Die Wahrheit verkündigen,
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Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
Dogma
17. November 2002

Die Bedeutung der Dogmen

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Wir haben an den vergangenen Sonntagen den Dekalog, das Zehn-Gebote-Gesetz Gottes uns vor Augen geführt. Die Gebote Gottes sind nicht bloß äußere Tafeln, die man durch äußere Erfüllung befriedigt beiseite legen kann. Nein, sie wenden sich an das Herz, an die Gesinnung; sie wollen durch ein Herz erfüllt sein, das Gott hingeneigt ist. Genau das ist es: Hinneigung zu Gott soll unsere Sittlichkeit bestimmen. Dann aber können diese Gebote nicht im leeren Raum schweben, sondern müssen eine Unterlage haben, und diese Unterlage muß sein die Welt Gottes, die Wirklichkeit Gottes, der Wille Gottes und das Wesen Gottes. Die Ethik im Christentum bedarf der Dogmatik. Die Gebote müssen auf Dogmen aufruhen, und das wird unsere Aufgabe an den kommenden Sonntagen sein, uns die wesentlichen Dogmen der Kirche vor Augen zu führen. Am heutigen Sonntag wollen wir bedenken, was ein Dogma ist. Wir wollen fragen nach dem Inhalt, nach der Form und nach der Kraft von Dogmen.

Wenn der moderne Mensch das Wort Dogma hört, da zuckt er zusammen, denn Dogmen kommen ihm als etwas Weltfernes und Lebensfremdes vor. Es sind für ihn leere und tote Worte – ausgenommen freilich seine eigenen Dogmen, die hält er hoch. Die modernen Dogmen lauten zum Beispiel: „Der Kündigungsschutz darf nicht angetastet werden.“ Dogma des DGB. Ein anderes Dogma lautet: „Die parlamentarische Demokratie darf nicht abgeschafft werden.“ Dogma des Grundgesetzes. Aber nicht von diesen Dogmen wollen wir sprechen, denn sie haben Menschen erfunden, und sie haben nicht die Qualität von den Dogmen, die wir hier zu besprechen haben. Wir wollen von den Dogmen Gottes sprechen.

Daß bei den Menschen, auch bei vielen Katholiken, der Eindruck entsteht, die Dogmen seien etwas Weltfernes und Lebensfremdes, hat mehrere Gründe. Dieser Eindruck nährt sich einmal aus der Unvollkommenheit und Schwäche des religiösen Lebens. Wer kein intensives religiöses Leben führt, der kann die Welt Gottes nicht verstehen. Der Eindruck nährt sich zweitens aus einem häufig unvollkommenen und unvollständigen Religionsunterricht.. Wir alle wissen, wie weit der Religionsunterricht heute abgesunken ist und an wie vielen Stellen ein ungenügender Unterricht erteilt wird. Aber ich glaube, der Hauptgrund ist der dritte, warum die Dogmen als weltfern und lebensfremd empfunden werden, nämlich weil sie in unserer Welt nicht vorkommen. In unseren alltäglichen Lebenserscheinungen ist nicht die Rede vom dreifaltigen Gott, wird nicht gesprochen von der Eucharistie, denkt niemand an die Jungfrau und Gottesmutter Maria und erzählt niemand von den Heiligen im Himmel. Und erst recht gilt das von unserer öffentlichen Wirklichkeit, von der Öffentlichkeit in Politik und Wirtschaft, von unseren Weltrekorden und von unserer Weltpolitik. Da spricht niemand vom Erlösungstod Jesu oder von der Wirklichkeit des eucharistischen Opfersakramentes. Dieser Eindruck, es handle sich bei den Dogmen um etwas Weltfernes und Lebensfremdes, ist falsch. Die Dogmen sind von enormer Bedeutung für das Leben des Menschen und für das Gedeihen der Menschheit. Man muß nur das Leben in seiner Ganzheit betrachten, nicht einen herausgelösten Splitter. Man muß das Leben in seiner Tiefe ansehen, nicht in seiner Oberflächlichkeit, etwa nur in den animalischen Bedürfnissen, die wir haben. Die Dogmen haben es mit dem Leben zu tun, denn sie sind eine Wirklichkeit, die uns von Gott zugesprochen wird. Sie sind Wirklichkeiten, sie sind Tatsachen. Die Dogmen sind Wahrheiten, die real existieren.

