Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
14. November 1999

Das Erscheinungsbild der Kirche

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Keine Einrichtung auf der ganzen Erde ist in den letzten 30 Jahren so in das Feuer der Kritik geraten wie die katholische Kirche. Wer immer über diese Kirche herfällt, kann auf Verbreitung seiner Meinung und auf Beifall rechnen. Immer neue Sendungen im Fernsehen und im Rundfunk werden ausgestrahlt, die diese Kirche beschmutzen, diffamieren und in den Dreck ziehen. Wir wollen uns deswegen am heutigen Sonntag und an den folgenden Sonntagen mit der Kirche, mit unserer Kirche, mit unserer geliebten Kirche beschäftigen. Wir wollen fragen, wie diese Kirche aussieht, was sie bedeutet, was sie wirkt und wie sie zu beurteilen ist. Am heutigen Sonntag wollen wir uns der Erscheinung der Kirche zuwenden, also wie die Kirche als ein Phänomen der Geschichte aussieht und angesehen wird.

Was uns an erster Stelle bei der Kirche auffällt, ist ihre große Zahl. Es gibt keine einzige Vereinigung von Menschen, die es an Zahl mit der katholischen Kirche auf dieser Erde aufnehmen können. Millionen und Abermillionen, fast eine Milliarde Menschen bekennt sich zu dieser Kirche, und das Eigenartige dabei ist: Diese Menschen werden zusammengehalten durch eine geistige Bestimmtheit. Diese Kirche hat nämlich eine bestimmte Struktur, und zu ihr muß man sich bekennen, und das Bekenntnis zu dieser Struktur, das wir Glauben nennen, ist eigentlich das zusammenhaltende Band zwischen den Millionen und Abermillionen katholischer Christen. Diese Gemeinschaft von Christen, die wir katholische Kirche nennen, hat eine große Ausdehnungskraft in sich. Sie ist nicht bloß ein Konglomerat von zufälligen zusammengeführten Teilen, nein, diese Kirche hat aus eigener Kraft sich zu dem entwickelt, was sie heute ist; sie besitzt wesentlich eine missionarische Komponente. Wir sind deswegen Johannes Paul II. dankbar, daß er in einer feindseligen Welt militanter Hindus in Indien hervorgehoben hat, daß die Kirche Mission betreibt, daß sie Mission betreiben muß und daß sie nicht aufhören darf, Mission zu betreiben. Denn sie ist auf Wachstum, auf Ausbreitung angelegt. Die Kirche muß sich ausbreiten, wenn sie nicht eingehen will.

Das zweite, was uns bei dieser Kirche auffällt, ist ihr Alter. Sie besteht, als die römischen Cäsaren regierten; sie hat die Katakomben überdauert; sie war im Mittelalter gegenwärtig und sie hat Bestand gehabt in der Welt des marmornen Barocks; sie richtet ihre Betonkirchen in modernen Industriestädten auf. Diese Kirche hat eine Dauer, wie sie keine Familie, kein Volksverband und kein Staat aufweisen kann. Die Dauer der Kirche ist auch nicht durch inneres Altern oder durch äußere Zerstörung abgebrochen worden. Wir wissen, daß Familien, Völker, Staaten altern, daß Imperien zusammenbrechen. Wer hätte es vor 20 Jahren für möglich gehalten, daß einmal das sowjetische Regime zugrunde gehen könnte? Aber auch dieses gewaltige Reich von Macht und von Ausdehnungsdrang hat ein Ende gefunden. Die Kirche kennt keinen Zerfall. Sie kennt auch keine Teilung. Gewiß, es haben sich Teile von ihr abgespalten, aber das waren eben andersgeartete Persönlichkeiten und Gruppen, die sich von ihr getrennt haben; das waren solche, die zu ihr nicht gepaßt haben. Sie haben sich getrennt; eine Kirchenspaltung hat es nie gegeben. Es hat Abspaltungen von dieser Kirche gegeben, aber die Kirche ist immer eine und eine einzige geblieben. Es gibt keine Kirchenspaltung, denn der Leib Christi ist ungeteilt. Es gibt also keine zwei katholischen  Kirchen nebeneinander. Es gibt auch keine mehreren katholischen Kirchen im Wechsel der Zeiten. Die Kirche bleibt immer ein und dieselbe. Die Kirche ist die gleiche gewesen, die damals aus den Katakomben stieg; sie ist die gleiche gewesen im konstantinischen Zeitalter; sie ist die gleiche geblieben in der Welt der Scholastik und der gotischen Dome; sie ist die gleiche auch heute geblieben. Ignaz Döllinger, der Münchner Theologe, hat unrecht gehabt, als er nach dem Ersten Vatikanischen Konzil sagte: Man hat eine andere Kirche geschaffen. Nein! Die Kirche ist auch nach dem Ersten Vatikanischen Konzil dieselbe geblieben, und sie wird auch nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil dieselbe bleiben. Sie muß dieselbe bleiben, wenn immer sie nicht aufhören will, das Gewächs Gottes zu sein.

