Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
1. April 1990

Die Heiligkeit, Wahrhaftigkeit und Treue Gottes

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Die schwerste Anklage, die Jesus jemals gegen die zeitgenössischen Juden erhoben hat, ist im heutigen Evangelium enthalten. „Ihr kennt Gott nicht.“ Das war ja der ganze Stolz der Israeliten, daß sie die Offenbarung hatten, daß sie den Bund hatten, daß sie die Schrift hatten, daß sie den wahren Gott hatten. Und jetzt hält ihnen Jesus von Nazareth entgegen: „Ihr kennet ihn nicht!“ Wer Gott nicht kennt, kennt überhaupt nichts. Das ist der Grund, warum wir uns jetzt so viele Sonntage Gedanken über die Eigenschaften Gottes gemacht haben. Wir wollen Gott kennen. Wir wollen wissen, wer der Grund und das Ziel unseres Lebens ist. Es gibt aber noch ein anderes Argument für diese Predigtreihe, die an den vergangenen Sonntagen vor uns abgelaufen ist, nämlich: Nur wenn wir Gott kennen, wissen wir, wie wir sein sollen; denn Gott ist unser großes Vorbild und unser höchster Gesetzgeber. Wir wissen erst, was gut ist und was recht ist, wenn wir die Güte Gottes und die Gerechtigkeit Gottes kennen. Wir müssen Gott kennen, um zu wissen, wie wir handeln sollen. Der richtige Gottesbegriff ist die Voraussetzung für das rechte Handeln. Deswegen ist die Redeweise falsch: „Wir haben ja alle denselben Gott.“ Eben nicht! Die Vorstellungen von Gott sind sehr verschieden. Es gibt richtige und falsche Gottesvorstellungen. Es kommt aber darauf an, die richtige Gottesvorstellung zu haben, jene, von der Gott will, daß wir sie haben. Und eben das ist unser Glück und unsere Freude, daß Gott uns Christen die wahre, die richtige, die einzig wahre, die einzig richtige Gottesvorstellung vermittelt hat. Deswegen gibt es eine Offenbarung, deswegen gibt es eine Heilige Schrift, deswegen gibt es einen Offenbarer, damit die Menschen Gott kennenlernen und infolgedessen wissen, wie sie handeln sollen.

Die Abhängigkeit der Moral von der Dogmatik ist somit offensichtlich. Wir wollen heute zum letztenmale an drei Beispielen zeigen, wie sehr unsere sittlichen Normen vom Wesen und von den Eigenschaften Gottes abhängen. An erster Stelle, indem wir Gottes Heiligkeit, an zweiter Stelle, indem wir seine Wahrhaftigkeit, und an dritter Stelle, indem wir uns seine Treue vor Augen führen.

Gott ist heilig. Das heißt im ethischen Sinne: Gott verabscheut das Böse und will nur das Gute. Alles, was Gott will, ist gut. Wir können also am Wollen Gottes, an seinen Werken, ablesen, was gut ist. Und dieser heilige Gott hat uns die Weisung gegeben: „Seid heilig, wie ich heilig bin!“ Unsere ethische Heiligkeit soll ihr Maß an Gottes Heiligkeit nehmen. Zu diesem Zweck hat Gott manche Veranstaltung getroffen. Er hat das Naturgesetz gegeben. Das natürliche Sittengesetz ist die Schöpfungsordnung, das sind die Normen, die Gott in die Schöpfung selbst hineingelegt hat. Er hat die zehn Gebote gegeben, den Sinaibund mit den Menschen geschlossen, der die natürlichen Normen bestätigt. Er hat dem Menschen einen Wächter ins Herz gegeben, der ihm diese Normen vermitteln soll. Diesen Wächter nennen wir Gewissen. Dieses Gewissen ist nicht schöpferisch tätig, es erzeugt keine Normen, wie die sogenannte autonome Moral will. Nein, das Gewissen bringt die Normen, die Gott gegeben hat, uns zur Kenntnis. Das Gewissen empfängt das Licht, aber es entzündet es nicht. Das ist der Grundfehler der sogenannten autonomen Moral, daß sie meint, der Mensch erfinde die Normen, statt daß er sie findet. Er findet sie, er findet sie vor, aber er erzeugt sie nicht. Das Gewissen ist immer und ausnahmslos an das Gesetz gebunden, und dieses Gesetz ist die höchste Norm. Das Gewissen kann bei der Erkenntnis dieses Gesetzes in die Irre gehen. Das ist wegen der menschlichen Schwäche möglich. Aber auch in diesem Falle bleibt das Gewissen gebunden, nämlich an die fälschlicherweise angenommene göttliche Norm.

