1. November 2013
Gnade und freier Wille
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte, zur Feier des Festes Allerheiligen Versammelte!
Am heutigen Tage wird uns ein Gesetz im Reiche Christi vor Augen geführt, das unbedingte Geltung hat, nämlich, dass die Gnade Gottes und der Wille des Menschen zusammenkommen müssen. Die Heiligen, die wir heute mit leuchtenden Augen anschauen, sind die auserwählten Träger der wirkenden Gnade; aber auch die getreuen Arbeiter Gottes. Sie haben mit den Talenten, die ihnen Gott gegeben hat, gearbeitet und als Lohn das ewige Leben empfangen. Das Zusammenwirken der Gnade Gottes und des menschlichen Willens ist von uns nicht völlig durchschaubar. Aber immerhin lassen sich bestimmte Äußerungen machen, die das gläubige Nachdenken aus der Heiligen Schrift geschöpft hat.
Wir unterscheiden beim Zusammenwirken von Gott und der Gnade mit dem Menschen zwei Phasen: vor der Rechtfertigung und nach der Rechtfertigung. Wir wissen, dass der Mensch sich nicht selbst erlösen kann. Verkaufen konnte er sich, aber freikaufen kann er sich nicht. Der Mensch muss erlöst werden, und diese erste Erlösung, dieser Beginn der Erlösung, dieser Anfang der Erlösung, heißt „Rechtfertigung“. Die Rechtfertigung ist die Versetzung aus dem unerlösten Zustand in den erlösten. Die Versetzung in den Zustand der Gnade und der Annahme zu Kindern Gottes: Das nennen wir „Rechtfertigung“. Die Wirkursache der Rechtfertigung – also derjenige, der sie hervorruft – ist der barmherzige Gott. Er kann und muss dem Menschen mit seiner Gnade zuvorkommen, wenn der Mensch gerettet werden soll.
Aber der Mensch ist an dem Vorgang beteiligt. Er kann und muss sich, unter dem Einfluss der Gnade, auf die Rechtfertigung vorbereiten. Wir haben an den vergangenen Sonntagen vom Glauben gesprochen. Das ist die grundlegende Vorbereitung für die Rechtfertigung: der Glaube. Dazu müssen noch andere Haltungen kommen: nämlich die Furcht vor der göttlichen Gerechtigkeit – die wir beleidigt haben –, die Hoffnung auf Gottes Barmherzigkeit, der Anfang der Gottesliebe und die Reue über die begangenen Sünden. Das ist das Zusammenwirken Gottes und des Menschen vor der Rechtfertigung und bei der Rechtfertigung.
Nun ist das Zusammenwirken von Gott und Mensch nach der Rechtfertigung zu bedenken. Die Heiligen haben sich darin ausgezeichnet, nämlich sie waren Gebieter ihres Willens. Sie haben das Gesetz Gottes in ihren Willen aufgenommen, und dadurch sind sie heilig geworden. So verschieden sie waren: ob Kinder oder Erwachsene, ob Männer oder Frauen, ob Gelehrte oder Reiche: Sie alle waren Gebieter ihres Willens, sonst wären sie keine Heiligen geworden. Sie sind die Helden der Nachfolge Christi gewesen und geworden. Sie haben mit ihrem Christentum Ernst gemacht. Sie haben ihre Willenskraft eingesetzt, um das Reich Gottes an sich zu reißen. Sie wussten, um das ewige Leben wird nicht gewürfelt oder gelost. Um das ewige Leben wird gerungen, in Arbeit und Entsagung. Sie haben Fertigkeiten im Glauben erworben – Tugenden, wie wir sie nennen. Tugend wird durch Härte groß, durch Weichlichkeit wird sie vernichtet. Das Buch von der „Nachfolge Christi“ schreibt zu Recht: „In dem Maße wirst du im Guten voranschreiten, als du dir selbst Gewalt antust.“ In dem Maße wirst du im Guten voranschreiten, als du dir selbst Gewalt antust. „Wenn du dir nicht Gewalt antust, wirst du die Sünde nicht besiegen.“ Der wahre Fortschritt des Menschen besteht in der Selbstverleugnung. Selbstverleugnung heißt: das vermeiden, was man gern tun möchte, und das tun, was man gern unterlassen möchte. Das Größte im Menschen und im Christenleben ist die Erfüllung des Willens Gottes. Darin besteht eigentlich die Religion Christi, dass er in seinem ganzen Leben dem Willen des Vaters unterworfen war. „Nicht wie ich will, sondern wie du willst.“ Das hat er nicht nur am Ölberg gesprochen, sondern in seinem ganzen Leben. Die Heiligen sind ihm darin nachgefolgt. Mit dem höchsten Aufgebot ihres eigenen Willens, mit dem stärksten Einsatz des Wollens. Sie waren die zuverlässigsten Erfüller des Willens Gottes. Sie waren die stärksten Willensmenschen, welche die Erde kennt. In ihrer Nachfolge sind wir aufgerufen, den Willen Gottes in unserem Tun und Lassen zu suchen und zu erfüllen. Das gelingt nur, wenn wir ehrlich gegen uns sind. Wenn wir uns eingestehen, dass wir eigentlich immer zum Bequemen, zum Lässigen, zum Leichten neigen. Und wenn wir uns dann überwinden, zum Anstrengenden, Guten zwingen – das Gute ist meistens anstrengender als das Gegenteil. Der Dichter Goethe sagt es auf seine Weise: „Wer mit dem Leben spielt, kommt nie zurecht. Wer sich nicht selbst befiehlt, bleibt immer Knecht.“ Der seelenkundige Lehrer des geistlichen Lebens, der uns die „Nachfolge Christi“ hinterlassen hat, sagt: „Nur der fällt nicht beim Unerlaubten, der sich nicht hie und da auch beim Erlaubten Abbruch tut. Wer sich bei nichts, was erlaubt ist, einschränkt, ist dem Unerlaubten nicht fern.“ Da haben wir das Geheimnis des Heiligen, da haben wir das Geheimnis ihrer Heiligkeit: der Wille Gottes. Sie kennen wahrscheinlich alle das schöne Gebet:
„Herr, wie Du willst, soll mir geschehn,
und wie Du willst, so will ich gehn,
hilf Deinen Willen nur verstehn!
