Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
1. Dezember 1996

Die Versuchungen zur Sünde

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

„Mein Sohn, wenn du dich anschickst, Gott zu dienen, mache dich bereit auf Versuchungen!“ So lautet ein Satz aus dem Buche Jesus Sirach. Versuchung ist Anreiz zur Sünde. Wir wollen heute vier Fragen stellen und zu beantworten versuchen.

1. Welches ist der Ursprung der Versuchungen?

2. Was beabsichtigt Gott mit den Versuchungen?

3. Wie können wir den Versuchungen vorbauen?

4. Wie müssen wir uns in Versuchungen verhalten?

Die erste Frage lautet:  Welches ist der Ursprung der Versuchungen? Zunächst einmal ist offensichtlich, daß Versuchungen eine alltägliche Erscheinung sind. Wir lesen im Alten Testament von der Versuchung der Eva. Das Neue Testament berichtet uns von der Versuchung des Herrn in der Wüste, am Tempel, auf dem Berge. Die Kirchengeschichte meldet Versuchungen aller Heiligen, ohne Ausnahme. Der heilige Hugo von Grenoble litt unter Versuchungen, die ihn zu gotteslästerlichen Gedanken trieben. Der heilige Franz von Sales wurde von der Versuchung heimgesucht, er sei verdammt. Der heilige Benedikt litt unter Versuchungen gegen die Reinheit. Er warf sich in die Dornen und in die Nesseln; ebenso der heilige Franz von Assisi, er warf sich in den Schnee. Viele Heilige hatten Versuchungen gegen den Glauben.

Versuchungen sind eine alltägliche Angelegenheit. Ihre Wurzel ist dreifach. Die erste Wurzel ist die Konkupiszenz, also die böse Begierlichkeit, die aus der Erbsünde stammt und die auch, wenn die Erbsünde durch die Taufe getilgt wird, nicht aus dem Menschen verschwindet. Die böse Begierlichkeit ist der ungeordnete Drang nach den vergänglichen Gütern. Sie ist in den Menschen verschieden stark, betätigt sich vor allem auf drei Gebieten: Augenlust, Fleischeslust, Hoffart des Lebens. Augenlust bedeutet, möglichst viel haben wollen; Fleischeslust ist gegen die Mäßigkeit gerichtet; Hoffart des Lebens ist Stolz, Angeberei, Ehrgeiz. Das ist die nie versiegende Quelle der Versuchung. Daneben aber gibt es auch den Versucher. Im Matthäusevangelium heißt der Teufel „der Versucher“, denn es ist sein Beruf, Versuchungen zu bereiten. Er tut dies, indem er in den Menschen sinnliche Vorstellungen erweckt oder sie vermehrt, indem er anreizt, gegen die Vernunft, gegen die vom Heiligen Geist geleitete Vernunft sinnlichen Gütern nachzustreben. Nicht jede Versuchung kommt vom Teufel. Aber der Teufel kann den Verstand und den Willen für das Böse zu disponieren versuchen.

Die dritte Quelle der Versuchung ist die Welt. Damit ist gemeint die im Argen liegende Welt, also die sinnlichen Güter der Welt, die gegen die Vernunftordnung stehen, natürlich auch die bösen Menschen, welche die anderen zu verführen suchen; es gibt Verführer unter den Menschen.

Diese drei Quellen der Versuchung stürmen also auf den gläubigen Menschen ein, und wir sollen angesichts der Versuchungen zwei Dinge nicht tun, nämlich erstens uns fürchten und zweitens uns beunruhigen. Wer sich fürchtet, der ist eine leichte Beute der Versuchung. Wir wissen, Gott ist stärker als die Versuchung, und deswegen darf man sich vor der Versuchung nicht fürchten. Man darf sich auch nicht beunruhigen, denn in der Unruhe kann man die rechten Mittel zur Abwehr der Versuchung nicht mehr finden. Wer sich in der Versuchung beunruhigt, dem geht es wie einem Vogel, der in ein Netz gefallen ist. Je mehr er um sich schlägt, um so mehr verfängt er sich in dem Netz.