Diese Kirche hat eine besondere Eigenart darin, daß sie nicht aus dem zusammengefügt ist, was sonst Menschen zusammenführt.  Welches sind denn die mächtigsten Triebkräfte auf dieser Erde? Der Hunger- und der Lusttrieb. Durch Hunger- und Lusttrieb werden die Menschen getrieben und zusammengetrieben. Das sind nicht die Triebe, welche die katholische Kirche zusammengefügt hat, denn sie setzt den Trieben des Menschen den stärksten Widerstand entgegen. Sie ist ja gerade diejenige, die den Leidenschaften und Neigungen des Menschen wehrt. Diese Kirche hat vielmehr das Ewige immer über das Zeitliche gesetzt, das Göttliche über das allzu Menschliche, das Sittliche über das Tierische. Das ist ihre große Ehre, daß sie sich nicht dem Hunger- und dem Lusttrieb gebeugt hat, sondern daß sie es gewagt hat, einer ganzen Menschheit ins Antlitz zu sagen: „Du darfst“ oder: „Du darfst nicht“. Die Kirche hat ihren Zusammenhalt auch nicht der Staatsmacht zu verdanken. Gewiß, sie hat versucht, im Frieden mit dem Staat zu leben; sie hat versucht, die Mächtigen dieser Erde günstig zu stimmen. Aber es gibt kein Jahrhundert, es gibt kein Jahrzehnt in der ganzen Geschichte, in dem die Kirche nicht im Kampf mit den Mächten der Welt gestanden ist. Die Kirche hat sich nicht gebeugt; sie hat sich nicht auf die Seite des Stärkeren geschlagen. Es ist nicht wahr. Wer das sagt, der lügt. Die Kirche hat die Mächtigen in ihre Schranken gewiesen. Sie hat sich der Schwachen und der Alleingelassenen angenommen und ist dadurch nur allzu oft in Streit mit den Mächten dieser Erde geraten.

Die Kirche verdankt ihren Zusammenhalt und ihren Bestand auch nicht dem Besitz. Gewiß, sie weiß, daß es irdischer Mittel bedarf, um sich in dieser Welt zu behaupten. Aber sie hat sich nie an den Besitz verloren. Sie hat die Gefahren, die vom Besitz ausgehen, immer überwunden; und wenn sie bettelarm war, dann war sie häufig am reichsten.

Diese Kirche hat auch in 2000 Jahren eine umfassende Wirksamkeit entfaltet. Sie hat die Christenheit erschaffen; sie hat das Christentum in Europa und in allen anderen Erdteilen begründet. Diese Kirche ist es, die die Lehre von Gott, dem Einen und von Jesus Christus, seinem Sohn, durch die Zeiten getragen hat. Sie hat die Lehre vom ewigen Leben und vom endlichen Gericht den Menschen unterbreitet. Sie hat die Mysterien des Christentums bewahrt, und das ist kein geringer Sieg der Kräfte, die in der Kirche am Wirken sind; denn wir wissen, wie viele Menschen, wie viele Theologen anderer Konfessionen die Mysterien des Christentums auflösen, aushöhlen, entmythologisieren, wie man sagt. Die Kirche hat diesen Bestrebungen Widerstand geleistet, und es ist immer noch so gewesen, daß die katholischen Gläubigen aller Säkularisierung zum Trotz die standhaftesten waren in der Bewahrung der Geheimnisse des Christentums. Sie haben am meisten Widerstand geleistet in Zeiten des Bolschewismus und des Nationalsozialismus. Sie sind auch diejenigen, die verhältnismäßig am meisten den zersetzenden Tendenzen irrlichternder Theologen widerstehen.

In ihrer Wirksamkeit hat die Kirche sich zuerst auf religiösem Gebiet betätigt. Aber es ist nicht dabei geblieben; sie hat auch auf das Gebiet der Kultur übergegriffen. Die Kirche hat eine religiöse Kultur geschaffen, die wir heute noch bewundern. Welche Denkmäler sind denn sehenswert in unseren Landen? Es sind die, welche die christliche Vorzeit geschaffen hat. Darüber hinaus hat sie auch der allgemeinen Kulturentwicklung einen Anstoß gegeben, indem sie die Aufgeschlossenheit, die Bewegtheit, den Willen zur Form in den Menschen hervorgerufen hat. Die Kirche hat für die Volkserziehung, für die Wissenschaft und für die Kunst Unermeßliches geleistet. Das ist ihr Ruhm, und das ist ihr Triumph.

