den Vorsatz. Es ist die vierte Stufe der Sünde. Der Vorsatz ist nämlich der Entschluß, die Mittel anzuwenden, um die Sünde zu begehen. Die Begierde war noch unwirksam, sie war nur ein Verlangen, ein Wunsch nach dem Sündhaften. Der Vorsatz dagegen ist der Entschluß, diesen sündhaften Gegenstand sich anzueignen, wenn sich die Gelegenheit ergibt. Man denkt nach über die Mittel, wie man seiner Begierde zum Erfolg verhelfen kann. Damit ist die innere Sünde vollendet. Wer den Vorsatz gefaßt hat, die Sünde zu begehen, der hat sie in seinem Inneren schon begangen. Dieser Vorsatz ist also grundsätzlich gleichbedeutend an Schwere mit der vollbrachten Sünde, wenn auch – wie wir gleich sehen werden – die Tatsünde dem inneren Geschehen noch etwas an Bosheit hinzufügt.

Die fünfte Stufe ist die Tatsünde. Wenn sich Gelegenheit bietet, wird der Entschluß zur Tat werden. Die vollbrachte Sünde fügt der inneren Sünde noch eine Bosheit hinzu, weil sich nämlich jetzt, wenn die Tatsünde vollbracht ist, die vollbrachte Tat zu dem Willen zurückwendet. Sie stärkt gewissermaßen den Willen. Die äußere Tat vermehrt die Bosheit im Menschen. Jetzt hat er das Schamgefühl verloren, die Sünde ist geschehen, und infolgedessen sind Mauern gefallen, die ihn vor der Sünde bewahrt hätten. Außerdem bringt die Tatsünde weitere schlimme Folgen mit sich. Die Tatsünde gibt Ärgernis, d.h. Anreiz zur Sünde. Wer einen anderen sündigen sieht, der wird dadurch angereizt, dieselbe Sünde zu begehen. Deswegen ja die großen Gefahren, meine lieben Freunde, aus schlechten Büchern, aus schlechten Filmen. Was uns da suggeriert wird, das ist ein Anreiz, nämlich das, was man liest oder sieht, auch zu tun. Ärgernis nennt man diesen Anreiz zur Sünde. Außerdem kommt der Mensch durch die Tatsünde natürlich noch tiefer ins Elend hinein, denn die Sünde schlägt sogleich auf den Sünder zurück. Die Ordnung wehrt sich gegen den, der sie stört. Der Sünder, der die Tatsünde vollbracht hat, zieht sich schließlich Strafe zu, zeitliche oder ewige Strafe.

Wenn die Sünde wiederholt wird, dann kommt es zur sechsten Stufe der Sünde, nämlich zum Laster. Das Laster ist ein eingewurzeltes Sich-Verfehlen gegen Gottes Gebot. Im Laster hat man gewissermaßen Bahnen des Bösen eingeschliffen, und in diese Bahnen kommt man immer wieder hinein. Durch die Wiederholung der Sünde wird der Wille geschwächt. Durch die Wiederholung der Sünde wird eine besondere Fertigkeit und Geneigtheit zum Bösen erzeugt. Man braucht nicht mehr so viel Anstrengung, um das Böse zu tun, man ist daran gewöhnt. Deswegen spricht man auch von Gewohnheitssünde oder von Leidenschaft.

Das Laster bleibt nicht allein, sondern ein Laster zieht ein anderes nach sich. Das ist die siebte Stufe der Sünde. „Das ist der Fluch der bösen Tat, daß sie fortzeugend Böses muß gebären“, heißt es bei Schiller. Wahrhaftig, so ist es. Von den lasterhaften Menschen ist zwar die Gnade gewichen, aber nicht die Versuchung. Der Versucher will den Menschen immer tiefer in seine Fänge bekommen, will ihn immer tiefer in die Schuld hineinziehen, und so häuft er Laster auf Laster. Es bleibt nicht bei einem Laster, sondern ein Laster zieht ein anderes nach sich.

Schließlich – und das ist die letzte, die achte Stufe der Sünde – kommt der lasterhafte Mensch zu himmelschreienden Sünden und zur Verstocktheit gegen den Heiligen Geist. Die himmelschreienden Sünden sind von besonderer Schwere. Sie sind so geartet, daß sie gleichsam um Rache zu Gott rufen. Ich denke etwa an die Sünde der Sodomie, also der gleichgeschlechtlichen Betätigung. Das ist eine der himmelschreienden Sünden. Der Sünder wird immer mehr in die Bosheit hineingezogen; sein Gewissen wird immer mehr zum Schweigen gebracht. Es kommt allmählich zum Haß gegen Gott. „Der Gott, der alles sah, der mußte sterben!“ Der Haß gegen Gott tobt sich aus im Haß gegen sein Werkzeug, die Kirche, und seine Diener, die Priester. Der Haß gegen Gott nähert den Menschen den verworfenen Geistern an, und schließlich verschließt sich der Mensch gegen Gottes Einwirkung, d.h. er begeht die Sünde gegen den Heiligen Geist. Er kommt in den Zustand der völligen Verstocktheit. Das ist gemeint, wenn die Heilige Schrift, in unmittelbarer Weise redend, sagt: Gott verstockt einen Menschen. Das heißt, er hat sich gegen die Gnade gewehrt, jetzt flieht die Gnade von ihm und kann seine harte Seele nicht mehr erweichen.

„Christ, wenn du einen siehst so stark zur Hölle rennen, den magst du ohn’ Bedacht den größten Narren nennen“, hat unser schlesischer Dichter Angelus Silesius gedichtet. Ja wahrhaftig, so ist es. Wenn man einen sieht, der stark zur Hölle rennt, den kann man nur einen Narren nennen!

Amen.

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