Um uns zur Heiligkeit zu führen, schickt Gott Leiden über uns. Die Leiden wollen uns zu seinem Gesetz hinzwingen. Um uns rein zu machen, hat er selbst nach dem Tode noch eine Möglichkeit geschaffen, von Unreinheit befreit zu werden. Es ist die wichtige, die unaufgebbare Lehre vom Reinigungszustand, vom Fegfeuer. „Seid heilig, wie ich, euer Gott, heilig bin!“

Der Kardinal Newman hat einmal diesen Tatbestand in den schönen Satz zusammengefaßt: „Wir gefallen uns so lange, wie wir nicht Gott anschauen.“ Das heißt, ohne Rücksicht auf Gott sind wir mit uns zufrieden. Die Menschen unterscheiden sich ja nicht allzu viel voneinander, sie nehmen das Maß voneinander, aber das ist eben ein falsches Maß. Wir sind so lange zufrieden, wie wir nicht Gott anschauen. Dann erkennen wir den Abgrund, der zwischen seiner Heiligkeit und unserer Unheiligkeit klafft, und dann erkennen wir unsere Verpflichtung, heilig zu werden, in menschlicher, in geschöpflicher Weise, wie Gott als der Schöpfer heilig ist.

Zweitens die Wahrhaftigkeit Gottes. Gott ist wahrhaftig, d. h. er verabscheut die Lüge und offenbart immer die Wahrheit. Gott kann nicht unwahr sein. Er ist allwissend, und deswegen kann er die Wahrheit sagen, und er ist heilig, deswegen muß er die Wahrheit sagen. „Es ist der Wahrheit Wort, und was kann wahrer sein?“ So steht es in dem erhabenen Hymnus des heiligen Thomas Adoro te devote – In Demut bete ich dich, verborgene Gottheit, an. Und es ist leicht begreiflich, warum Thomas ausgerechnet in diesen Hymnus das schöne Wort aufgenommen hat „Es ist der Wahrheit Wort, und was kann wahrer sein?“ Denn Gottes Offenbarung mutet dem Menschen allerhand zu. Die Geheimnisse der Dreifaltigkeit, der Menschwerdung, des Altarsakramentes sind von einer abgründigen Tiefe. Da gerät der Verstand leicht in Verlegenheit und sucht Ausflüchte. Die bekannteste Ausflucht ist der Rationalismus, das heißt jene Verirrung, welche die göttliche Offenbarung auf das Maß des menschlichen Verstandes zurückschneiden will. Dieser Verirrung ist der Protestantismus seit Jahrhunderten verfallen, dem Rationalismus, der Gott nicht mehr als Gott gelten läßt, sondern der alles Göttliche, alles, was übervernünftig ist, durch Vernünftelei auf das menschliche Maß zurückschneiden will. Wenn Gott sagt: „Das ist mein Leib!“, dann ist es sein Leib. Das ist ein Wort, genauso mächtig wie das andere: „Es werde Licht!“ Wenn Gott sagt: „Es werde Licht!“, dann wird Licht, und wenn Gott sagt: „Das ist mein Leib!“, dann wird es sein Leib.