Die zweite Frage lautet: Was beabsichtigt Gott mit den Versuchungen? Ich sage noch einmal: Versuchungen kommen über jeden. Sie kommen sogar über die guten Menschen häufiger als über die schlechten. Der Teufel ist natürlich bestrebt, die Menschen in seine Fänge zu ziehen; die er schon hat, braucht er nicht mehr zu versuchen. Aber er versucht, die er noch nicht hat, die ihm widerstreben, die ihn bekämpfen. Deswegen werden die Heiligen von Versuchungen besonders heftig heimgesucht. Der heilige Pfarrer von Ars hat einmal den furchtbaren Satz gesagt: „Nicht versucht zu werden, das ist der Zustand jener, die der Teufel für die Hölle herrichtet!“

Wenn Gott Versuchungen zuläßt, dann verfolgt er damit eine bestimmte Absicht. Er will uns erproben. Er will uns Gelegenheit bieten, zu zeigen, daß wir treu sind, und er will uns gestatten, einen Anspruch auf Belohnung zu erwerben. Die Versuchungen, die Gott über uns kommen läßt, haben ihn nicht zum Urheber; er läßt sie nur zu. Und in diesem Sinne ist auch die sechste Vaterunser-Bitte zu verstehen: „Führe uns nicht in Versuchung!“ „Gott führt niemanden in Versuchung“, wie es im Jakobusbrief heißt. Aber in der direkten Redeweise, wie sie nun im Judentum üblich war, hat der Herr diese Bitte so formuliert. „Führe uns nicht in Versuchung!“, das heißt: Laß keine Versuchung über uns kommen, die unserer Schwachheit Anlaß zum Fall wird! Bewahre uns vor Versuchungen, die angesichts unserer Schwachheit uns in den Ruin führen können! Aber nach Gottes Willen dienen die Versuchungen der Bewährung. Im Buche Tobias sagt der Engel Raphael zu Tobias: „Weil du angenehm warst vor Gott, mußte die Versuchung dich bewähren.“ Weil du angenehm warst vor Gott, mußte die Versuchung durch bewähren! Die Versuchung rüttelt uns auf aus der Lauheit. Wir werden gewahr, daß wir nicht unentschieden sein dürfen, sondern daß wir uns entscheiden müssen zwischen Gut und Böse. Es gibt keine Mitte zwischen Gut und Böse!

Die Versuchung macht uns demütig; denn wir sehen in der Versuchung, daß wir schwach sind in der Versuchung, und Demut ist die Wurzel aller Tugenden. Die Versuchung reinigt uns von Unvollkommenheit. Es ist das ähnlich wie mit dem Meer. Die Stürme müssen über das Meer kommen und die Wogen peitschen, damit der Sauerstoff in das Meer hineinkommt und die Fische und die Pflanzen Nahrung haben. Die Versuchung stärkt unsere Kraft. Die Bäume werden durch den Wind gezwungen, ihre Wurzeln um so fester in das Erdreich einzuführen. Ähnlich ist es mit der Versuchung, mit der bestandenen Versuchung selbstverständlich. Die Versuchung mehrt auch unsere Gottesliebe; denn wir wissen: Wenn wir sie bewältigt haben, dann war Gott im Spiele, dann hat er die Kraft gegeben. Durch die bestandenen Versuchungen büßen wir Strafen ab, die wir sonst im Fegefeuer abbüßen müßten. Und die bestandenen Versuchungen mehren unsere himmlische Herrlichkeit.

Der heilige Augustinus hat einmal so schön gesagt: „Du willst doch gekrönt werden. Niemand wird gekrönt, wenn er nicht gesiegt hat. Niemand kann siegen, wenn er nicht gekämpft hat. Niemand kann kämpfen, wenn er keinen Feind hat. Also muß es Versuchungen geben.“ Wahrhaftig, so ist es. Die Versuchungen haben in Gottes Plan über unserem Leben eine gewichtige, eine unerläßliche Stelle.

