Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
26. Mai 1991

Die Angriffe des Unglaubens

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

„Was dünkt euch von Christus? Wessen Sohn ist er?“ Das war das große Thema, das wir uns zu überlegen vorgenommen haben. Das Christentum hängt nun einmal an Christus, und was man von Christus denkt, das ist maßgebend für das Christentum. Man bräuchte über dieses Thema nicht viel zu sagen, wenn nicht Irrlehrer aufgestanden wären, welche den kirchlichen Glauben an Christus untergraben, aushöhlen, systematisch zerstören. Diese Bekämpfung des kirchlichen Christusglaubens hat im 18. Jahrhundert begonnen. Es waren vor allem protestantische Theologen, die diesen Kampf geführt haben und bis heute führen. Aber sie haben in der nachkonziliaren Periode Verstärkung bekommen durch sogenannte katholische Theologen. Diese traurige Tatsache erfahren Sie an Ihren Kindern und Kindeskindern. Was sie im Unterricht und in den Lehrbüchern vorgesetzt bekommen, das sind zum Teil irrige Meinungen über Jesus, den Christus.

Der Übeltäter ist nach der Meinung dieser Irrlehrer der Apostel Paulus. Er soll den ideologischen Christusglauben geschaffen und ihn der Urgemeinde aufoktroyiert haben. Die Urgemeinde hatte angeblich noch den richtigen Glauben, nämlich an Jesus, den Nazarener, den Sohn des Josef und der Maria. Aber dieser schlichte, einfache Glaube sei eben durch die Vergöttlichung Jesu ersetzt worden, und das habe Paulus zu verantworten. Die einen sehen den Ansatzpunkt für das Tun des Paulus im Alten Testament und in den jüdischen Messiashoffnungen. Er habe diese Vorstellungen aufgenommen, umgeformt und auf Jesus, den Nazarener, übertragen. Die anderen sind der Meinung, daß es aus dem Heidentum stammende Begriffe waren, die zu der Steigerung der Person Jesu geführt haben, nämlich jene von dem Kyrios; das ist das griechische Wort für Herr. Diese Kyrios-Vorstellung aus dem Heidentum habe Paulus auf Jesus Christus übertragen und ihn so zu einem göttlichen Wesen gemacht, das er gar nicht gewesen sei. Jesus sei also von Paulus zum Messias erhoben worden – das Wort Christus ist ja die Übersetzung des Wortes Messias –, und Jesus sei von Paulus zum Kyrios, zum Herrn, erhoben worden. Beides sei er nicht gewesen.

Wer war Paulus, dem solche Ungeheuerlichkeiten unterschoben werden? Er war ein Jude aus dem Stamm Benjamin, er war ein studierter Mann. Er war ein Eiferer für die Überlieferung des jüdischen Volkes, ein gesetzestreuer Pharisäer, und als solcher geradezu immun gegen den Versuch, einen Menschen zum Gott zu erheben. Das war für ihn als Kenner der Schrift das schlimmste Verbrechen, das es geben konnte, das größte Ärgernis, das jemand begehen konnte, eine Blasphemie, eine Gotteslästerung, auf der die Todesstrafe stand. Wie soll es psychologisch möglich sein, daß ein Mann mit solcher Gesinnung einen Menschen zum Gott erhebt gegen seine ganze Überzeugung, gegen die Lehre seiner Väter, gegen die Meinung des Volkes? Wie soll das psychologisch möglich sein?

