Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
1. Januar 1996

Das Leben mit Vertrauen wagen

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Wir Älteren sind keine Neulinge im Leben. Wir haben den Krieg miterlebt und die Nachkriegszeit. Wir wissen, was es bedeutet, wenn eine Bomberflotte sich einer Stadt nähert und ihre todbringende Last über ihr ausklinkt. Wir haben Hunger und Vertreibung erfahren. Wir haben mit nichts angefangen, ohne Verwandte, ohne bergende Sippe, ohne Freunde und Helfer. Wir haben etwas vom Leben erfahren und wehren deswegen allem Leichtsinn und aller Leichtfertigkeit, die sich mit dem Trost eines Kahnfahrers begnügt, der einen Katarakt hinunterfährt und meint, es werde schon gut gehen. Nein, wir haben Tod und Verderben, Feuer und Unheil erlebt und an anderen gesehen. Wir wissen, daß das Leben ein Wagnis ist. Alles im Leben ist ein Wagnis, und es ist unmöglich, das Leben zu bestehen, ohne Wagnisse einzugehen. Selbst das Vermeiden von Wagnissen ist ein Wagnis. Risiken sind mit unserem Leben untrennbar verknüpft; wir sollen nur die überflüssigen Risiken meiden. Die notwendigen müssen wir auf uns nehmen. Jede Unternehmung, jeder Anfang, jede Eheschließung, ja jede Liebe zwischen zwei Gatten ist ein Wagnis, denn sie muß ständig neu erworben und erhalten werden.

Für die Lebensfahrt hat uns Gott mit der Lebensfreude ausgerüstet. Ohne Freude kann kein Mensch leben. Die Freude gehört zum menschlichen Leben, mag sie noch so bescheiden, mag sie noch so dürftig sein, ohne Freude ist ein menschliches Leben nicht denkbar. Man muß nur freudefähig sein; man muß die Freuden sehen können. Es gibt Genies der Freude, Menschen, die tatsächlich aus den unscheinbarsten Dingen einen freudigen Kern herauszuschälen verstehen. Andere werden überschüttet mit Glücksfällen und begreifen nicht, was ihnen geschieht. Für die gesunden Menschen ist nach wie vor der größte Freudenbringer die Arbeit. Arbeiten zu dürfen, nützlich sein zu können, Menschen dienen zu können, die Wissenschaft voranzubringen, das sind Freuden, die eigentlich durch keine andere ersetzt werden können. Aber nicht jedem ist es vergönnt, diese Freude zu haben. Viele sind in ein Alter eingetreten, wo die Arbeit ihnen schwerfällt oder nicht mehr möglich ist. Andere sind durch Mängel des Geistes oder des Körpers, durch Krankheiten verhindert, der Arbeit nachzugehen. Um so schwerer ist es für sie, andere Freudenquellen zu erschließen. Aber unmöglich ist es nicht. Auch dem nicht mehr im Arbeitsprozeß Befindlichen, auch dem wegen Krankheit Ausgeschiedenen ist es möglich, in dem bescheidenen Rahmen, der ihm verblieben ist, Freudenquellen sprudeln zu lassen. Daß man jeden Tag aufstehen darf, daß man wenigstens seine nächsten Verrichtungen tun darf, das ist ein Anlaß zu dankbarer Freude. Die Natur hat es so eingerichtet, daß auf jede Zeit der Tränen wieder eine Zeit der Freude folgt. Wir breiten über vergangene Schmerzen den Schleier der Vergessenheit oder manchmal sogar den Schimmer der Verklärung. Und auf diese Weise hilft uns die Natur, daß wir in all der Trübsal dieser Erde zu Freuden gelangen.

Wir fahren bei heiterem Wetter hinaus in das neue Jahr. Aber es wird uns vielleicht gehen wie den Aposteln. Auch sie sind bei heiterem Wetter auf dem See Genesareth ins Schiff gestiegen; aber dann fielen die Winde von der arabischen Steppe sie an und die Stürme vom Libanon und brachten das Schifflein in Seenot. Sie wußten, wohin sie sich zu wenden und zu wem sie zu rufen hatten in ihrer Not. „Herr, rette uns, wir gehen zugrunde!“ Und dann stand er, der da am Heck auf einem Kissen geschlafen hatte, auf und sprach: „Schweige! Verstumme!“ Er gebot dem Sturm und den Wellen und es trat eine große Stille ein. Die Jünger waren voll Staunen: „Was ist denn das für einer, dem sogar der Wind und die Wellen gehorchen?“ So soll es auch im neuen Jahre sein, meine lieben Freunde. Die Stürme werden mit Gewißheit kommen, aber wir werden auch wissen, an wen wir uns zu wenden haben und wohin wir um Hilfe zu rufen haben. Und wenn uns vielleicht auch nicht im irdischen Sinne Hilfe wird: Er wird bei uns sein, der der Helfer und Retter in allen Nöten ist.

Die Prognosen der Politiker und Wirtschaftsfachleute sind nicht günstig. Im Dezember des vergangenen Jahres waren 50 % aller Wirtschaftsunternehmen pessimistisch eingestellt. Der Chefökonom der Dresdener Bank rechnet sogar mit der Möglichkeit einer Rezession; das heißt also neue Millionen von Arbeitslosen. Der politische Horizont scheint etwas beruhigt, weil der Krieg in Jugoslawien beendet ist. Aber mir sagen meine kroatischen Freunde: Das ist kein Friede. Das ist ein Waffenstillstand, aber kein Friede; denn die Regelung, die jetzt getroffen wurde, ist zutiefst ungerecht. Wir wissen auch nicht, was aus Rußland wird. Diese große Macht im Osten bleibt unberechenbar. Die Natur ist vielfach eine Gefahr für uns. Wir können die Erde nicht mit Steinen beschweren, daß sie nicht beben soll. Wir können die Stürme nicht an die Kette legen, daß sie die Häuser nicht abdecken und die Bäume nicht entwurzeln. Wir können der Sonne nicht wehren, daß sie das Land austrocknet und ausdörrt. Und wir können die Wasserfluten nicht anhalten, die ganze Landstriche überschwemmen. Wir können auch nicht die Krankheiten abhalten, die uns anfallen und vielleicht zur Arbeitsunfähigkeit zwingen. Wir können schließlich den ewigen Wandergesellen Gottes, den Tod, nicht von unserem Lebensschiff stoßen, wenn er zusteigen sollte. Die Zukunft bleibt unsicher. Wir sind mächtigen und geheimnisvollen Gewalten ausgeliefert, und wir wissen: Diese Gewalten sind mächtiger als wir selbst.

So bleibt uns nichts anderes zu tun als zu sprechen: Im Namen Gottes und im Zeichen des Kreuzes wollen wir die Fahrt ins neue Jahr 1996 wagen. Im Namen Gottes, d.h. im Vertrauen auf Gott, unter Anrufung seiner Barmherzigkeit; und im Zeichen des Kreuzes, das besagt: Indem wir auf das bauen, was Gott in Christus Jesus, vor allem in seinem Leiden, für uns getan hat. Wir wollen in dieser Stunde, nicht überschwenglich, aber vertrauensvoll sprechen: „In deiner Hand sind meine Geschicke; auf dich, o Herr, vertraue ich.“

Amen.

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