Die dritte Frage lautet: Was kann man tun, um sich vor Versuchungen zu schützen, um vor Versuchungen bewahrt zu werden? Ich gebe drei Mittel an. Einmal die unablässige Arbeit. Die Arbeit, meine lieben Freunde, ist für den Menschen so notwendig wie das Fliegen für den Vogel. Der Mensch ist zur Arbeit geboren. Wenn er sich der Arbeit aus eigener Schuld entzieht, dann betreibt er seinen Ruin. „Müßiggang ist aller Laster Anfang.“ Bei der Arbeit möchte ich noch einmal betonen: Es ist nicht nur die geistige Arbeit, die wir verrichten sollen; es ist auch die körperliche. Der Mensch hat einen Geist und einen Körper, und wir sollten die körperliche Arbeit nicht geringschätzen. Gerade diejenigen, die Berufe mit geistiger Tätigkeit haben, sollten sich um körperliche Betätigung bemühen. Unablässige Arbeit ist eine unerläßliche Schutzwehr vor Versuchungen. Das zweite Mittel ist beständiges Denken an Gott. Wenn wir Gott im Herzen tragen, dann ist der Feind schon abgeschlagen. Wir sollten also den Ruf des Herrn beherzigen: „Wachet und betet, damit ihr nicht in Versuchung fallet!“ Beten, das heißt mit Gott reden, das heißt Gott unsere Sorgen und Ängste vortragen, das heißt Gott um Hilfe anrufen. Die heilige Theresia von Avila hatte eine besondere Art des Gebetes gegen Versuchungen, nämlich sie gebrauchte das Weihwasser. Das Weihwasser hat ja durch das Gebet der Kirche eine Kraft. „Der Teufel fürchtet sich vor dem Weihwasser“, sagen die Gläubigen, und daran ist etwas Wahres. Wenn wir also das Weihwasser benutzen, denken wir an Gott und schlagen damit den Teufel in die Flucht. Aber auch das Kreuzzeichen besitzt eine große Macht. Der Hund flieht vor dem Knüppel, und der Teufel reißt aus vor dem Kreuzesstab. Wenn wir also das Kreuzzeichen machen und wenn wir rufen: „Mein Jesus, Barmherzigkeit!“, dann wird der Teufel von uns weichen. „Wachet und betet, damit ihr nicht in Versuchung fallet!“ Das dritte Mittel, um Versuchungen vorzubeugen, ist die Selbstüberwindung. Wir müssen uns immer wieder an die Kandare nehmen, wir müssen einhalten in unserer Neugierde, in unserer Eßlust, in unserer Rauchlust und was es noch an Lüsten im Menschen gibt. Selbstbeherrschung stählt den Willen, und gegen einen gestählten Willen kommt der Teufel nur schwer an. Diese Mittel sollten wir gebrauchen, um uns vor Versuchungen zu bewahren. Man soll sich nicht mutwillig in Versuchungen begeben. Versuchungen sind kein Wert an sich, sondern wohl dem, der davon verschont bleibt. Aber da sie kommen und da sie unweigerlich kommen, müssen wir uns rüsten, sie zu bestehen.

