Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
7. Juli 2002

Das Gebot, Gott zu lieben (1.)

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Wir hatten uns vorgenommen, beginnend am vorigen Sonntag, die Gebote Gottes zu betrachten. Die Gebote Gottes gehen von einem großen Liebenden aus. Sie sind Zeichen und Geschenk der Liebe Gottes. Sie können deswegen auch nur in Liebe erfüllt werden. Der Herr sagt nicht umsonst: „Die Liebe ist die Erfüllung aller Gebote.“ Die Liebe steht am Beginn der Gebote, und sie steht am Ziel der Gebote. Sie ist die Erfüllung des Gesetzes.

Das erste und oberste Gebot heißt: „Du sollst Gott lieben!“ Mit diesem Gebot müssen wir beginnen. Vielleicht meint der eine oder andere von Ihnen: Es gibt doch Gebote, die näher liegen, die uns mehr angehen, die uns im täglichen Leben beschäftigen, etwa das Gebot der Ehrfurcht vor den Eltern oder das Gebot der ehelichen Treue oder das Gebot der beruflichen Pflichterfüllung. Gewiß, diese Gebote liegen uns nahe. Sie liegen uns deswegen nahe, weil sie unser tägliches Leben, unseren täglichen Nächsten betreffen. Noch näher freilich liegen uns andere Gebote, etwa: Du sollst im Nichtraucherabteil nicht rauchen, oder: Du sollst dem Verkehrspolizisten gehorchen. Aber wir sehen, diese Gebote sind sehr äußerlich. Sie führen uns nicht in die Mitte des Gesetzeswillens Gottes hinein. Wenn wir den Zusammenhang der Gebote, den letzten Grund, den Inbegriff der Gebote erfassen wollen, dann müssen wir zurückgehen auf das eine Gebot: Du sollst Gott lieben!

Da könnte sich aber wieder eine andere Frage, ein anderer Einwand erheben: Kann man denn die Liebe gebieten? Ist die Liebe nicht etwas frei Strömendes, ein Geschenk, das eben aufbricht und da ist? Kann man die Liebe gebieten? Und kann man die Liebe zu Gott gebieten? Gott ist der Unendliche, der Allmächtige. Er ist so fern, er ist so rätselhaft. Kann man diesen Gott lieben? Fürchten kann man ihn, dienen kann man ihm, anbeten kann man ihn, aber kann man ihn lieben? Unter uns Menschen heißt es: Aus den Augen – aus dem Sinn. Und nun sollen wir einen Gott lieben, der niemals in unsere Augen kommt, weil er der Unsichtbare ist? Es stehen also eine Reihe von Fragen auf, welche die Liebe Gottes betreffen. Ich will versuchen, Ihnen zu zeigen, daß man Gott lieben kann, daß man ihn lieben muß, daß man ihn lieben muß, wie von einem unsichtbaren Zwang getrieben.

Wissen wir überhaupt, was Liebe ist? Können wir die echte Liebe von der unechten, die wahre Liebe von der falschen, von der vermeintlichen Liebe unterscheiden? Haben wir Liebe zu unseren Angehörigen, zu unseren Eltern, zu unseren Kindern, zu unserer Frau, zu unseren Freunden? Haben wir solche Liebe? Wissen wir, ob das eine wahre Liebe ist? Um zu erfahren, was Liebe ist, was echte, was wahre, was wertbeständige Liebe ist, müssen wir die Liebe zu Gott betrachten; denn das ist die Urliebe, das ist das Urbild und das Vorbild jeder Liebe. Was steht da in uns auf, wenn uns Gott begegnet? Und wie begegnet er uns? Er begegnet uns als das große Geheimnis, als das ewige Licht und als unser persönliches Du. Gott begegnet uns in dreifacher Weise.