Im vorigen Jahrhundert lebte in England der große Jurist O'Connor. Dieser Mann ist der Befreier der Iren. Er hat die Katholikenemanzipation im englischen Parlament durchgesetzt. Er war ein gläubiger Mann, und eines Tages sagte einer zu ihm: „Ist es nicht eine Torheit, wenn Sie an die Gegenwart Christi im Altarsakrament glauben?“ O'Connor gab die Antwort: „Das müssen Sie mit Jesus selbst ausmachen. Er hat es gesagt, und deswegen nehme ich es an.“ Wahrhaftig, das ist eine Antwort, wie sie der Wahrhaftigkeit Gottes entspricht. Er hat es gesagt, und deswegen nehme ich es an. Wenn er es sagt, dann kann es nur die Wahrheit sein.

Spät, sehr spät erkennen manche Menschen die Wahrheit des Evangeliums und die Wahrheit des Glaubens. Fast sein ganzes Leben hatte Heinrich Heine als Spötter zugebracht, als Spötter auch über heilige Dinge. Aber er hat sich am Ende seines Lebens bekehrt. Als er in Paris auf seinem Krankenlager dahinsiechte, hat er in der Bibel gelesen und: „Ich bin wie der verlorene Sohn. Ich habe heimgefunden zu Gott. Und wem verdanke ich es? Ich verdanke es diesem unscheinbaren Buche der Heiligen Schrift, dem Buche, das 'das Buch' heißt, der Bibel.“

Drittens Gottes Treue. Die Treue Gottes besagt, daß Gott seine Verheißungen und seine Drohungen erfüllt. Gott ist kein Hampelmann, der etwas ausspricht, was dann nicht seine Erfüllung findet. Wenn Gott verheißt, dann geht die Verheißung in Erfüllung, und wenn Gott droht, geht die Drohung in Erfüllung. Die Urkunden der Heiligen Schrift sind voll von Beweisen für diese Wahrheit. „Von allen Bäumen in diesem Garten darfst du essen. Aber von einem darfst du nicht essen. An dem Tage, da du davon ißt, mußt du sterben.“ Das war eine Drohung Gottes. Und wir wissen, wie diese Drohung nach dem Sündenfalle der Menschen in Erfüllung gegangen ist. Dem jüdischen Volke hat der Herr das Land verheißen, „in dem Milch und Honig fließt“, das Land Palästina. Diese Verheißung ging in Erfüllung. Nach fünfzehnjähriger Wüstenwanderung gelangte das Volk in das verheißene Land. Dem König David hat, als er noch ein Knabe war, Gott den Thron in Israel verheißen, und er wurde nach dem Sturze Sauls König von Israel. Den Menschen in Sodoma und Gomorrha hat er wegen ihrer Lasterhaftigkeit den Untergang angedroht, und es fiel Schwefel und Feuer über Sodoma und Gomorrha und vertilgte die Lasterstädte.

Es gibt heute Leute, meine lieben Freunde, die wollen von den Drohungen Gottes nichts wissen. Sie werfen früheren Verkündigern des Evangeliums vor, sie hätten die Frohbotschaft in eine Drohbotschaft verwandelt. Diese Vorwürfe sind völlig unangebracht, denn das Evangelium enthält nicht nur Verheißungen, sondern auch Drohungen. Die Drohungen sind ein Bestandteil des Evangeliums. Auch im Neuen Testament stehen an vielen Stellen solche Drohungen. Oder was bedeutet es denn, wenn der Apostel Paulus schreibt: „Ich sage euch, viele wandeln als Feinde des Kreuzes Christi. Ihr Gott ist der Bauch, und ihr Ende ist das Verderben“? Was ist das denn anderes als eine Drohung? Daß die Unzüchtigen und die Habsüchtigen und die Geizigen und die Neidischen und alle Lasterhaften nicht in das Reich Gottes eingehen werden, das ist doch eine Drohung. Und hat nicht der Herr oft und oft davon gesprochen, daß es eine Stätte gibt, wo Heulen und Zähneknirschen sein wird? Es ist eine Verkehrung des Evangeliums, wenn man die Drohungen aus ihm entfernt. Die Drohungen sind ein genau so legitimer Bestandteil der Frohbotschaft wie die Verheißungen.

