Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
4. April 1994

Hinabgestiegen in das Reich des Todes

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

„Der Sinn des Leidens Jesu ist die Auferstehung. Nach seiner Auferstehung stirbt er fürderhin nicht mehr, und der Tod herrscht nicht mehr über ihn.“ So hat einmal Origenes, einer der frühesten Kirchenschriftsteller, in einem seiner Werke geschrieben. Jesus war das Leben in Fülle und in Person. In ihm ist das Leben auf Erden erschienen. Der Tod hatte keinen Anteil an ihm. Dennoch ist er in den Tod hineingegangen. Der Tod verlor dadurch nichts von seiner Furchtbarkeit, daß er das Leben war. Im Gegenteil, weil er vom Wesen her lebendig war, weil er nicht zu den Todverfallenen gehörte, weil der Tod nicht schon in ihm saß und seine Lebenskraft aufzehrte, deswegen konnte er den Tod in einer ganz anderen Weise auskosten als wir Todverfallenen.

Aber er konnte nicht im Tode bleiben. Der Tod konnte ihn nicht festhalten. Er ging in den Tod hinein, um durch ihn hindurchzugehen. Er nahm den Tod auf sich, um ihn zu entmächtigen. Der Sieg über den Tod kam zum Ausdruck in seiner Auferstehung. Da trat aus ihm heraus, was immer in ihm war, nämlich daß er das Leben war, daß er Macht hatte, das Leben hinzugeben und das Leben wieder zu nehmen.

Nach seiner Auferstehung hat der Herr die irdische Lebensform abgeworfen, ist er verklärt worden. Aber wie ist es denn in diesem Zeitraum vom Karfreitag bis zum Ostersonntag um ihn bestellt gewesen? Hat sich da der Logos, die zweite Person der Gottheit, von seiner menschlichen Natur getrennt? Mitnichten! Der Logos blieb verbunden mit dem entseelten Leib, und der Logos blieb verbunden mit der Seele. Der Leib wurde ins Grab gelegt, die Seele stieg hinab in die Unterwelt. „Hinabgestiegen in die Hölle.“ So haben wir als Kinder im Glaubensbekenntnis gelernt. Heute ist es umformuliert: „Hinabgestiegen in das Reich des Todes.“ Hat sich dadurch etwas geändert am Glauben? Mitnichten! „Hinabgestiegen in die Hölle“, das wurde immer verstanden in dem Sinne, daß Christus in die Vorhölle hineingegangen ist, also nicht in den Zustand der Verdammten, sondern in jene Stätte, wo die Geretteten weilten.

Im Katechismus aus dem Jahre 1926 heißt es: „Wohin begab sich die Seele Jesu nach seinem Tode? Die Seele Jesu stieg nach seinem Tode in die Vorhölle hinab zu den Seelen der verstorbenen Gerechten.“ Daß wir heute nicht mehr von der Hölle sprechen, ist dem Bestreben zu verdanken, mehr Klarheit in die Formulierung zu bringen. Denn das hebräische, das griechische und das lateinische Wort für Hölle und Unterwelt ist dasselbe. So kann man also jeweils von der Scheol oder vom Tartaros oder vom Infernum sagen, das ist einerseits die Stätte, wo die Verdammten sind, das ist andererseits die Stätte, wo die geretteten, aber noch unerlösten Seelen sich befinden. Also kein Widerspruch, sondern nur eine grammatikalische Verdeutlichung war mit der Neuformulierung beabsichtigt.

Der Hinabstieg Jesu in die Vorhölle, in das Reich des Todes, in die Unterwelt, ist in der Heiligen Schrift ausgesagt. Im 1. Brief des Apostels Petrus heißt es: „Ist ja doch auch Christus einmal für unsere Sünden gestorben, der Gerechte für Ungerechte, damit er uns zu Gott führe. Dem Fleische nach wurde er getötet, dem Geist nach aber lebendig gemacht. Im Geist ging er auch hin und predigte den Seelen im Gefängnis, die einst ungläubig gewesen waren zur Zeit, als Gottes Langmut zuwartete, in den Tagen Noes, als die Arche gebaut wurde. Im Geiste ging er auch hin und predigte den Seelen im Gefängnis.“ Mit diesem Gefängnis ist natürlich nichts anderes gemeint als die Vorhölle, als das Reich des Todes, das diese Seelen festgehalten hat. Sie konnten noch nicht in die Seligkeit eingehen, weil Christus noch nicht das Allerheiligste durchschritten hatte. Im Brief an die Hebräer wird das deutlich gemacht. Da ist die Rede davon, daß der Hohepriester nur einmal im Jahr ins Allerheiligste eintrat, und zwar mit Blut. Damit deutete der Heilige Geist an, daß der Weg zum Heiligtum noch nicht geöffnet sei, solange die Zeit der Unerlöstheit noch Bestand hatte. Das heißt, die Seelen der Gerechten, die abgeschieden waren vor der Ankunft Jesu, waren gleichsam im Wartestand. Sie harrten auf die Erlösung, die sich erst an ihnen auswirken konnte, als das Werk der Erlösung von Christus vollbracht war.

