Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
15. Mai 1994

Das falsche Verständnis der Gnadenlehre

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Im 16. Jahrhundert sind Männer aufgestanden, die ihre private Auslegung der Heiligen Schrift gegen die amtliche Auslegung durch die geistgeleitete Kirche stellten. Ihr Führer hieß Martin Luther. Sie haben nicht nur gegen offenkundige Mißstände, die es damals natürlich wie in jeder Zeit der Kirchengeschichte gab, Stellung genommen, sondern sie haben den Glauben der Kirche in bestimmten Teilen verworfen. In ihren Schriften, die sie als Bekenntnisschriften betrachten, finden sich Verwerfungen, d.h. also Zurückweisungen, Ablehnungen katholischer Glaubenswahrheiten. So sind sie dazu gekommen, eine neue Religionsgemeinschaft zu gründen.

Die katholische Kirche setzte sich gegen diese Irrlehrer zur Wehr. Die zeitgenössischen Päpste haben mehrfach gegen die Aufstellungen Luthers Stellung bezogen. Aber vor allem hat das Konzil von Trient, das von 1545 bis 1563 tagte, Verurteilungen der Irrlehren, die Luther und seine Gefolgsleute aufgebracht hatten, ausgesprochen.

Man hat sich in den vergangenen 450 Jahren wiederholt bemüht, die Gegensätze, die zwischen der katholischen Kirche und den protestantischen Denominationen bestehen, auszuräumen. Es ist niemals auch nur ansatzweise gelungen. Nun hat sich, als der Heilige Vater 1980 in Deutschland weilte, nach seinem Willen eine Kommission von katholischen und evangelischen Theologen zusammengefunden, welche die Lehrverwerfungen zwischen Lutheranern und Katholiken aufarbeiten sollten. Zwischen Lutheranern und Katholiken. Es gibt im Protestantismus aber noch andere Protestanten, die keine Lutheraner sind. Doch diese Kommission beschränkte sich auf die Gegensätze zwischen Lutheranern und Katholiken. Sie hat das, was sie ihr Ergebnis nennt, im Jahre 1987 veröffentlicht unter dem Titel „Lehrverurteilungen – kirchentrennend?“. In diesem Buche sind nur einige Gegenstände herausgegriffen, die zwischen der katholischen Kirche und den protestantischen Gemeinschaften kontrovers sind: die Lehre von der Rechtfertigung, die Lehre vom Amte, die Lehre von den Sakramenten, vor allem von der Eucharistie.

Wir haben uns an den vergangenen Sonntagen mit mehreren dieser Lehrverurteilungen beschäftigt und haben erkannt, daß in der Regel eine etwa gefundene Harmonie zwischen katholischer Lehre und protestantischen Aufstellungen dadurch zustandekommt, daß entweder der katholische Standpunkt oder die protestantische Meinung oder beide verzeichnet werden. Dieses Urteil wird von vielen, ja, soweit ich sehe, von den allermeisten evangelischen Theologen geteilt. Sie sind ebenfalls wie ich davon überzeugt, daß diese Kommission den katholischen Standpunkt nicht in der vollen Klarheit dargestellt hat, aber ebensowenig auch die protestantische Position eindeutig und zutreffend beschrieben hat.

Am vergangenen Sonntag beschäftigten wir uns mit dem Kontroversthema der Rechtfertigung. Rechtfertigung ist die Versetzung aus dem Zustand, in dem wir als Kinder Adams geboren werden, in den Zustand der Annahme zu Gotteskindern durch Jesus Christus, den zweiten Adam. Oder mit katholischer Begrifflichkeit ausgedrückt: Unter Rechtfertigung versteht man den Übergang von der Gnadenlosigkeit in den Gnadenstand, den Erwerb der heiligmachenden Gnade. In bezug auf die heiligmachende Gnade – oder die Rechtfertigung, protestantisch gesprochen – bestehen unaufhebbare Gegensätze. Ich will sie in drei Ausdrücken zusammenfassen.