Herr, wann Du willst, dann ist es Zeit,
und wann Du willst, bin ich bereit,
heut und in alle Ewigkeit.
Herr, was Du willst, das nehm ich hin,
und was Du willst, ist mir Gewinn:
genug, dass ich Dein Eigen bin.
Herr, weil Du willst, so ist es gut,
und weil Du willst, so hab‘ ich Mut,
mein Herz in Deinen Händen ruht.“
Die Heiligen waren Gebieter ihres Willens. Aber sie waren auch Werkzeuge der Gnade. Alles Heldentum ihres tapferen Willens, all’ aufgebrachte Kraft ihrer Energie, alles das ist nicht allein zu preisen, sondern auch Gottes Gnade. In der Bibel wird dieses Zusammenwirken von menschlichem Willen und göttlicher Gnade immer wieder hervorgehoben, vor allem vom Apostel Paulus: „Ich vermag alles“ – aber jetzt kommt der Nachsatz – „in dem, der mich stärkt.“ An die Gemeinde von Philippi schreibt er: „Gott ist es, der nach seinem Wohlgefallen in euch das Wollen und das Vollbringen wirkt.“ An die Gemeinde in Korinth schreibt er: „Durch die Gnade Gottes bin ich, was ich bin. Und seine Gnade für mich ist nicht vergeblich gewesen, sondern ich habe mehr gearbeitet als sie alle; doch nicht ich, sondern die Gnade Gottes in mir.“ Wir sehen das Gesetz, meinen lieben Freunde, das im Reiche Christi wirksam ist. „Nichts Gutes wirkt der Mensch, ohne dass Gott die Kraft verleiht, damit der Mensch es wirken könne“, so sagt der heilige Augustinus. Nichts Gutes wirkt der Mensch, ohne dass Gott die Kraft verleiht, dass er es wirken könne.
Sie wissen alle, was Gnade ist: Der katholische Katechismus sagt es uns ja: „Gnade ist jede innere Gabe, die Gott uns zu unserem Heile verleiht.“ Wir unterscheiden die helfende und die heiligmachende Gnade. Die helfende Gnade erleuchtet unsern Verstand und stärkt unseren Willen. Die heiligmachende Gnade macht uns zu Kindern Gottes und zu Erben des Himmels, ist also das übernatürliche Leben der Seelen. Das ist die heiligmachende Gnade. Beim Tun des Guten wirken der menschliche Wille und die Gnade zusammen, damit die Handlung zustande kommt. Die Gnade schaltet den Willen nicht aus, ersetzt ihn nicht, sondern sie bewirkt, dass der Wille handelt, frei handelt. Wir handeln in der Gnade „frei“. Wir tun das Gute frei in der Gnade. Genau das ist es. Gottes Sache ist es, die Gnade zu verleihen, unsere Sache ist es, die Gnade aufzunehmen und zu bewahren. Also noch einmal: Der menschliche Wille bleibt, unter dem Einfluss der wirksamen Gnade, frei. Die Gnade ist nicht unwiderstehlich – das war der Irrtum der Jansenisten. Nein, die Gnade hebt die Freiheit des Willens nicht auf. Der Mensch kann sich dem Gnadenimpuls Gottes versagen. Es gibt eine Gnade, die wahrhaft hinreichend und doch unwirksam ist. Gott verleiht das Vermögen zum Heilsakt, aber die Verleihung bleibt, wegen des Widerstandes des Menschen, unwirksam. Da heißt es Gewissenserforschung halten, am Tag „Allerheiligen“, meine lieben Freunde. Was haben wir unter dem Einfluss der Gnade getan? Haben wir die Gnade angenommen oder zurückgestoßen? Wie oft haben wir der Gnade widerstanden? Wie viele Gnadenangebote haben wir zurückgewiesen? Alle Heiligen preisen die Gnade ihres Gottes. Alle erkennen demütig, dass sie alles empfangen haben. „Hast du es aber empfangen, was rühmst du dich, als hättest du es nicht empfangen?“, sagt der heilige Paulus. In ihnen ist die Gnade Gottes wirksam geworden. Ihr Festtag ist ein Hohelied auf das Walten der Gnade, aber freilich auch auf ihre Treue im Mitwirken. Für uns gilt angesichts der Tatsachen, die wir eben uns vor Augen geführt haben, das Wort des heiligen Augustinus. Als er die Heiligen betrachtete, da sagte er: „Diese haben es gekonnt, und jene. Und wenn es diese gekonnt haben, warum nicht auch ich?“
Amen.