So hat es die Kirche in ihren Glaubensbekenntnissen festgelegt, z.B. auf dem IV. Laterankonzil im Jahre 1215. Da ist es besonders ausführlich. „Er stieg nieder zu denen in der Unterwelt. Er erstand von den Toten und stieg auf in den Himmel, dabei stieg er nieder in seiner Seele. Erstand er im Fleische, stieg er auf in Weilen zugleich.“ Wie wunderbar hat dieses Konzil die Wahrheit, die wir ja auch an Ostern feiern, ausgedrückt! Der Sinn der Höllenfahrt Jesu, der Sinn seines Hinabstieges in die Unterwelt, war darin gelegen, daß er den Seelen jener, die im Zustand der Gottverbundenheit abgeschieden waren, die Befreiung, den Sieg über Sünde, Tod und Teufel ankündigte und sie gleichzeitig wirksam befreite.

Diese Wahrheit, meine lieben Freunde, erinnert mich an ein Ereignis, das im 15. Jahrhundert in Spanien stattfand. Bekanntlich haben die Spanier in einem jahrhundertelangen Kampf die Mohammedaner, die in ihr Land eingedrungen waren, zurückgeworfen, und die endliche Vertreibung erfolgte durch die Könige Ferdinand und Isabella. Als diese beiden Könige die Bergfeste Moklin bei Granada erstürmt hatten, feierten sie einen großen Triumphzug. Ritter, Knechte, Priester und der Hofstaat veranstalteten eine Prozession, und bei dieser Prozession sangen sie das Te Deum, das „Großer Gott, wir loben dich“. Und wie sie nun dahinschritten, erhob sich auf einmal ein dunkler Antwortgesang aus den Verliesen der Bergfestung. Da scholl es zurück: „Benedictus, qui venit in nomine domini – Hochgelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn!“ Das war der Gesang der Gefangenen, die die Mohammedaner jahre- und jahrzehntelang dort eingesperrt hatten. Sie hatten jetzt an der Prozession erkannt, daß der Sieg errungen war, daß sie frei werden würden, daß ihr langes Harren endlich belohnt würde. Ähnlich-unähnlich dürfen wir uns jenes Ereignis vorstellen, in dem der Herr die harrenden Seelen der Vorzeit aus ihrem Gefängnis befreite.

Die Wahrheit von dem Hinabstieg Jesu in die Unterwelt ist weder unwichtig noch peinlich. Sie ist nicht unwichtig, weil sie die Allgemeinheit der Erlösung bezeugt. Erlöst werden sollten nicht nur die Zeitgenossen Jesu, auch nicht nur die, die nach ihm kommen würden, nein, erlöst werden mußten auch jene, die vor ihm gelebt hatten. Die Allgemeinheit der Erlösung wird also durch die Lehre von dem Hinabstieg Jesu in die Unterwelt bestätigt und uns vor Augen geführt. Diese Wahrheit ist auch nicht peinlich. Mit dem Totenreich hat es eben seine eigene Bewandtnis. Es hat seine Eigenart, und diese ist in zwei Elementen zu sehen. Erstens: Vom Totenreich erfährt nur jener etwas, der in es hinabsteigt. Solange man lebt, weiß man nichts davon. Erst wenn die Schwelle überschritten wird zum anderen Leben, erst dann weiß man, was der Tod ist. Und zweitens: Die einmal in dem Totenreich sind, haben grundsätzlich nicht die Möglichkeit, Kunde von ihren Erfahrungen zu geben. Sie müssen schweigen. Sie sind zum Schweigen verurteilt.

Der Herr hat uns den Grund gesagt, warum das ist und so sein muß, nämlich im Gleichnis vom reichen Prasser und vom armen Lazarus. Der in der Hölle begrabene reiche Prasser sagt: Ach, schicke doch einen von den Verdammten zu meinen Brüdern, daß er sie warne, daß sie nicht auch an diesen Ort der Qualen kommen. Da gibt ihm Abraham zur Antwort: „Sie haben Moses und die Propheten. Wenn sie die nicht hören, werden sie auch nicht auf einen hören, der aus dem Totenreich zu ihnen kommt!“ Damit ist der Einwand erledigt, daß niemand aus dem Totenreich den Lebenden predigt.

