Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
16. Januar 2005

Die Substanz der Seele

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Am 11. November 2004 veröffentlichte der Bischof von Limburg, Franz Kamphaus, einen Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Der Aufsatz war überschrieben: „Eine Fortsetzung findet nicht statt.“ Der Artikel befasste sich mit dem, was nach dem Tode kommt, und dazu stellte Herr Kamphaus fest: „Die Christen glauben nicht an die Ewigkeit des Geistes; sie glauben nicht an die Unsterblichkeit der Seele.“ Ich wiederhole noch einmal diese ungeheuerliche Aussage: „Die Christen glauben nicht an die Ewigkeit des Geistes; sie glauben nicht an die Unsterblichkeit der Seele.“ Selbstverständlich weckte dieser Artikel eine Reihe von Äußerungen der Leser der Zeitung auf. Ein Professor aus Saarbrücken schrieb, der Bischof von Limburg habe sich vom katholischen Glauben verabschiedet. Ein Leser aus Bad Homburg bemerkte, durch diese Aussage sei seine Funktion als Bischof der katholischen Kirche fragwürdig geworden. Ein dritter bemerkte: „Wenn das so ist, wie Kamphaus sagt, dann lasst uns essen und trinken, denn morgen sind wir tot!“ Es gab freilich auch zwei Leserbriefe, die sich für den Bischof aussprachen und meinten, man könne seine Aussagen auch anders verstehen als die genannten. In jedem Falle waren die Ausführungen des Bischofs zweideutig, und da müssen wir sagen:

Herr Bischof Kamphaus, spielen Sie nicht mit dem Feuer! Rühren Sie nicht mit der Lunte ans Pulverfaß! Wer als katholischer Bischof die Unsterblichkeit der Seele in Frage stellt, der zerstört das Christentum, die christliche Religion in der Wurzel!

Die Kirche hat selbstverständlich im Einklang mit der Lehre unseres Heilandes immer an der Unsterblichkeit der Seele festgehalten. Der Herr spricht es ja selber aus: „Fürchtet nicht den, der den Leib töten kann. Fürchtet den, der den Leib und die Seele ins Feuer der Hölle stoßen kann! Ja, den sollt ihr fürchten!“ Das 5. Laterankonzil vom Jahre 1513 hat jeden verurteilt, der die unsterbliche Seele leugnet. Merkwürdigerweise ist in dem neuen deutschen Missale, das seit der sogenannten Liturgiereform in Gebrauch ist, fast überhaupt nicht mehr von der Seele die Rede. Dieser Mangel hat den Heiligen Stuhl, hat den Papst auf den Plan gerufen. Papst Paul VI. hat in dem „Credo des Gottesvolkes“ ausdrücklich und eindeutig die Existenz einer geistigen Seele, die unsterblich ist, bekannt. Im Katechismus der Katholischen Kirche wird die Unsterblichkeit der Seele ohne jeden Zweifel ausgesagt, und die Glaubenskongregation hat im Jahre 1979 die Existenz eines geistigen Elementes, das den Tod des Leibes überlebt, festgestellt. Wir könnten uns also mit diesen Aussagen der Kirche begnügen. Aber es ist meines Erachtens nicht hinreichend, sich immer nur auf den Glauben zu berufen. Man sollte auch mit der Vernunft argumentieren, denn es gibt ja Leute, die den Glauben nicht teilen. Denen könnte man durch vernünftige Argumente zeigen, dass der Glaube berechtigt, ja durchschlagend ist. Und so meine ich, sollten wir heute einmal darüber nachdenken, was die Vernunft, was die Wissenschaft, was die Philosophie über die Seele sagt.

Zunächst ist sicher, dass sich die Seele in ihrem Wesen und in ihrer Natur der anschaulichen Erfahrung entzieht. Aber sie offenbart sich, nämlich in ihrem Tätigsein und in ihrem Erleben. Das Tätigsein und das Erleben sind empirisch, also der Erfahrung gemäß, fassbar, und von da aus kann man durch schlussfolgerndes Denken auf die Seele, auf die Natur der Seele, auf das Wesen der Seele zurückschließen. Und diese schlussfolgernde Denkbewegung kommt zu dem Ergebnis: Die Seele ist ein substantielles, geistiges, individuelles Sein.