Der Protestantismus lehrt: Die Rechtfertigung ist zwischen katholischer Lehre und protestantischer Ansicht mit Glaubensgewißheit feststellbar, sie ist bei allen Menschen gleich, und sie ist grundsätzlich unverlierbar. Die katholische Wahrheit dagegen lautet: Es gibt keine Glaubensgewißheit über den erlangten Gnadenstand. Die Gnade ist nicht bei allen Menschen gleich. Die Gnade ist verlierbar.

Der erste Punkt befaßt sich mit der Glaubensgewißheit. Luther lehrt, und das war so tröstlich für die Menschen, wie überhaupt sein neues Evangelium alles Beschwerliche und Anstrengende der kirchlichen Lehre möglichst zu umgehen trachtete, Luther lehrt: Der Mensch weiß mit Glaubensgewißheit, daß er gerechtfertigt ist. So sicher wie der (von Gott verbürgte) Glaube ist, so sicher ist sein Wissen, daß er in der Gnade, in der Rechtfertigung lebt. Dagegen hat die katholische Kirche entschieden Stellung genommen. Glaubensgewißheit und Gnadengewißheit sind ganz verschiedene Dinge. Natürlich sind die Wahrheiten, die Gott offenbart und die wir im Glauben annehmen, auf der höchsten Gewißheitsstufe angesiedelt. Der Inhalt des Glaubens ist absolut gewiß, aber ob sich das, was Gott verheißen und gelehrt hat, an mir erfüllt, das ist ungewiß! Das weiß ich zumindest nicht mit Glaubensgewißheit. Dafür gibt es keine solche Sicherheit, wie sie der Glaube hat. Man kann mit guten Gründen annehmen, hoffen, überzeugt sein, daß man im Gnadenstande ist. Wenn man die Sünden bereut hat, wenn man redlich gebeichtet hat, wenn man die gültige Lossprechung empfangen hat, dann dürfen wir tatsächlich mit moralischer Gewißheit annehmen, daß wir im Stande der heiligmachenden Gnade sind. Aber eine solche Gewißheit, wie sie der Glaube verleiht, haben wir auch dann nicht.

Die Kirche beruft sich für diese Lehre auf die Heilige Schrift. Sie zitiert beispielsweise den Apostel Paulus, der nun wirklich begnadet war wie wenige andere, der aber geschrieben hat: „Ich bin mir zwar nichts bewußt, aber deswegen noch nicht gerechtfertigt.“ Sie ist also davon überzeugt, daß diese Glaubensgewißheit, wie sie von Luther behauptet wird, nicht existiert; denn wir müssen zittern, zwar nicht bezüglich Gottes Verheißungen, wohl aber hinsichtlich unserer Disposition, unserer Vorbereitung, unseres guten Willens, unserer Bereitschaft zur Mitwirkung mit der Gnade. Deswegen kommt es zur Ungewißheit bzw. zu einer nicht mit der Glaubensgewißheit vergleichbaren lediglich moralischen Gewißheit, so wie sie eben ein Mensch aus seinen Beobachtungen und Überlegungen gewinnen kann. Diese Gewißheit nennt man moralische Gewißheit. Wir können also eine hohe Wahrscheinlichkeit, daß wir in der Gnade sind, haben, aber diese Wahrscheinlichkeit reicht nicht an die Gewißheit über die Wahrheit dessen heran, was Gott uns geoffenbart hat.

Der zweite Punkt ist die Gleichheit der Rechtfertigung oder die Gleichheit der Begnadung. Für Luther ist die Rechtfertigung nichts anderes als die Anrechnung der Gerechtigkeit Christi. Der Mensch bleibt ein Sünder, aber es wird ihm äußerlich die Gerechtigkeit Christi angerechnet. Weil diese Anrechnung immer nur dieselbe sein kann, ist die Rechtfertigung bei allen Menschen die gleiche. Er sagte wörtlich: „Maria ist nicht größer und ist nicht heiliger als alle anderen Menschen.“ An diesem Beispiel sehen wir schon, daß das nicht richtig sein kann, was hier gelehrt wird. Denn Gott teilt einem jeden zu, wie er will. Und wenn Maria „voll der Gnade“ ist, dann ist damit gesagt, daß sie die Gnade in einem Maße empfangen hat, wie es andere Menschen nicht erhalten haben. Gott teilt einem jeden zu, wie er will. Davon leitet sich die Ungleichheit der Gnade ab. Er ist frei in seinem Schenken, er kann mehr oder weniger Gnade geben. Und der zweite Grund, warum die Gnade ungleich ist, liegt in uns Menschen, weil wir nicht alle mit gleicher Kraft der Gnade zuarbeiten, mit ihr uns betätigen, mit ihr wirken, weil wir ihr nicht mit gleicher Inbrunst und Sehnsucht entgegengehen. Das ist der zweite Grund, warum die Gnade nicht bei allen Menschen gleich sein kann.