Was die alttestamentliche Herleitung der Christologie des Paulus anlangt, so ist sie oft behauptet, aber nie bewiesen worden. Man kann vielmehr den Gegenbeweis führen. Das Alte Testament kannte die Messiasvorstellung, ohne Zweifel. Unter den mannigfachen Aussagen des Alten Testamentes über den Messias, also den Christus, ragt hervor die Weissagung vom leidenden Messias im 53. Kapitel des Prophetenbuches des Isaias, wo vom „leidenden Gottesknecht“ die Rede ist, der sein Volk durch sein Leiden erlöst, der um unseretwillen mit Striemen geschlagen wurde, auf dem die Last unserer Sünden lag. Das wäre nun ein geeigneter Ansatzpunkt, um Jesus, der ja gelitten hat, zum Messias zu machen. Dabei stellt sich heraus, daß dieser Text vom Apostel Paulus nicht ein einziges Mal benutzt wird. Es gibt keine einzige Stelle in den 14 Paulusbriefen, in denen vom leidenden Gottesknecht die Rede ist. Ebenso wäre ein passender Keim der 22. Psalm gewesen. Da ist ja von dem die Rede, der durchbohrt wird, um dessen Kleider die Menschen würfeln bei seinem Tode, der mit Galle und Essig getränkt wird. Das wäre eine Weissagung gewesen, die sich angeboten hätte, um auf Jesus übertragen zu werden und als Baustein für die Erzeugung eines Messiasbildes zu dienen. Nun kommt aber dieses Leidenspoem Psalm 22 bei Paulus nicht ein einziges Mal vor. Die Ableitung der Christusvorstellung des Paulus aus dem Alten Testament ist nicht geglückt. Paulus hat seine Messiasvorstellung nicht aus Texten des Alten Testamentes herausgesponnen. Er hat sich vielmehr den Tatsachen gebeugt. Er hat in dem Jesus von Nazareth, der ihm in der Damaskusstunde erschienen ist, den Messias gefunden. Er hat ihn nicht konstruiert, er hat ihn entdeckt! Er war schon da, und er hat ihn nicht geschaffen.

Ganz ähnlich ist es mit der Vorstellung: Jesus ist der Herr, der Kyrios. Das Wort Kyrios, Herr, wird in der griechischen Übersetzung des Alten Testamentes für den Gottesnamen, für den hebräischen Gottesnamen Jahwe gebraucht. Wo also in der hebräischen Bibel Jahwe steht – das ist der alttestamentliche Gottesname –, da steht in der griechisch übersetzten Bibel Kyrios. Wer Kyrios sagt, meint also Gott, Gottgleichheit. Und dieser Kyriostitel, dieses Kyriosprädikat, wurde in der Tat auf Jesus von Nazareth angewandt, aber nicht erst durch Paulus, sondern schon in der Urgemeinde. Wir haben ein untrügliches Zeugnis dafür, daß nicht Paulus den Kyrioskult geschaffen hat, sondern daß er ihn schon in der Urgemeinde vorgefunden hatte; das ist das hebräisch überlieferte Wort „Maranatha“. Paulus gebraucht es im 1. Korintherbrief. Maranatha bedeutet zu deutsch „Herr, unser Herr, komm!“ Also schon in der Urgemeinde, wo man ja aramäisch, einen hebräischen Dialekt, sprach, wurde Jesus als „Maran“, als der Herr, verehrt. Nicht Paulus hat diesen Glauben in die Urgemeinde eingetragen, er hat ihn in der Urgemeinde vorgefunden.

Paulus ist überhaupt nicht der Initiator des Christusglaubens, sondern sein Organisator. Er hat den Überlieferungsbegriff ausgebildet. Das besagt folgendes: Man muß das, was man verkünden will, überkommen haben, überliefert haben. Und das, was man überkommen hat, muß man weitergeben wie ein Pfand, das einem übertragen worden ist. Man muß es weitergeben, und zwar unversehrt weitergeben, man darf nichts daran ändern. Man darf es nicht verschlechtern, man darf es aber auch nicht verbessern. Das ist der Überlieferungsbegriff, den der Apostel Paulus geschaffen hat. Und er hat ihn in der Parxis bezeugt, indem er engen Kontakt mit der Urgemeinde in Jerusalem gesucht hat. Schon in Damaskus ließ er sich über den Glauben der Christen belehren von dem Ananias. Das war der Mann, bei dem er Aufnahme fand und von dem er auch getauft wurde. Er hat ihm die erste Belehrung zuteil werden lassen. Später ging er nach Jerusalem, um den Kephas zu sehen. Das ist der hebräische Name für Petrus. Er hat den Petrus besucht und sich von ihm belehren lassen. Er hat den Jakobus besucht, den Verwandten des Herrn. Er hat engen Kontakt mit der Urgemeinde gehalten. Einer aus der Urgemeinde, Barnabas, war sein Begleiter auf der ersten Missionsreise, und ebenso der Markus.

