Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
1. November 2006

Das irdische Leben der Heiligen

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte, zur Feier des Festes Allerheiligen Versammelte!

In Rom gibt es eine Kirche Santa Maria Rotonda, das frühere Pantheon. Dieser größte Tempelbau der heidnischen Zeit wurde in eine Kirche umgestaltet und zur Begräbnisstätte von zahllosen Überresten heiliger Martyrer und Bekenner. Sie hat man dahin aus den Katakomben übertragen. Die Kirche des Pantheon oder Santa Maria Rotonda wollte dann Michelangelo mit titanischer Kraft in den Himmel hinaufheben, und so hat er die Kuppel des Petersdomes geschaffen. Beide Kuppeln haben auf Erden nicht ihresgleichen. Sie sind Werke von Genies und doch von ergreifender Unzulänglichkeit; denn Santa Maria Rotonda ist nicht eine Stätte, in der die Heiligen selbst wohnen, sondern sie ist eine Totenkammer, eine Kammer, in der nur die zurückgebliebenen Reste der Heiligen aufbewahrt werden. Und die Peterskuppel ist vom Himmel weit entfernt. Sie ist nur ein schwaches Gleichnis der himmlischen Herrlichkeit. Und doch liegt etwas Bedeutsames im Dasein und im Sinn dieser beiden Riesendome. Santa Maria Rotonda erinnert an die Heiligen, wie sie auf Erden gewandelt sind, in einer menschlichen Welt, in einem menschlichen Leibe. Die Peterskuppel will uns dagegen an die Scharen der Heiligen, der Auserwählten erinnern, die im Himmel leben, die in der Herrlichkeit Gottes stehen. Damit sind zwei ganz verschiedene Betrachtungsweisen der Heiligen angesprochen, nämlich die Heiligen, wie sie auf Erden gelebt haben, und die Heiligen, wie sie als Bewohner in der Ewigkeit leben. Das ist eine ganz verschiedene Haltung, wie wir die Heiligen denken, wenn wir sie uns im irdischen Leben vorstellen und wenn wir sie in der Ewigkeit wissen. Heute wollen wir von den Heiligen sprechen, wie sie auf Erden gelebt haben, und am kommenden Sonntag von den Heiligen, wie sie im Himmel leben.

Die Heiligen auf Erden, das sind alle die Menschen, die von Gott erfüllt waren, nicht nur heiliggesprochene; all die gottverbundenen und gottliebenden Menschen, die es je gab: die Menschen der großen religiösen Kraft, die Menschen der heldenmäßigen sittlichen Vollendung, die Menschen Gottes und die Menschen der Güte. Es sind ihrer viele; es sind ihrer unzählige aus allen Völkern und Stämmen und Nationen, aus allen Jahrhunderten und auch aus unserer Zeit. So befällt uns immer wieder ein frohes und zugleich wehmütiges Staunen und eine Art Heimweh, wenn wir an diese Menschen denken. Was ist denn an ihnen so merkwürdig, so außerordentlich? Was ist bei ihnen so ganz anders als bei der großen dunklen Masse der Menschheit, wie wir sie nur allzu gut kennen? Diese heiligen Menschen sind die einzigen Menschen, die wahrhaft unvergesslich sind. Sie stehen zwar nicht in unseren Geschichtsbüchern, unvergesslich sind sie für unser Herz. Sie sind die Menschen, an die man mit Liebe denkt und mit Freude und mit Sehnsucht. Es sind die Menschen, denen kein Fluch in die Ewigkeit nachgerufen wird. Acht Jahrhunderte sind es her, seitdem der heilige Franz von Assisi über die Erde wandelte. Aber die Herzen der Menschen schlagen in unverminderter Liebe und Dankbarkeit ihm entgegen. Über anderthalb Jahrtausende sind es her, seitdem Augustinus sein Werk auf Erden vollbrachte. Als er starb, da haben die Vandalen an die Tore von Karthago geklopft und das Land verwüstet. Die Vandalen und das Vandalische sind in der Welt geblieben und siegreich gewesen, und trotzdem ist der Name des heiligen Augustinus, ist die Geistesgröße und die Herzenswärme dieses Heiligen uns unvergesslich geblieben. Und was soll ich sagen vom heiligen Apostel Paulus? Zweitausend Jahre fast sind vergangen, seitdem er an der Straße nach Ostia hingerichtet wurde. Aber heute noch kniet eine ganze pilgernde Welt an seinem Grabe und betet dort so ergriffen und dankbar, wie man nur im Namen des Geistes und der Freiheit beten kann.

