Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
5. November 1989

Das Leid

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Die Erhaltung der Welt durch Gott hat die Züge der Vorsehung. Mit seiner Vorsehung lenkt Gott die Welt. Die Vorsehung wiederum trägt die Züge der Liebe. Gott liebt alles Geschaffene, ja er hat es aus Liebe ins Leben gerufen. Gott liebt alles, was da ist und verabscheut nichts von dem, was er geschaffen hat. So heißt es im Buch der Weisheit. Die Liebe Gottes zu den Geschöpfen ist eine doppelte. Sie ist einmal eine Liebe des Wohlgefallens. Gott erkennt die Vollkommenheiten der Geschöpfe, die ja endliche Nachbildungen seiner eigenen Vollkommenheit sind, und erfreut sich an diesen Vollkommenheiten der Geschöpfe. Es ist aber auch eine Liebe des Wohlwollens. Gott zeigt den Geschöpfen seine Liebe aktiv und tätig. „Nicht wir haben Gott geliebt, sondern er hat uns zuerst geliebt, und wir haben erkannt und an die Liebe geglaubt, die Gott zu uns hat.“ So heißt es im 1. Brief des Apostels Johannes.

Vorsehung Gottes und Liebe Gottes sind Wahrheiten der Offenbarung, Wahrheiten unseres Glaubens. Aber es sind auch Wahrheiten, meine lieben Freunde, die nicht unangefochten sind; deswegen nicht unangefochten, weil es das Leid in der Welt gibt. Das Leid, die dunkle Masse, die dunkle Woge des Leides in der Welt scheint Einspruch zu erheben gegen die Lehre von der Vorsehung und gegen die Lehre von der Liebe Gottes.

Das Leid ist ein doppeltes. Es ist entweder ein moralisches oder ein physisches Übel. Das moralische Übel nennen wir Sünde. Die Sünde ist das größte und schrecklichste Leid auf dieser Erde; denn die Sünde wendet sich unmittelbar gegen den Gott der Vorsehung und der Liebe. Die Sünde ist ein Angriff auf Gott, selbst wenn der Angriff zunächst nur auf sein Gebot zu zielen scheint. Denn das Gebot, das Gott gegeben hat, ist ein Ausdruck seines Wesens, ein Ausdruck auch seiner Liebe, und wer sich gegen das Gesetz erhebt, der erhebt sich gegen den Gesetzgeber.

Gott will das moralische Übel nicht. „Fürwahr, du bist kein Gott, dem das Unrecht gefällt“, heißt es im Psalm 5. Aber Gott hat das Übel zugelassen. Es schien ihm richtiger, die Sünde zuzulassen, auf daß aus der Sünde auch Gutes entstehe, als das Böse überhaupt nicht erst zu gestatten. Es ist ein Rätsel, warum Gott die Sünde zugelassen hat. Wir können darauf hinweisen, daß auch die Sünde in gewisser Hinsicht seine Herrlichkeit mehren kann insofern, als die Verzeihung durch seine Barmherzigkeit ein Lobpreis seiner Macht und seiner Liebe ist, und insofern, als die Gerechtigkeit durch die Strafe für die Sünde ebenfalls ein Preis seiner göttlichen Eigenschaften ist.

Auch kann Gott aus dem moralischen Übel manchmal Gutes schaffen. Denken wir an den ägyptischen Josef. Er wurde von seinen Brüdern in eine Zisterne geworfen, dann verkauft nach Ägypten. Aber in Ägypten, da wurde er zum Vizekönig erhoben und hat seine ganze Familie zu sich geholt und konnte dann sagen: „Ihr sannt Böses gegen mich, aber Gott hat es zum Guten gewendet.“ So ist also das moralische Übel auch in die Weisheit und in die Macht Gottes mit einbezogen. Er ruft es nicht hervor, wie Calvin irrtümlich meint, aber er läßt es zu. Permissive solum, wie das Trienter Konzil erklärt hat. Er gestattet es. Er läßt das Übel geschehen. Aber noch einmal: Er läßt es geschehen, um die Freiheit des Menschen zu wahren und um im Verzeihen oder im Strafen seine Barmherzigkeit oder Gerechtigkeit den Menschen kundzutun.