1. Schon die bloße Tatsache des seelischen Lebens mit seinen Hauptäußerungen – Wahrnehmen, Vorstellen, Denken, Fühlen, Wollen – schon die bloße Tatsache des menschlichen Lebens verlangt ein reales Etwas, ein Seiendes, welches alle diese Vorgänge erlebt, diese Einwirkungen erleidet und diese Tätigkeiten entfaltet. Es gibt keine Bewegung ohne etwas, das sich bewegt. Es gibt auch keine Kraftentfaltung ohne etwas, das Kraft hat und sie zur Geltung bringt. So ist auch seelisches Leben nicht denkbar ohne ein seelisches Sein, ohne eine Substanz, wie die Philosophie sagt, also ohne ein reales, wirkliches, Selbststand besitzendes Sein. Jede Tätigkeit hat zu ihrer Voraussetzung ein Tätiges. Eine subjektlose Tätigkeit ist undenkbar.

2. Dasselbe wird noch klarer, wenn wir bedenken, dass die meisten seelischen Erlebnisse nicht bloß etwas Momentanes, Augenblickliches sind, nicht bloß etwas Flüchtiges, sondern sich über eine gewisse Zeit erstrecken. Empfindungen, z.B. Gefühle, Strebungen des Willens, Denkbewegungen dauern an. Wenn ich einen Beruf erlernen will, dann muss ich drei Jahre lang mich diesem Ziele widmen. Wenn ich ein Studium absolvieren will, muss ich noch mehr Jahre darauf verwenden, um den Abschluß im Examen zu erreichen. Solche Dauer seelischer Erlebnisse und Tätigkeiten über längere Zeit hin ist nicht denkbar ohne ein konstantes, die einzelnen Handlungen überdauerndes und alle zur Einheit zusammenfassendes Subjekt.

3. Ohne ein solches konstantes Subjekt, ohne ein solches seelisches Sein wären die wesentlichen Menschheitsaufgaben wie Unterricht, Belehrung, Erziehung, Wissenschaft durchaus unmöglich. Erfolgreicher Unterricht kann nicht sein ohne das Fortdauern und Beharren eines geistigen Subjektes, das den Inhalt des Unterrichtes aufnimmt, verarbeitet und sich zu eigen macht. Erziehung und Bildung haben nur dann einen Sinn, wenn sie eben auf ein wirklich bleibendes Subjekt gerichtet sind, das durch diese Erziehung erzogen und das durch diese Bildung gebildet wird. Es muss in dem Menschen ein wirkliches substantielles Sein, d.h. eine Seele vorhanden sein, auf die all diese Bemühungen der Bildung und der Erziehung gerichtet sind, und die diese Bemühungen aufnimmt.

4. Am deutlichsten offenbart sich die Substantialität, also der Selbststand der Seele in der wesentlichen Einheit des menschlichen Bewusstseins. Alles, was wir erleben, trifft auf unser Ich, wird vom Ich als Zentrum wahrgenommen, gelenkt und geleitet. Das Ich des Menschen nimmt alle die Erlebnisse als die seinigen wahr, verarbeitet sie, nimmt sie auf oder lehnt sie ab: Ich denke, ich nehme wahr, ich will oder ich will nicht, ich kann nicht zugeben. Immer ist das Ich als ein gemeinsames Prinzip all dieser Tätigkeiten im Menschen vorhanden. Immer ist ein Subjekt da, ein Prinzip, das wahrnimmt, das fühlt, das will. Dieses Ich-Bewußtsein verlangt notwendig ein erlebendes, ein von den einzelnen Handlungen unterschiedenes Subjekt, das dem psychischen Charakter der Erlebnisse entsprechend auch ein geistiges sein muss. Die Seele steht als ein Selbständiges hinter allen seelischen Tätigkeiten. Sie fällt nicht mit den Seelentätigkeiten zusammen, wie gewisse aktualistische Philosophen behaupten. Nein, sondern die Seele steht hinter diesen Tätigkeiten, trägt sie, erlebt sie und ist von ihnen verschieden. Der große deutsche Philosoph Immanuel Kant hat einmal dieses Ich-Bewußtsein und die Tatsache, dass es eben als Zentrum aller Tätigkeiten gilt, in das Wort zusammengefasst: „Ich würde von meinem Pferde steigen, wenn es sagen könnte: Ich bin.“ „Ich würde von meinem Pferde steigen“, das er offenbar geritten hat, „wenn mein Pferd sagen könnte: Ich bin.“ Aber das kann es nicht, weil es keine Seele hat.