Es sind freilich Wirklichkeiten, die uns nicht durch unseren Scharfsinn offenbar geworden sind, sondern dadurch, daß Gott selbst sie uns mitgeteilt hat. Dogmen sind Mitteilungen des liebenden Gottes. Sie reichen weit über unsere irdischen Erkenntnisse hinaus, weil sie aus der Welt Gottes kommen. Es muß also Gott etwas an ihnen liegen, daß er sie uns mitgeteilt hat, und sie müssen für uns von Bedeutung sein, weil Gott sie uns mitgeteilt hat.  Die Dogmen sind Lebenswirklichkeiten, die uns Gott aus seinem eigenen Erleben erzählt hat, damit an ihnen unser Leben reife, gedeihe und in die Ewigkeit hineinwachse. Der Inhalt der Dogmen ist in unseren Katechismen enthalten. Es handelt sich also in der Hauptsache um den dreifaltigen Gott, um die zwei Naturen in Christus, um die Erlösung und den Opfertod Christi, um die Gnade und die Sakramente, um die reinste Jungfrau und Gottesgebärerin, um die Heiligen des Himmels, um die Letzten Dinge Tod, Gericht, Himmel oder Hölle. Das sind die Dogmen, die Gott uns zugesprochen hat. Das sind die Wirklichkeiten, die er uns mitgeteilt hat. Das sind die Erkenntnisse, die er von uns aufgenommen wissen will.

Doch der Anstoß, den die Menschen an den Dogmen nehmen, gilt häufig weniger dem Inhalt als der Form. Die Dogmen werden uns ja in alten, altertümlichen Formeln dargestellt. Diese Formeln stammen aus dem 3., 4. Jahrhundert, und entsprechend haftet ihnen der Geruch des Altertümlichen, ja für manche des Veralteten an. In der Tat sind die Worte, mit denen die Dogmen ausgesprochen werden, etwas Menschliches, etwas Bedingtes, etwas Zeitgeschichtliches. Aber wie sollte denn Gott uns seine Wirklichkeit eröffnen, wenn nicht mit menschlichen Worten? Wie sollte er uns etwas über die Welt Gottes mitteilen, wenn nicht mit Begriffen und Vorstellungen, die unserem menschlichen Verständnis angepaßt sind? Es war gar nicht anders möglich, als daß Gott bei seiner Mitteilung sich menschlicher Worte, Vorstellungen und Begriffe bedient. Diese Worte, Vorstellungen und Begriffe sind gewiß etwas Schwaches. Sie sind nicht die Wirklichkeit selbst, sondern sie weisen nur auf die Wirklichkeit hin. Wenn wir ein Bild zeichnen von einem Haus oder einer Maschine, dann ist das Bild nicht das Haus oder die Maschine, sondern das Bild weist auf das Haus oder die Maschine hin. Ähnlich weisen auch die Begriffe und Worte, mit denen wir die Dogmen ausdrücken, auf die Wirklichkeit Gottes hin, auf eine Wirklichkeit freilich, die weit höher ist als die, die wir mit irdischen Begriffen ansonsten ausdrücken und anreißen.

Begriffe und Worte sind andererseits etwas Starkes. Denken wir an den Begriff „Heimat“. Wer möchte dieses Wort missen? Da wird doch unser Herz warm, da schlägt es doch höher, da ist es doch bewegt oder erschüttert, wenn wir dieses Wort hören: Heimat. Oder wer möchte das Wort „Mutter“ oder „mein Kind“ oder „mein Geliebter“ ersetzen? Diese Worte sind unersetzlich. Sie meinen etwas Starkes und Schönes und Erhabenes, und wenn wir diese Worte fallen ließen, dann würde etwas von der Wirklichkeit unserem Bewußtsein entschwinden, das durch diese Worte ausgedrückt wird.. So ist es auch mit den Worten und Ausdrücken und Begriffen, mit denen die Wirklichkeit Gottes uns nahegebracht werden soll. Sie weisen auf die Wirklichkeit hin, sie deuten die Wirklichkeit, und wir hätten die Wirklichkeit nicht ohne diese Worte und Begriffe. Deswegen hat das kirchliche Lehramt immer – auch unter Verlusten -  nicht nur an der Wirklichkeit festgehalten, die mit diesen Worten ausgedrückt wird, sondern auch an den Worten, an den Begriffen, mit denen sie ausgesagt sind. Man kann nicht anders sprechen als vom dreipersönlichen Gott. Man kann nicht anders sagen, als daß zwei Naturen in Christus sind. Man muß die Jungfrau und Gottesmutter als die Gottesgebärerin bezeichnen, wenn man die Wirklichkeit erfassen will, die an ihr durch Gottes Wirksamkeit geschehen ist.

Die Formen und Formeln sind also unerläßlich, um den Inhalt zu bewahren. Man darf sie nicht preisgeben, wenn unserem Bewußtsein nicht der Inhalt entschwinden soll. Ja, mit den Formen und Formeln würde sogar ein Teil der Kraft dieser Wirklichkeiten uns genommen werden; denn die Wirklichkeit, die mit den Dogmen bezeichnet wird, die hat eine Kraft, die wirkt. Alles auf Erden ist wirksam; selbst die unbelebten Dinge wirken. Wir haben den Begriff der „trägen Masse“, den die Physik früher verwendet hat, aufgegeben zugunsten des Begriffes der „bewegten Energie“. Erst recht sind wirksam die Organismen, ist wirksam der Geist, und in einer ganz unaussprechlichen Weise wirksam ist die Wirklichkeit Gottes, ist die Welt Gottes, die wir in den Dogmen bezeichnen. Sie ist einfach da, und sie wirkt. Ob die Menschen es wahrnehmen oder nicht, ob sie achtlos oder ungläubig daran vorübergehen, das ändert an der Wirklichkeit Gottes nichts. Diese Wirklichkeit ist da und ist wirksam.