Wenn ich in dieser Kapelle eine Reihe von Lampen anzünde, wird es hell. Aber wenn ich mehr oder gar alle Lampen anzünde, wird es noch heller. Ähnlich-unähnlich ist es mit der Gnade. Wer begnadet ist, wer gerechtfertigt ist, der lebt im Frieden und in der Freundschaft mit Gott. Aber dieser Friede und diese Freundschaft mit Gott sind der Vertiefung und der Vermehrung fähig. Diese Vermehrung, diese Vertiefung findet statt durch Gebet. durch den Empfang der heiligen Sakramente und durch gute Werke. Wiederum ein Gegensatz zur lutherischen Ansicht. Luther wollte die guten Werke nur gelten lassen als Früchte der Rechtfertigung. Nein, sagt das Konzil von Trient, sie sind zwar Früchte der Rechtfertigung, aber sie sind gleichzeitig die causa, der Grund für die Vermehrung der heiligmachenden Gnade. Und so lehrt die Kirche denn bei den Sakramenten, meinetwegen beim Ehesakrament, daß derjenige, der eine Ehe schließt, nicht nur ein Band zwischen sich und seinem Partner begründet, sondern daß ihm auch die heiligmachende Gnade, in der er steht, vermehrt wird. Es gibt eine Vermehrung der heiligmachenden Gnade.

Der dritte Gegensatz ist die Verlierbarkeit bzw. die Unverlierbarkeit der Gnade. Nach Calvin ist die Rechtfertigung – oder der Gnadenstand – absolut unverlierbar. Wen Gott prädestiniert, vorausbestimmt hat, der mag tun was er will, er wird immer im Gnadenstande bleiben. So extrem ist Luther nicht. Luther sagt, die Rechtfertigung kann verloren gehen, aber nur durch eine einzige Sünde, nämlich durch die Aufgabe des Fiduzialglaubens. Wer den Fiduzialglauben verliert, der fällt tatsächlich aus der Rechtfertigung heraus. Das ist natürlich eine sehr tröstliche Lehre, und deswegen hat sie ja auch im 16. Jahrhundert die Massen angezogen und zieht sie noch immer an. Man kann sündigen, soviel man will, Hauptsache ist, daß man den Glauben bewahrt, dann bleibt man in der Rechtfertigung. Das ist ein bequemes Evangelium, nicht wahr, das verstehen wir alle. Und deswegen ist sein Wort bei den Massen so gut angekommen: „Pecca fortiter sed crede fortius!“ Das heißt zu deutsch: Sündige nur kräftig, aber glaube kräftiger! Das ist genuin lutherische Lehre! Das ist ein Evangelium, wie es die Massen haben wollen. Hauptsache den Fiduzialglauben bewahren, und im übrigen können die Sünden, noch so große Sünden, der Rechtfertigung nichts anhaben.