Warum sind die Heiligen unserem Herzen so nahe geblieben? Weil sie die einzigen wirklichen und großen Wohltäter der Menschheit waren. Von ihnen ist keine neue Mordwaffe erfunden worden, kein Krieg ausgegangen, kein Streit und kein Haß. Im Gegenteil, sie haben die Zwietracht zu heilen gesucht. Sie haben die harten Herzen weich gemacht. Sie haben die mutlosen Herzen höher schlagen lassen. Sie haben die Armen froh gemacht und die Herren der Erde demütig. Sie haben sanft zu den Unterdrückten geredet, aber stolz zu den Mächtigen. Sie haben die Wölfe gezähmt und die Lämmer behütet. Sie haben, wie es im Buche Job heißt, ein Auge für den Blinden gehabt und einen Fuß für die Lahmen. Sie waren Vater der Armen. Sie waren die Menschen, die wirklich die Erde wohnlicher und das Leben heller gemacht haben; nicht, indem sie bessere Erfindungen, Beleuchtungskörper oder ein gesunderes Wohnwesen geschaffen hätten. Nein, sie haben bessere Beziehungen geschaffen, bessere Beziehungen, gute, friedvolle, einträchtige Beziehungen unter den Menschen. Sie haben dazu geholfen, dass sich die Menschen besser verstehen und miteinander vertragen. Und davon hängt doch schließlich alles wirkliche Glück auf dieser Erde ab.

Darum ist nicht nur ihre Person, sondern auch ihr Werk unvergesslich und dauerhaft geworden. Was die Heiligen geschaffen haben, das möchte niemand wieder zerstören, der es gut meint mit den Menschen. Die Reichsgründungen der Jahrtausende sind immer wieder zerfallen, aber die Barmherzigen Schwestern, die Vinzenz von Paul gegründet hat, die möchte doch niemand missen. Die Werke des großen Erziehers Don Bosco möchte niemand zerstört sehen, der die Jugend liebt. Und was der heilige Franz, das Sonnenkind, gesungen hat, was Fra Angelico gemalt hat, was der heilige Augustinus geschrieben hat, das möchte doch niemand zerstört sehen, sondern das können wir nur lieben und verehren.

So sind diese Heiligen auch unsere Tröster geworden, die uns immer wieder den Glauben an die Menschen und an die Menschheit, den Glauben an uns selbst wiedergegeben haben, weil sie den Glauben an unsere Ideale, an das Gute, an das Licht wieder aufrichten; denn sie sind Menschen gewesen, in denen der Geist und die Güte siegreich und mächtig waren. Sonst sehen wir immer die Übermacht der Finsternis und der Gewalt, die Übermacht der Sünde oder des Zufalls. Die Menschen, die einst zu den Großen gerechnet wurden, die großen Könige, die großen Feldherrn, die großen Staatsmänner, sie verdanken doch ihre Werke zum großen Teil der Gunst der Zeit und der Verhältnisse oder der Rücksichtslosigkeit und Skrupellosigkeit ihres Wollens. Aber kein Heiliger hat durch solche Mittel gewirkt. In ihnen ist endlich auch einmal die Gewissenhaftigkeit, die Treue, die Sanftmut, die Liebe zum Siege gekommen. In ihnen hat nicht eine Institution, nicht eine Gewohnheit, nicht eine Leidenschaft oder ein Trieb gesiegt, sondern die Persönlichkeit und die Freiheit. Endlich sehen wir einmal Bahnbrecher, die nicht mit Gewalt eine Mauer einrennen, sondern still wie ein lebendiger Keim, lautlos wie das Licht ihren Weg nehmen. Das sind endlich auch einmal Führer, die nicht durch ihre Kommandostimme, sondern durch ihr Schweigen und Leiden zu Führern werden.