Der heilige Augustinus hat diesen Tatbestand einmal trefflich ausgedrückt: „Wer dir zuruft: 'Aufgemerkt!', der will dich nicht stoßen. Gerade so macht es Gott. Er droht mit seinen Züchtigungen, um nicht züchtigen zu müssen.“ Der heilige Augustinus hat einen komplizierten Sachverhalt in diese einfachen Worte gefaßt. Wer dir zuruft: 'Aufgemerkt!', der will dich nicht stoßen, sondern aufmerksam machen. Gerade so macht es Gott. Er droht mit seinen Züchtigungen, um dich nicht züchtigen zu müssen. Denn auch über den Züchtigungen Gottes liegt ein heiliges Muß. Gott kann die Sünder nicht ungestraft lassen, Gott kann das Böse nicht hingehen lassen, er muß um seiner Gerechtigkeit willen und um seiner Heiligkeit willen das Böse bestrafen und das Gute belohnen.

Die Treue Gottes ist also nichts anderes als die Wahrhaftigkeit in seinen Verheißungen. Und wir dürfen uns auf seine Verheißungen verlassen. So wie im Neuen Testament die Drohung in Erfüllung ging, daß Jerusalem zerstört werden wird, so wird auch die Verheißung Gottes in Erfüllung gehen, daß die Kirche niemals aufhören wird zu bestehen, daß es immer einen Felsenmann in der Kirche geben wird. Es wird in Erfüllung gehen, daß es schreckliche Zeichen am Himmel und auf der Erde geben wird, die das große Weltgericht einleiten. Es wird in Erfüllung gehen die Auferstehung der Toten, und es wird in Erfüllung gehen das ewige Leben. Wir dürfen uns auf die Worte des Heilandes verlassen: „Himmel und Erde werden vergehen, aber meine Worte werden nicht vergehen!“

Ich habe manchmal an Sterbenden erlebt, wie sie unsicher wurden bezüglich dessen, was vor ihnen stand, daß sie bange fragten: Ist denn das alles wahr, daß es einen Himmel der Freuden gibt? Der Versucher kommt zumal in der Todesstunde, um den Sterbenden zu erschrecken. Ich erinnere etwa an den heiligen Martin von Tours, der gerade in seiner Sterbestunde vom Teufel versucht wurde.

Ich verweise aber auch auf jenen alten Mann, der vor einigen Jahren starb. Er war 87 Jahre alt. Er starb friedlich und gefaßt, ja heiter. Und als seine Kinder ihn fragten: „Vater, warum bist du so ruhig und froh?“, da gab der alte Mann zur Antwort: „Ich habe in meinem ganzen Leben niemals schuldhaft den Sonntagsgottesdienst versäumt. Ich habe es so gehalten, meine Eltern haben es so gehalten, und ich nehme von euch an, daß ihr es so halten werdet. Ich bin überzeugt, daß Gott denen ein gnädiger Richter sein wird, die seinen Tag heilig gehalten haben.“ Dieser alte Mann lebte also und starb im Vertrauen auf Gottes Wahrhaftigkeit, auf seine Treue zu seinen Verheißungen.

So wollen auch wir, meine lieben Freunde, uns nicht irremachen lassen, wollen uns nicht verwirren lassen, nicht verzagen und nicht verzweifeln. Wir wollen bauen auf unseren heiligen, wahrhaftigen und treuen Gott, der alles belohnt, was für ihn getan, gelitten und gekämpft worden ist, der alles bestraft, was gegen ihn geschehen ist, der sich des Sünders erbarmt, wenn er ihm in Vertrauen und in Buße naht. „Wären deine Sünden rot wie Scharlach, sie sollen weiß werden wie Schnee. Wären sie rot wie Purpur, sie sollen weiß werden wie reine Wolle!“

Amen.

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