5. Der Mensch ist auch in der Lage, die mannigfachen Bewusstseinsinhalte zu vergleichen. Denken Sie etwa, meine lieben Freunde, an die Gewissenserforschung. Da vergleichen wir alle unsere Handlungen, die wir seit der letzten Beichte begangen haben, und stellen fest, die eine Handlung war gut, die andere war schlecht. Wir haben die Fähigkeit des Vergleiches. Dieses Vergleichen ist nicht eine Tat der verglichenen Erlebnisse selbst, nein, sondern es ist ein aktives Subjekt, es muss ein aktives Subjekt sein, das diese Vergleichung vornimmt, das eben diese Erlebnisse als seinen Besitz hat und bei ihnen unterscheiden kann. Oder denken Sie an einen Lehrer, der Klassenarbeiten korrigiert. Er vergleicht sie miteinander. Ich erinnere mich, dass der Direktor meines Gymnasiusm bei den Klassenarbeiten immer die meine zuerst herausnahm und sie zuerst korrigierte und dann erst alle anderen. Er wollte offenbar einen Maßstab haben zum Vergleich. Das Vergleichen des Menschen ist nicht denkbar ohne ein vergleichendes Subjekt, eine Seele, die die Erlebnisse eben nebeneinander stellen kann und sie bewerten kann in irgend einer Weise, nach einem bestimmten Prinzip.

6. Die Vergleichung geschieht auch nicht nur bei gleichzeitigen Ergebnissen, sondern auch bei vergangenen. Das heißt, das Subjekt, das die Vergleichung vornimmt, muss im Laufe der einzelnen Erlebnisse fortdauern und identisch sein und dasselbe bleiben. Längst vergangene Erlebnisse können wir immer wieder wachrufen und als die unsrigen erkennen, und das ist nur möglich, weil das Subjekt des augenblicklichen Bewusstseins und das Subjekt, das bei dem erstmaligen Erlebnis vorhanden war, dasselbe ist. Es bleibt identisch. Es ist numerisch – der Zahl nach – ein und dasselbe. Es verlangt dieses Vergleichen zwischen Vergangenem und Gegenwärtigem eine stetige, bleibende Seinseinheit, eben eine reale Seele, die den Grund abgibt für den sich hier offenbarenden Bewußtseinsinhalt.

Diese Vergleichbarkeit fassen wir auch zusammen mit dem Worte Erinnerung. Wir können das ganze Leben durch die Erinnerung zu einer persönlichen Einheit zusammenschließen, und diese Einheit wird auch nicht unterbrochen, wenn der Mensch schläft oder wenn er in der Narkose liegt oder wenn er bewusstlos wird. Sobald er wieder zum Bewusstsein kommt, ist die Erinnerung wieder da. Die Seele ist eben geheimnisvoll, einigend und in lebendiger Konstanz tätig. Ich zitiere Ihnen ein Wort eines Philosophen, nämlich des Siegfried Behn. Er schreibt in einem seiner Bücher: „Mir ist in einer Stunde nur sehr wenig von meinem Wissensschatze bewusst, aber meine Seele weiß ihn. Ich erinnere mich oft jahrelang nicht an ein vergangenes Ereignis, aber meine Seele schenkt wir den Wiedereinfall zu irgendeiner Stunde. Ich will mich selten mit ausdrücklichen Vorsatz im Leben erhalten und entfalten, aber meine Seele will es mit äußerster Willenskraft. Bei allem Grübeln finde ich eine gesuchte Lösung nicht im Zusammenhang meiner Gedanken, aber meine Seele kombiniert sie über Nacht. Es kann sogar vorkommen, dass ich ein mir gesagtes Wort noch nicht verstanden habe; nach einer Weile sagt es mir die Seele selbst. Es taucht über die Schwelle des Bewusstseins. Ich weiß nicht, wie mein Entschluß die Glieder meines Leibes bewegt, aber meine Seele bewegt sie.“ Und dieser Philosoph fasst seine Gedanken in dem abschließenden Satz zusammen: „Es bestehen also triftige Gründe, die Wirklichkeit der Seele anzuerkennen. Nur so ist die eigentümliche Kontinuität und Identität des Ich und seiner Erlebnisse verständlich.“

Amen.

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