Die Kirche hat auch das naturgetreue, reine, wahre Menschentum gefördert. Sie ist niemals in Extreme verfallen: Verdammung des Körperlichen, wie es gnostische Sekten getan haben, oder Übersteigerung des Körperlichen, wie es die naturalistischen Vereinigungen tun. Nein, die Kirche ist immer den Weg nun aber wirklich der gesunden Mitte gegangen. Sie war immer diejenige, die Extreme abgewiesen hat, abgestoßen hat und dem wahren, echten, treuen Menschentum die Treue gehalten hat. Wir wollen nicht bestreiten, und wir denken nicht daran zu leugnen, daß die Kirche auch von außen Einwirkungen empfangen hat, manchmal gegen den eigenen Willen von Gliedern der Kirche, die ihr zum Heile waren. Die Kirche stand zeitweilig in der Gefahr, den Staat gleichsam zu übermächtigen. Durch den Widerstand des Staates, aber auch durch eigene Erkenntnis ist diese Versuchung überwunden worden.  Wohin es führt, wenn der Staat allmächtig ist oder wenn eine Religion allmächtig ist, das erleben wir in den islamischen Ländern. Im Iran bestimmen die Mullahs das gesamte Leben und unterdrücken jede freie Meinung. In Afghanistan hat der Terror der Taliban-Milizen eine Herrschaft des Schreckens aufgerichtet. Das ist angeblich der Triumph des Islam. Nein, die Kirche hat einem gesunden Dualismus zwischen kirchlicher Macht und staatlicher Gewalt das Wort geredet. Es sind zwei Mächte auf Erden, so haben ihre großen Theologen und Kanonisten verkündet, die beide auf Gott zurückgehen: die Kirche und der Staat. Und so muß man der Kirche geben, was der Kirche ist; man muß aber auch dem Staate geben, was des Staates ist.

Wenn man fragt, welches die Hauptstützen dieser Kirche sind und wie man diese Hauptstützen in ihrer Geschichte feststellen kann, dann stößt man auf zwei, nämlich auf das Papsttum und auf die Heiligen. Das Papsttum ist für die katholische Kirche vor allen anderen Erscheinungen eine der sichtbarsten Stützen. Meine lieben Freunde, wenn es auf die Menschen in der Kirche und auf die Bischöfe angekommen wäre, dann sähe die Kirche ganz anders aus als sie heute vor uns dasteht. Das Papsttum hat sie bewahrt als die eine, heilige, katholische Kirche. Das war schon in den ersten Jahrhunderten so, das hat sich durchgehalten; und mögen auch unwürdige Prälaten den Stuhl Petri besetzt gehalten haben: Sie alle haben sich in ihrer Aufgabe als Hüter des Glaubens und als Bewahrer der Identität der Kirche bewährt.

Die Heiligen sind die wahrhaft unvergeßlichen Menschen. Sie leben im Gedächtnis der Menschen weiter, nein, sie leben im Herzen der Menschen weiter. Sie sind es, von denen die Kirche wahrhaft lebt. Papsttum und Heilige sind ja nun zwei sehr gegensätzliche Pole im Leben der Kirche. Das Papsttum ist der Triumph des Amtes, des Prinzips, der Form; die Heiligen sind der Triumph des Persönlichen, des Geistbewegten. Das Papsttum ist eine konservative Macht, die Heiligen sind die fortschrittlichen Kräfte in der Kirche, die einzig fortschrittlichen, die wahrhaft fortschrittlichen. Das Papsttum ist der Gipfel der Organisation, die heiligen sind die tiefen Brunnen, aus denen Gottes Gnade und Kraft quillt. Papsttum und Heilige sind die Hauptstützen der Kirche. Ihre Paarung ist die Paarung von Prinzip und Person, ist das Zusammen von objektiver Größe und subjektiver Kraft. Wenn die Kirche in diesen 2000 Jahren sich durchgehalten hat, wenn sie sich ausgebreitet hat, wenn sie ein und dieselbe geblieben ist, dann ist das dem Zusammenspiel und der Polarität dieser beiden Kräfte zu verdanken. Durch sie ist sie das geworden und geblieben, was sie sein soll, nämlich die katholische, d. h. die große, die allumfassende, die Weltkirche.

Amen.

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