Wer die Wirklichkeit Gottes mißachten würde, der würde nicht an der Wirklichkeit etwas ändern, sondern seine eigene Wirklichkeit zerstören. Der Herr hat es selbst von einem der Dogmen gesagt, nämlich von dem Dogma seiner Messianität: „Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, der ist zum Eckstein geworden. Wer an diesen Stein stößt, der wird daran zerschellen, und auf wen dieser Stein fällt, den wird er zermalmen.“ Wenn es schon nicht gleichgültig ist, ob Gott dreifaltig ist, ob auf den Altären der lebendige Leib Christi gegenwärtig wird, wenn das schon nicht gleichgültig ist,  wenn es auch die Menschen nicht wahrhaben wollen, was muß erst dann werden, wenn Menschen diese Wirklichkeiten bewußt in ihr Seelenleben aufnehmen, wenn sie sich die Dogmen zu eigen machen, wenn sie die Dogmen internalisierem! Was muß aus solchen Menschen geschehen?

Ein Mensch, der an den dreifaltigen Gott glaubt, dessen Leben wird anders aussehen als das Leben eines Menschen, für den Gott ein Fragezeichen ist. In dem Leben und in dem Schaffen eines Menschen, der an den menschgewordenen Gott glaubt, wird es anders aussehen als in dem eines Menschen, der von Christus nichts wissen will. Ein Mensch, der in der Morgenstunde in die Kirche eilt, um Gott anzubeten und sich ihm aufzuopfern, dessen Leben wird anders aussehen als das eines Menschen, der jede Kirche in ein Kino verwandeln möchte. Ein Mensch, der Maria verehrt, wird anders zum Frauengeschlecht stehen als ein anderer, der nur mit der Peitsche zur Frau gehen will. Ein Mensch, der an die Ewigkeit glaubt, wird anders leben und sterben als ein Mensch, für den mit dem Tode alles aus ist. Ein Mensch, der betet, wird andere Morgen- und Abendstunden haben und andere Nächte als einer, der auf sein einsames Ich zurückgeworfen ist. „O gönnt mir den letzten Trunk aus diesen Schalen, bevor ich hinab muß in die grauen Gründe. O gönnt ihn mir als letzte meiner Qualen!“ So haben Leute geschrieben, die nicht an die Ewigkeit glaubten und die mit dem Tode ins Nichts zu versinken wähnten. „Gönnt mir den letzten Trunk aus diesen Schalen! O gönnt ihn mir, ehe ich hinab muß in die grauen Gründe! O gönnt ihn mir als letzte meiner Qualen!“

Wer an die Dogmen glaubt, der ist ein anderer Mensch, der hat einen Inhalt, der sein Leben ausfüllt. Wer an die Dogmen glaubt, der hat eine Majestät, vor der er anbetend knien kann. Wer an die Dogmen glaubt, der hat eine Zutraulichkeit, die ihn erquickt. Wer an die Dogmen glaubt, der wird ein Leben führen, in dem das Ich an zweiter oder dritter oder letzter Stelle kommt. Gewiß werden durch die Dogmen nicht alle Rätsel gelöst. Die Dogmen können sogar neue Rätsel aufgeben. Aber es sind nicht die Rätsel, an denen man sich krank grübelt, sondern es sind die Rätsel, an denen man sich gesund weint. Es sind die Rätsel einer sternenhellen Nacht, die schon dem Morgen entgegengeht. Gewiß werden nicht alle Menschen, die an die Dogmen glauben, fehlerfrei sein. Sie werden ihre Unzulänglichkeit mitschleppen und vielleicht auch ihre Sünden. Aber das ist es ja eben, daß bei ihnen alles von ungeheurer Bedeutung ist und einen letzten Ernst besitzt. Das wäre das Unerträglichste vom Unerträglichen, wenn alles gleichgültig und nichtssagend und irrelevant wäre. Unsere Kinder und unsere Frauen, unsere Männer und unsere Helden, unsere Völker und unsere Geschichte – wenn das alles nichts wäre! Nein, die Dogmen belehren uns, daß alles ernstgenommen werden muß, weil alles von Gott kommt und alles zu Gott geht. Sie lehren uns, die Wirklichkeit und unsere Aufgaben und unseren Tod ernstzunehmen, weil Gott in all diesen Wirklichkeiten anwesend ist durch seine Macht und durch seine Güte.

Wenn wir also, meine lieben Freunde, von den Dogmen hören, die Gott uns zugesprochen hat, die Gott von uns angenommen und aufgenommen wissen will, die unser Leben leiten und lenken sollen, dann wollen wir nicht verständnislos oder achtlos daran vorübergehen, sondern wir wollen wissen, daß wir damit die Wirklichkeit Gottes anrühren, daß diese Wirklichkeit Gottes uns trägt und hält, daß diese Wirklichkeit Gottes unser Glück und unser Friede ist.

Amen.

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