Nun werden gegen die Wahrheit vom Hinabstieg Jesu in die Vorhölle Einwände vorgebracht. Sie leiten sich aus der Religionsgeschichte her. Man verweist auf angeblich oder wirklich ähnliche Vorstellungen in femden Religionen. Die Parallelen aus der Religionsgeschichte sind eine ungeheuere Gefahr für unsere Kinder. Sie tauchen in den Religionsbüchern auf; dort werden buddhistische und hinduistische und shintoistische Vorstellungen neben die katholische, neben die christliche Wahrheit gestellt, als ob das alles auf ein und derselben Ebene stünde. In Wirklichkeit sind Geschichte und Mythos unvergleichbar, durch Welten geschieden, durch eine Kluft getrennt, über die keine Brücke führt. Also es geht jetzt darum, die Einwände zu betrachten, welche die liberale Religionsgeschichte gegen die Wahrheit vom Hinabstieg Jesu in die Unterwelt erhebt. Man sagt, das sei ein Einzelfall von den vielen mythischen Erzählungen, wo Heroen und Götter in die Unterwelt hinabsteigen und bei dieser Bewegung in einen Kampf geraten.

Gegen diese Ableitung der christlichen Wahrheit vom Hinabstieg Jesu in das Reich des Todes gibt es zwei schwerwiegende Einwände. Erstens: Die Lehre von der Verkündigung der Erlösung an die Verstorbenen der Vorzeit ist ein Glied in dem großen Ganzen, das wir nennen „Werk und Person Jesu Christi“. Und dieses eine große Ganze, Werk und Person Jesu Christi, ist geschichtlicher Art. Von den Mythen hat niemand angenommen, auch nicht diejenigen, die diese Mythen erzählt und verbreitet haben, daß sie Wirklichkeit sind. Sie wurden so erzählt, wie wir Grimms Märchen erzählen. Dagegen hier bei Jesus geht es um geschichtliche, tatsächliche, wirkliche Vorgänge. In den Mythen spricht sich eben die wabernde Phantasie des Menschen aus, die in dumpfer Weise etwas ahnt von der Wirklichkeit Gottes. In der Lehre vom Hinabstieg Jesu in die Vorhölle dagegen haben wir das Zeugnis der Wahrheit für einen wirklichen, geschehenen Vorgang.

Der zweite Einwand: Der Sinn der Hadesfahrten ist ein ganz anderer als der Sinn des Hinabstiegs Jesu in die Unterwelt. In den orientalischen, griechischen und römischen Erzählungen von den Hadesfahrten wird ein hin- und herwogender Kampf zwischen den hinabsteigenden und den unterirdischen Göttern erzählt. Die hinabsteigenden Götter unterliegen häufig in diesem Kampfe oder müssen ihren Tribut entrichten an die unterirdischen Götter. Nicht so in der katholisch-kirchlichen Lehre vom Hinabstieg Jesu. Daß Jesus in freier Überlegenheit ein für allemal den Tod für die ganze Menschheit überwunden hat, das ist total verschieden von dem, was diese erfundenen Vorstellungen erzählen. Geschichtlicher Bericht und dichtende Phantasie sind unvergleichlich. Die kirchliche Lehre ist unangreifbar von den mythischen Hadesfahrten.

Dennoch kann man zugeben, daß sich in den mythischen Erzählungen die Sehnsucht nach der Wirklichkeit ausspricht, die uns in der kirchlichen Lehre übermittelt ist. Außerdem benutzen die Kirchenväter oft die heidnischen Erzählungen als Stilmittel, als Darstellungsmittel, um die kirchliche Wahrheit vom Hinabstieg Jesu in das Reich des Todes darzustellen. Man muß also zwischen dem Inhalt, der ein Geschehnis ist, und dem Sprachkleid, das man diesem Geschehnis anzieht, unterscheiden.

Wir wollen also, meine lieben Freunde, das Evangelium nicht verkürzen, indem wir eine ganze Dimension der Erlösung weglassen. Wir wollen das ganze Evangelium hören, uns aneignen und uns dadurch in der Überzeugung festigen, daß die Erlösung Christi der Kraft nach – nicht der Wirkung nach –, der Intention, der Absicht nach, für alle Menschen geschehen ist, für die Menschen, die seine Zeitgenossen waren, für die Menschen, die nach ihm kommen würden, und für die Menschen, die vor ihm im Frieden mit Gott abgeschieden waren.

Amen.

Schrift
Seitenanzeige für große Bildschirme
Anzeige: Vereinfacht / Klein
Schrift: Kleiner / Größer
Druckversion dieser Predigt