Wir alle wissen fast instinktiv aus unserem katholischen Glauben, daß das nicht stimmen kann. Das Evangelium lehrt ganz anders. Da heißt es nicht, daß man bloß durch Aufgeben des Glaubens sich von Christus trennt, aus der Gnade herausfällt, die Freundschaft Gottes verliert, sondern im Evangelium ist uns überliefert, daß jede schwere Sünde uns aus dem Gnadenstand herausfallen läßt. Etwa wenn der Apostel Paulus im 1. Korintherbrief fragt: „Oder wisset ihr nicht, daß Ungerechte das Reich Gottes nicht erben werden?“ Und jetzt zählt er auf, wer die Ungerechten sind: „Täuschet euch nicht, weder Unzüchtige noch Götzendiener, weder Ehebrecher noch Weichlinge, weder Knabenschänder noch Diebe, weder Habsüchtige noch Trunkenbolde, weder Lästerer noch Räuber werden das Reich Gottes erben.“ Sie erben es deswegen nicht, weil sie nicht in der Gnade stehen, weil sie aus der Gnade herausgefallen sind. Diese Aufzählung ist keineswegs vollständig, sondern ist nur einer jener Lasterkataloge des Neuen Testamentes, in denen Todsünden nebeneinandergestellt werden. Und so hat es das Konzil von Trient mit der ganzen Vorzeit gelehrt: Jede schwere Sünde kostet bringt uns um den Gnadenstand. Jede schwere Sünde trennt von Gott. Der Glaube kann dagegen mit der schweren Sünde bestehen, denn der Glaube wird nur vernichtet durch eine Sünde, die gegen den Glauben gerichtet ist, also durch den Unglauben. Dadurch wird der Glaube verloren. Aber der Glaube kann weiterbestehen, wenn auch nicht als lebendiger, so doch als wahrer Glaube, auch mit anderen Sünden.

Das ist also der dreifache Gegensatz, meine lieben Freunde, hinsichtlich der Rechtfertigung. Die katholische Kirche lehrt: Man kann nicht mit Glaubensgewißheit überzeugt sein, daß man im Gnadenstande ist; es gibt nur eine moralische Gewißheit. Der Gnadenstand ist nicht bei allen gleich, sondern verschieden je nach Disposition und Gottes Schenkungswillen; er kann auch vermehrt werden durch gute Werke. Die Gnade ist verlierbar, sie geht durch jede schwere Sünde verloren.

Und nun behaupten die Autoren des Buches „Lehrverurteilungen – kirchentrennend?“, es bestünden in der Gnadenlehre keine wesentlichen Gegensätze mehr zwischen Protestantismus und katholischer Kirche, die Verurteilungen seien aufgearbeitet, und man sei sich im wesentlichen einig über die bisher kontroversen Gegenstände. Gegen diese voreilige Harmonisierung sind eine Menge evangelischer Theologen aufgestanden und haben gesagt: Das, was ihr da sagt, ihr Kommissionsmitglieder, das stimmt nicht. Die Verurteilungen des Konzils von Trient treffen nach wie vor die evangelische Lehre. Ich habe hier in der Hand das Buch „Überholte Verurteilungen“. Das ist eine Schrift, die von der evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Göttingen herausgegeben worden ist. In diesem Buch prüfen diese sehr angesehenen evangelischen Theologen das Buch „Lehrverurteilungen – kirchentrennend?“, und sie kommen zu ganz gegensätzlichen Entscheidungen. Sie sagen: Die Behauptung, die evangelische Lehre werde durch das Konzil von Trient nicht mehr getroffen, ist falsch.

Die Autoren zitieren z.B. aus dem Konzil von Trient den Kanon XXIV über die Rechtfertigung, der die ausschließt, die sagen, daß die Gerechtigkeit des Christen nicht durch gute Werke bewahrt und vermehrt werde. Sie bemerken dazu: „Der Kanon trifft die evangelische Position gegen die nichtbegründete Behauptung von „Lehrverurteilungen“, er treffe sie nicht.“ Oder eine andere Stelle. Es wird der Kanon XXVII über die Rechtfertigung zitiert, der jene ausschließt, die lehren, daß es keine Todsünde gebe außer dem Unglauben. Dagegen sagen die evangelischen Theologen von Göttingen: „Der erste Teil des Kanons trifft die evangelischen Kirchen, denn sie lehren, was er verwirft.“

So könnte ich weiter fortfahren und an weiteren Gegenständen zeigen, daß das Buch „Lehrverurteilungen – kirchentrennend?“ zur theologischen Makulatur gerechnet werden muß. Man kann sich darauf nicht verlassen. Die Gegensätze in der Gnadenlehre zwischen der Kirche Gottes und den von ihr getrennten religiösen Verbänden bestehen in voller Schärfe weiter. Der katholische Glaube läßt sich nicht umbiegen und schmälern. Wir haben das Glück, daß wir ihm angehören dürfen, und wir wollen ihm dienen und ihn verteidigen bis zum letzten Atemzug unseres Lebens.

Amen.

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