Die vierte Frage lautet: Wie sollen wir uns in der Versuchung verhalten? Ich gebe Ihnen sechs Mittel an. Erstens sollen wir unsere Augen zu Gott richten und um Hilfe rufen. Als die Apostel im Seesturm auf dem Schifflein waren, riefen sie: „Herr, rette uns, sonst gehen wir zugrunde!“ Wir sollen es genauso machen. In der Versuchung beten. Jesus und Maria anrufen, ein Ave Maria beten, und unweigerlich wird der Stärkere den Starken überwinden. Denn der Herr ist stärker als der Versucher. An zweiter Stelle sollen wir an die Letzten Dinge denken – Tod, Gericht, Verdammnis, Himmel. Diese Erinnerung kann uns von der Sünde, von der Einwilligung in die Versuchung abhalten. „Gedenke an den Tod, und du wirst in Ewigkeit nicht sündigen!“ Wahrhaftig, im Angesichte des Todes schwindet der Reiz der Versuchung, da werden diese lächerlichen Vorstellungen, die uns der Teufel macht,  zu nichts zerrinnen. Eine dritte Hilfe in der Versuchung besteht darin, daß wir uns die bösen Folgen der Sünde ins Gedächtnis rufen. Die Sünde betrügt immer. Sie verheißt etwas, was sie nicht erfüllt. Sie verspricht etwas, was sie nicht einlöst. Deswegen sich an die schlimmen Folgen der Sünde erinnern, damit der Reiz der Versuchung überwunden wird. O, meine lieben Freunde, wir alle, die wir ja reuige Menschen sind, wissen: Wir haben es immer bereut, wenn wir eingewilligt haben. Es hat sich nie gelohnt; es war immer falsch, und es war niemals richtig, der Versuchung nachzugeben. Erinnern wir uns rechtzeitig an die schlimmen, an die verderblichen Folgen der Sünde. „Vorher getan, nachher bedacht, hat manchem schon groß’ Leid gebracht.“ An vierter Stelle können wir es so machen wie der Herr, indem wir dem Versucher befehlen: „Opiso mou“, fort von mir, Satan! Weiche, Satan! Jawohl, wir können ihn vertreiben, so wie es der Priester tut, wenn er den Exorzismus betet. Er gibt den Befehl: „Weiche, maledicte damnate, verfluchter Verdammter!“ So können auch wir dem Satan befehlen, von uns zu weichen, und er wird dann das Feld räumen. Ein fünftes Mittel, um die Versuchung zu überwinden, ist, sich zu demütigen. Der heilige Augustinus benutzte dieses Mittel. Er sagte: „Herr, ich bin Staub und Schwäche. Hilf mir!“ Die Verdemütigung kann auf verschiedene Weise geschehen. Die wirksamste Weise besteht darin, daß man einem Priester die beschämendsten Sünden seines früheren Lebens in der Beichte bekennt. Das ist die beste Methode, sich zu demütigen: Einem Priester die beschämendsten Sünden des früheren Lebens bekennen. Das fürchtet der Satan. Er sagt: „Das sollst du niemandem sagen. Das kannst du niemandem offenbaren. Das mußt du für dich behalten.“ Nein, eben gerade nicht! Du mußt es offenbaren und dadurch den bösen Feind in die Flucht schlagen. Das ist zugleich auch das sechste Mittel, die Versuchung zu überwinden, nämlich wir sollten die einem vertrauten Menschen, einem Seelenführer oder einem klugen Laien offenbaren, damit er uns Ratschläge gibt, wie wir da herausfinden können, wie wir uns der Versuchung entziehen, wie wir sie überwinden können. Denn auch hier wieder ist der Teufel geneigt, den Menschen zum Stillschweigen anzuhalten, statt daß er ihn seine Versuchungen, seine Kämpfe, seine Schwierigkeiten aussprechen läßt.

„Kein Stand ist so heilig, kein Ort so abgelegen, daß es keine Versuchungen gäbe“, schreibt einmal der weise Verfasser des Buches von der Nachfolge Christi. Ja wahrhaftig, so ist es. Der heilige Ephraem der Syrer hat in einer Vision einmal gesehen, daß in einer lasterhaften Großstadt nur ein Teufel auf der Mauer saß. Aber bei einem Einsiedler sah er viele Teufel, die ihn umgaben. Das ist eine sehr gute Vision gewesen, denn wo Heiligkeit ist, da ist auch der Versucher. Durch die Überwindung der Versuchungen wird nämlich der Heilige geboren, deswegen: Kein Stand ist so heilig und kein Ort so abgelegen, daß es keine Versuchungen gäbe. An uns ergeht die Warnung: „Wer meint zu stehen, der gebe acht, daß er nicht falle!“

Amen.

 

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