Noch bedrückender ist die Frage nach dem physischen Übel. Physische Übel sind Leiden, Krankheiten, Tod, Naturkatastrophen, die vielen Qualen, die über die Menschen kommen. Das physische Übel ist von Gott auch nicht um seiner selbst willen gewollt, aber es wird von ihm gewollt als Mittel zum Zweck. Daß Gott das physische Übel nicht um seiner selbst willen schafft, das ergibt sich aus der Heiligen Schrift. Im Buch der Weisheit heißt es: „Gott hat den Tod nicht geschaffen und hat keine Freude am Untergang der Lebenden. Denn alles hat er zum Sein erschaffen.“ Und dennoch ist der Tod und alles, was ihm vorausgeht, eine Wirklichkeit. Wie kann man die Übel der physischen Ordnung erklären?

Die Übel der physischen Ordnung, also Leiden, Krankheit, Tod und die vielen anderen Schmerzen, die das Menschenleben begleiten, haben nach Gottes weiser Vorsehung vor allem einen dreifachen Sinn. Einmal will Gott durch physische Übel den Menschen bessern. Gott schickt Schmerzen und Leiden, daß der Mensch in sich geht, daß er sich bekehrt, daß er von der Sünde läßt, daß er sich löst von seiner Verfallenheit an das Irdische, daß er den Blick nach oben richtet. „Trifft dich ein Schmerz, so halte still und frage, was er von dir will! Der liebe Gott, er schickt dir keinen nur darum, daß du solltest weinen.“ Und wer von uns, meine lieben Freunde, hat denn Besserung nicht notwendig? Wir alle bedürfen der Bekehrung und müssen also die Schmerzen und Leiden, die Gott uns schickt, als seine Zuchtrute ansehen, mit der er uns abwenden will von unseren falschen Lebensrichtungen und hinwenden will zum Himmel, zur Ewigkeit, zu seinem göttlichen Willen.

Der zweite Grund, weswegen Gott uns Leiden schickt, ist die Strafe. Jede Sünde verdient Strafe. Es gibt Sündenstrafen, eine vergessene Wahrheit in der nachkonziliaren Kirche. Wo wird heute noch etwas gelehrt und gepredigt von Sündenstrafen? Wo wird heute noch der Ablaß gepflegt, der ja doch Befreiung von (zeitlichen) Sündenstrafen ist? Wer redet heute noch davon, daß es zeitliche und ewige Sündenstrafen gibt? Die ewige Sündenstrafe ist die Hölle, die Verdammnis; eine furchtbare Möglichkeit. Die Leiden auf Erden sind – oder können sein – zeitliche Sündenstrafen. Wir wissen es nicht immer, wir haben nicht den Blick Gottes, aber oft gestattet uns Gott einen Blick durch den Zaun, und dann sehen wir, daß bestimmte Leiden und Schmerzen Strafen für die Sünden sind. Viele Krankheiten haben wir selbst hervorgerufen durch unmäßiges Leben, durch übertriebenes Rauchen z. B., das können Sündenstrafen sein. Das erklärt eine Menge des Leides auf dieser Erde.

Gott hat die Leiden in seinen Weltplan eingebaut, um uns drittens zu prüfen. Die Menschen, die Gott liebt, werden von ihm nicht verhätschelt. Der reine, heiligmäßige Diener Gottes Job wurde von Gott besonders geprüft. Und als er die Prüfung bestanden hatte, bekam er alles, was er verloren hatte, zurück; aber erst, als er sie bestanden hatte! Und Tobias wurde ebenfalls von Gott geprüft. Im Buche Tobias, das übrigens in der protestantischen Bibel fehlt, steht der schöne Satz: „Weil du angenehm warst vor Gott, mußte die Prüfung dich bewähren.“ Gerade wer Gott wohlgefällig ist, der wird von Gott geprüft. Und er wird geprüft durch Leiden und Schmerzen. Im Leben der großen Heiligen finden wir in der Regel ein Meer von Schmerz. Es ist so, als ob mit der Liebe zu Gott auch die Leiden wachsen, als ob Gott, die, die ihn besonders lieben, auch besonders heimsucht mit Leiden, um sie zu prüfen, um sie zu bewähren.