Können uns denn die Heiligen Führer sein? Haben sie nicht in einer ganz anderen Zeit gelebt? Sind sie nicht auch in einem bestimmten Sinne ihrer Zeitlage verhaftet gewesen? Ist nicht alles, was sie taten und dachten, relativ, eben auf eine bestimmte Epoche bezogen? Tatsächlich, vieles an ihnen war nur einmal möglich, nur einmal praktisch, nur einmal zulässig. Es wäre sinnlos, sie in allen Einzelheiten nachahmen zu wollen. Aber etwas an ihnen war absolut, ewig und unvergänglich, nämlich Gott. Gott in ihnen. Dass Gott in ihrer Mitte stand, in der Mitte ihres religiösen und sittlichen Lebens, das ist das Absolute, das wir von den Heiligen lernen können. Denn Gott ist an keine Zeit gebunden; er steht über jeder Zeit. Er ist der Ewige. Dass man Gott dienen kann auch in dieser Welt, und dass man dieser Welt dienen kann auch im Gottsuchen, das ist das Wundervolle, das allgemein Gültige und Bleibende am Beispiel der Heiligen. Es ist also doch nicht wahr, wie man uns immer wieder weismachen will, dass in unserer Welt, in unseren Großstädten und auf unseren Straßen, in unserem Berufsleben, in unserer Arbeit Gott nicht zu finden ist. Es ist nicht wahr, dass man ihn zurückstellen und vergessen muss, wenn man etwas Großes in dieser Welt leisten will. Es ist nicht wahr, dass es unpraktisch ist und eine Illusion, Gott zu verehren, dass die lebensstarken und wirklichkeitsgetreuen Menschen von Gott lassen müssten.

Ich habe soeben, meine lieben Freunde, ein Buch gelesen von einem Christen aus der früheren DDR. Er war katholisch gewesen, hat aber den Glauben verloren, ist aufgestiegen in der Partei der SED, ist bis ins Zentralkomitee vorgedrungen, hat den Doktor in Philosophie, in marxistischer Philosophie, gemacht. Aber er ist leer geblieben. Er hat die Hohlheit des ganzen Gebäudes durchschaut. Er hat die Ungleichheit im angeblich marxistischen Reich der Gleichheit erkannt. Und so ging er immer wieder in eine Kirche, heimlich, ungesehen, unbeobachtet, denn wenn er bemerkt worden wäre, dann hätte man ihn zur Rechenschaft gezogen. Und er fand zurück zum Glauben und hat alles abgeworfen, was ihm an äußeren, irdischen Werten, an Gehalt und Stellung gegeben worden war, und hat den Weg zurück gefunden zur heiligen Religion. An diesem Beispiel ist zu sehen, dass man Gott auch auf dieser Erde, unter den ungünstigsten Umständen finden und ihm dienen kann. Und das ist das Beispiel der Heiligen. Sie haben die Erde gesehen und doch den Himmel nicht aus den Augen verloren. Sie haben die Welt geliebt und doch Gott gedient. Sie haben in ihrer Zeit gelebt und doch die Ewigkeit gewonnen. Sie haben Menschen umarmt, ohne Gott zu beleidigen. Sie haben sich zu Gott geflüchtet und doch die Menschen nicht vernachlässigt. Dafür sind die Heiligen ein Beispiel, das uns tröstet und zugleich aufruft. Konnten sie es, warum wir nicht? Warum sind wir nicht ebenso mutig und ebenso tapfer und ebenso folgerichtig? Warum lassen wir unser Leben als eine Halbheit, als einen unfertigen Bau, als eine Ruine liegen?

Doch ich weiß schon, Beispiele helfen nicht viel unter uns Menschen. Wir folgen ja doch nicht den Größten und Besten unter uns nach. Die Menschen müssen eben nicht nur eingeladen, sie müssen geführt werden. Sie müssen nicht bloß gelockt, sondern hingerissen werden von Menschen, die sie an der Hand nehmen, von ganz nahen und verbundenen Menschen, die stark und lebendig genug sind, auch das Leben anderer noch zu gestalten. Wir brauchen Menschen, die uns mitnehmen, mitnehmen zu Gott. Und es gibt unter uns solche Menschen. Es gibt solche, die starke und treue und reine und vorbildliche Führer sind. Ihnen wollen wir uns anvertrauen, damit wir auch in die Gemeinschaft der Heiligen im Himmel kommen, über die wir uns am nächsten Sonntag klar werden wollen.

Amen.

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