Er begegnet uns erstens als unser großes Geheimnis. Die Welt, unser Leben, die Menschen sind voller Geheimnisse. Geheimnisse weiß auch die Wissenschaft anzugeben. Jeder Künstler spricht vom Geheimnis seiner Kunst, seines Gemäldes, seiner Musik. Ein Geheimnis ist unsere Zeit und unsere Ewigkeit, unsere Vergangenheit und unsere Zukunft; wir gehen immerfort in Unerforschliches hinein. Das Geheimnis aller Geheimnisse, das letzte Geheimnis, die letzte Tiefe aller Geheimnisse ist Gott. Er ist ein Geheimnis über allen Geheimnissen. Er ist unfaßbar, er ist unbegreifbar, er ist unerforschlich. Was steht auf, wenn wir einem Geheimnis uns nahen? Nun, ein Staunen, ein Zittern, ein Nicht-Begreifen-Können. Vor einem Geheimnis muß man gleichsam in die Knie sinken und es umfangen, denn ein Geheimnis ruft die Sehnsucht und weckt das Staunen. Ehrfurcht, Staunen und Sehnsucht ist es, was bei einem Geheimnis in uns aufsteht, und erst recht bei dem Geheimnis, das Gott ist. Ehrfurcht, Staunen und ein seliges Umfangen, das muß in uns aufstehen, und das ist der Anfang der Liebe, das gehört zur Liebe. Wer in einer Liebe nicht staunen kann, wer in einer Liebe keine Sehnsucht empfindet, wer keine Ehrfurcht in der Liebe findet, der hat keine wahre Liebe. Und erst recht und noch viel mehr müssen Staunen, Ehrfurcht, Sehnsucht uns umfangen, wen wir das große, das größte, das unfaßliche Geheimnis Gottes uns vor Augen führen und ihm begegnen. Gott ist unser großes Geheimnis.

Gott ist auch unser ewiges Licht. Licht ist die Kraft des Erleuchtens. Licht macht es hell um uns, so daß wir einen Sinn finden, daß wir etwas begreifen. Licht vertreibt die Finsternis und führt uns hinein in die Helligkeit. Es gibt auch auf Erden Licht; es ist nicht alles dunkel. Inmitten der Sinnlosigkeiten unseres Daseins zeigt sich auch immer wieder ein Sinn. Oft nach langer Zeit und schweren Erschütterungen unseres Glaubens erkennen wir, daß doch nicht alles sinnlos war, sondern daß das Geschehen einen tiefen Sinn hatte. Licht ist die Kraft des Aufbaues, des Jasagens, des Neuentstehens. Als der Mount Helens in den USA ausbrach und eine furchtbare Verwüstung anrichtete, als jetzt die Feuerwände in Colorado und in Arizona Hektar auf Hektar des Waldes vernichteten, da hat mancher Mensch bei sich gedacht: Wie wird das einmal aussehen, wenn der Brand erloschen ist? Und siehe da, aus dem verwüsteten Gelände sprießt nach kurzer Zeit wieder das frische Grün, und bald hat die Natur sich zurückerobert, was die Verwüstung ihr genommen hat. Das ist die Kraft des Lichtes. Und im Licht kann der Mensch frohlocken, aufatmen und Dank sagen. Und Gott ist nun das Licht, das ewige Licht. „Licht ist in ihm und keine Finsternis“, sagt der Apostel Johannes. Das heißt, er ist die Kraft des Aufbaues, des Bestandes, der Gewährleistung. Gott ist die Wirklichkeit der Wirklichkeiten. Von ihm kann nur Wirklichkeit ausgehen, nicht Tod, nicht Vernichtung, nicht Zerstörung. Er ist das ewige Licht, das immer war und das nie aufhören wird. Und wenn die Finsternis es auch nicht begriffen hat, so ist das Licht doch da. Wenn wir diesem Licht begegnen, diesem Jasagen, dieser Kraft des Aufbaues, dann kann in unserer Seele nur aufstehen, was wir auch sonst, wir lichthungrigen Menschen, empfinden, wenn das Licht nach der Nacht, nach der Dunkelheit kommt, nämlich ein Aufatmen, ein Frohlocken, ein Seligsein, ein Danksagen. Wir sagen dir Dank, Gott, daß du bist. Wir sagen dir Dank, daß du Licht bist; wir sagen dir Dank ob deiner großen Herrlichkeit.