Wenn wir deswegen, meine lieben Freunde, das Leiden in unserem Leben spüren, dann erinnern wir uns an die dreifache Bedeutung, die das Leiden haben kann. Es kann uns bessern wollen, es kann uns strafen wollen, es kann uns prüfen wollen. Wenn man dann fragt; Warum ich? Warum gerade ich? O, es leiden alle. Es leiden alle, auch wenn es äußerlich anders scheint. Es gibt kein Leben ohne Leid.

Der Dichter Adalbert von Chamisso hat eine schöne Erzählung geschrieben: „Der Kreuztausch“. Er berichtet da von einem Manne, der auf einem steinigen Weg in der Sonnenhitze dahinzieht, mit einem Kreuze beladen. Und am Abend, da keucht er und stöhnt er: „Ich kann nicht mehr, ich kann nicht mehr, das Kreuz ist zu schwer.“ Dann sinkt er in einen tiefen Schlaf, und Gott erscheint ihm. „Ja,“ sagt der Mann zu Gott, „du siehst, das Kreuz ist zu schwer, es ist unerträglich für mich. Gib mir ein anderes Kreuz!“ Gott ist einverstanden. Dann wird er in einen lichten Saal versetzt, und da stehen all die Kreuze des ganzen Menschengeschlechtes, der ganzen Menschheitsgeschichte. „So,“ sagt Gott, „suche dir ein anderes Kreuz! Stell dein Kreuz hierher und suche dir ein anderes!“ Da geht der Mann umher, und da sieht er das Kreuz der Verleumdung, das Kreuz der Verachtung, das Kreuz des Neides, das Kreuz des Familienzwistes, das Kreuz der Gewissensskrupel, das Kreuz der Krankheit. Er prüft sie, er hebt sie; aber nein, er setzt jedes wieder hin, denn ein jedes kommt ihm zu schwer vor. „Ja, Herr, muß ich denn wählen?“ sagt er zu Gott. „Ohne Erdenkreuz kein Himmelsglück!“ So geht er weiter und sucht und sucht und findet nicht ein Kreuz. „Komm, schau her!“ sagt Gott. An der Tür, da meint er, ein passendes zu finden. „Ja, Herr,“ sagt er, „das könnte für mich passen. Das könnte ich tragen.“ Und wie er es aufnimmt, da erkennt er, es ist dasselbe Kreuz, das Gott ihm aufgeladen hatte. Es ist dasselbe, das der Herr in seiner Weisheit für ihn bestimmt hatte, das er jetzt wieder aufnimmt.

So wird es auch in unserem Leben sein, meine lieben Freunde. Das Wort gilt: „Es wird niemand gekrönt, er kämpfe denn recht.“ Und der Kampf, der uns auferlegt ist, ist eben ein Kampf auch gegen unsere Unwilligkeit, das Kreuz zu tragen. „Ich möchte Jesus erkennen, die Gemeinschaft mit seinem Leiden und die Kraft seiner Auferstehung,“ schreibt einmal der Apostel Paulus. Ja, eher kann man die Kraft seiner Auferstehung nicht erfahren, ehe man nicht die Gemeinschaft mit seinem Leiden getragen hat. „Herr, wie du willst, so will ich gehen, hilf deinen Willen nur verstehen!“ So hat einer wunderbar gebetet. „Herr, was du willst, das nehm' ich hin, und was du willst, ist mir Gewinn. Genug, daß ich dein eigen bin. Herr, weil du willst, dann ist es gut, und weil du willst, drum hab' ich Mut, dein Herz in meinen Händen ruht.“

Amen.

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