So sehen wir: Kein Gegensatz zwischen Paulus und der Urgemeinde, sondern eine völlige Harmonie im Glauben. Wenn es zu Gegensätzen kam, dann waren das praktische Fragen, nämlich ob man den Heidenchristen auch das alttestamentliche Gesetz auferlegen solle. Aber in der Frage des Christus, des Kyrios, also des Messias und des Herrn, sind sich Paulus und die Urgemeinde völlig einig. Sie bekennen Jesus von Nazareth, den Menschen, der unter ihnen gelebt hat und der gekreuzigt worden ist, als den Messias und den Herrn.

Das Zeugnis des Paulus ist deswegen so wichtig, meine lieben Freunde, weil es, was die literarische Verfasserschaft angeht, das älteste ist. Der  1. Thessalonicherbrief ist wahrscheinlich die älteste Schrift des Neuen Testamentes, um das Jahr 50 etwa entstanden. Und im 1. Thessalonicherbrief ist der Glaube an Jesus Christus schon vollkommen entfaltet. Ich zitiere zwei Stellen: „Wenn Jesus, wie wir glauben, gestorben und auferstanden ist, so wird Gott auch die Entschlafenen durch Jesus herbeiführen mit ihm.“ Sie müssen immer auf die Präpositionen achten. „Durch Jesus“, sagt Paulus, darin liegt die Erlösungstätigkeit, die mittlerische Tätigkeit Jesu begründet. Er vermittelt zwischen Gott und den Menschen als der Erlöser und Heiland. Und an einer anderen Stelle: „Denn Gott hat uns nicht zum Zorne bestimmt, sondern zur Erlangung des Heils durch unseren Herrn Jesus Christus.“ Hier sehen Sie Jesus als den Herrn und den Christus, Messias und Kyrios bestimmt. Er hat uns zur Erlangung des Heils bestimmt durch unseren Herrn Jesus Christus. „Er ist ja für uns gestorben, damit wir allesamt mit ihm leben.“ Hier liegt faktisch die gesamte Christologie und Soteriologie, die ganze Lehre von Christus und von seiner Erlösung vor, und das im 1. Thessalonicherbrief aus dem Jahre 50.

Aber Paulus greift ja noch weiter zurück. Seine Christusvorstellung oder besser sein Christusglaube ist vor Damaskus begründet worden. Wann war das Ereignis vor Damaskus? Im Jahre 34, also ganz kurze Zeit nach Tod und Auferstehung des Herrn. Bis in diese älteste Zeit reicht also der Glaube des Paulus zurück.

Das alles bezeugt uns, daß Paulus nicht einen neuen Glauben geschaffen hat, sondern daß er in eine bestehende Kirche eingetreten ist. Und er war kraft seines Studiums, kraft seiner Ausbildung, kraft seiner Tradition in der Lage, gut und böse, richtig und unrichtig zu unterscheiden. Und er hat geprüft. Er hat geprüft bis zum Haß, denn er hat die Anhänger dieses Namens verfolgt. Aber er wurde überwältigt durch die Tatsachen, durch die Wirklichkeit, durch die lebendige Erfahrung des auferstandenen Heilandes. Und dafür hat er alles hingegeben, seine väterlichen Überzeugungen, seine Tradition, sein Volk. Er hat Feindschaft und Haß und Verfolgung auf sich genommen, überwältigt von der Wirklichkeit seines Kyrios und Christus.

Das alles ist unerklärlich, wenn man annimmt, daß es aus den Vorstellungen des Alten Testamentes oder der griechischen Umwelt entnommen sei. Was Paulus vermittelt, ist der Glaube der Urkirche. Was er bekennt, ist seine persönliche Erfahrung. Was er bis zu seinem Tode verteidigt, das ist die Wirklichkeit des göttlichen Heilandes, den er erlebt und erfahren hat. „Das Evangelium“, so schreibt er einmal, „das ich euch verkündigt habe, ist nicht Menschenwerk.“  Amen.

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