Gott ist drittens unser persönliches Du. Gott ist nicht eine dunkle Kraft; Gott ist nicht ein augenloses Fatum. Gott ist eine Persönlichkeit. Eine Persönlichkeit umschließt zwei Wirklichkeiten, einmal das geistige Für-sich-Sein und zum anderen das Bewußtsein um dieses Für-sich-Sein. Was in uns Menschen ist, erhaben über alle belebte und unbelebte Natur, das muß auch in Gott sein, denn er ist der Schöpfer von allem. Gott ist eine Person. Als noch nichts auf Erden war, als es noch keine Erde gab, vor der Schöpfung, da war in Gott auch ein Du-Sagen, da war auch in Gott ein persönliches Leben, da hat der Vater sich dem Sohn geschenkt, der Sohn dem Vater, und beide haben im Heiligen Geist ihren Lebensvollzug in herrlicher Fülle gelebt. Dieses persönliche Du begegnet uns. Wenn dieses Du uns begegnet, dann entsteht eine Gemeinschaft. Wir wissen ja schon auf Erden: Ohne Gemeinschaft ist nichts zu machen. Vae soli – wehe dem, der allein steht! Alles höhere Leben, alles Geistesleben, alle Kultur, alles Wachstum, aller Fortschritt ist gebunden an die Gemeinschaft. Und so ist es auch im Verhältnis zu Gott. Wenn wir vorankommen wollen, dann müssen wir auf Gott zugehen, dann müssen wir Gott hereinlassen, dann müssen wir auf Gott hören. Die Verbindung mit Gott gibt uns Vertrauen. Ja, wir können Vertrauen haben zu Gott, denn er ist ein Gott, der ein Herz hat. Es ist ein Herz in Gott, also ein Empfinden, also eine Liebe, also ein Schenkenwollen und ein Beseligenwollen. Wenn wir Gott in dieser Weise finden, dann lieben wir ihn, indem wir ihm vertrauen, indem wir uns ihm überantworten, indem wir sagen: Mein Gott bist du, in deiner Hand sind meine Geschicke.

Gott ist unser großes Geheimnis, Gott ist unser ewiges Licht, Gott ist unser persönliches Du. Ihn kann man nur lieben, ihn darf man lieben. Ja, das ist eigentlich der Sinn des Gebotes „Du sollst Gott lieben“. Es ist eine Verheißung, es ist eine Erlaubnis: Wir dürfen Gott lieben. Wir dürfen ihn lieben, weil er der Liebenswürdigste von allen ist. Wir müssen ihn lieben, weil er die Liebenswürdigkeit in Person ist. Gott zu lieben ist schwer und leicht. Schwer für den, der ein enges, kleines, verzagtes Herz hat; leicht für den, der ein weites, großes, großmütiges Herz hat. Die Liebe zu Gott ist ein Aufstieg, also eine Aufgabe. Die Liebe zu Gott ist ein Nahesein, aber ein Nahesein beim Gebirge und beim Meer. Die Liebe zu Gott ist ein Wohnen, aber ein Wohnen im Blitz. Die Liebe zu Gott ist eine große Tat und ein großer Mut. Nur wer mit großem Mut und mit großer Tat auf Gott zugeht, findet die Liebe zu Gott. Sie ist auch ein Kampf und ein Wagnis, wie wir sehen werden, denn Gott stellt Forderungen. Aus dem Berg der Gebote, aus dem Sinai, fahren Blitze, und aus den Blitzen kommt eine Stimme: „Du sollst keine fremden Götter neben mir haben!“ Diese Blitze und diese Stimme erschrecken uns nicht. Wir wollen ihm antworten, indem wir in die Blitze schauen und sagen: Wir wollen auch keine anderen Götter neben dir haben, denn keiner ist dir gleich. Du bist unser Gott, der Gott unseres Herzens und unsere Seligkeit in Ewigkeit.

Amen.

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