Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
23. Dezember 2007

Unruhig ist unser Herz

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Der Advent ist eine Zeit der Gottessehnsucht. Dringender und inniger als sonst steigt das Gebet der Kirche zum Himmel empor: Tauet, Himmel, den Gerechten, Wolken, regnet ihn herab! So sehnsüchtig mögen in alten Zeiten die Patriarchen nach dem Messias ausgeschaut haben; so stürmisch mögen die Propheten den Messias erwartet haben. Und wie steht es mit uns? Wie stehen wir zu unserem Heiland? Wir wissen, er lebt unter uns, aber fliegen ihm auch unsere Seele und unsere Herzen zu? Wir können es täglich in unserem Leben verfolgen, wenn wir beobachten und hören, wovon die Menschen sprechen. Wovon erzählen sie? Nun, vom Geschäft, vom Wetter, vom Einkaufen, vom Verkaufen, vom Essen und Trinken, vom Reisen, von Verwandten und Freunden – stundenlang, so dass man unwillkürlich fragt: Ist denn das alles? Ist denn nichts Tieferes in den Menschen? Schauen sie nicht weiter? Denken sie an nichts anderes als an das, worüber sie reden? Jetzt ist Weihnachtszeit, man geht durch die Straßen, man sieht die Lichter, Lichterketten. Immer neue Lichteffekte werden erdacht. Die Menschen stehen und schauen. Man kann die Zeit nicht zurückschrauben, wir können es nicht ändern, aber dass Menschen, viele Menschen so ganz darin aufgehen, dass sie über all dem äußeren Tand nicht ein Viertelstündchen für sich selber Zeit finden, das ist zu beklagen. Reklame kann doch nicht der Sinn des Lebens sein.

Vor einiger Zeit verunglückte auf der Straße ein Mann. Es sprangen zwei andere Männer hinzu und versorgten ihn, riefen einen Krankenwagen, damit er ins Krankenhaus geschafft würde. Der eine war ein Theologiestudent, der andere ein Maurer, Sozialist. Die beiden kamen ins Gespräch. „Sie sind Theologe?“ „Ja.“ „Sie glauben also an Gott?“ „Ja, gewiß.“ „Ja“, antwortete der Maurer, „wissen Sie, ich habe mir auch schon oft gedacht: Wenn ich einmal viel Zeit habe, dann muss ich es mir gründlich überlegen, wie es ist mit Gott.“ Wenn ich einmal viel Zeit habe! Das ist wohl ein Bild der Seelenverfassung vieler Menschen in unserer Zeit. Die Menschen haben für alles Zeit, zum Essen, zur Arbeit, zur Erholung, zum Fernsehen, aber wenn es um Gott geht, haben sie keine Zeit. Wenn ich einmal viel Zeit habe…!

Man sagt, wir lebten in einer Zeit des krassen Atheismus, es gebe heute unzählige Atheisten. Ich bezweifle das. Ich bezweifle, dass die Hauptsünde der heutigen Menschen der Unglaube ist. Ich fürchte, die Hauptsünde ist, dass sie für Gott keine Zeit haben. Und weil sie für Gott keine Zeit haben, finden sie ihn nicht. Wenn die Menschen täglich für Gott nur so viel Zeit verwenden würden, wie sie brauchen, um die Zeitung zu lesen, dann wäre es mit der Macht des Atheismus vorbei. Beobachten Sie einmal, meine Freunde, die Leute bei den Einkäufen, mit welchem Ernst sie da bei der Sache sind, wenn es darum geht, einen neuen Hut zu kaufen oder ein Paar neue Handschuhe. Wenn man die Zeit, die man für das Aussuchen der Handschuhe braucht, für Gott opfern würde, dann wären Tausende von Seelen gerettet.

Keine Zeit haben für Gott! Das gilt auch für manchen katholischen Christen. Wenn Sie einmal das Gebetbuch in die Hand nehmen und durchblättern, da finden Sie so viele Anregungen für Gebet und Frömmigkeit im täglichen Leben, aber wer nimmt denn das Gebetbuch in die Hand außerhalb des Gottesdienstes? Wer blättert denn einmal das Gebetbuch durch? Und wer macht sich die Mühe, das, was da geschrieben steht, sich zu Herzen zu nehmen, auszuprobieren, in seinem Leben anzuwenden? Wer nimmt sich die Zeit für diese schönen Dinge?

Aber die Seele lässt sich nicht vergewaltigen. Sie kommt von Gott. Im Schoße Gottes wurde sie erdacht. Vor Jahrmillionen hat Gott ein jedes Menschenleben vorherbedacht, hat er an die Seelen gedacht, die er schaffen wollte, hat er ihren Namen genannt, hat er ihren Lebensweg liebend vorbereitet. Nach Gottes Ebenbild ist die Seele geschaffen, und zu Gott strebt sie zurück. Ich bin überzeugt, dass die Seele eines jeden Menschen in bestimmten Augenblicken aufstöhnt nach Gott, nicht in den Zeiten der Beschäftigung und des Erfolges, aber in den Zeiten der Stille und der Einsamkeit. Da zeigt es sich, dass das wahr ist, was Augustinus geschrieben hat: „Unruhig ist unser Herz, bis es ruht in dir.“

Weil es so ist, deswegen ist der Mensch auch nie mit der Gegenwart zufrieden. Der Greis denkt zurück an die Vergangenheit, an die gute alte Zeit, wie man sagt. Er träumt in seinen Erinnerungen. Der junge Mensch schaut in die Zukunft. Er denkt an seine künftigen Erfolge. Und doch ist ein ewiges Suchen in der Seele. Es ist merkwürdig, dass in unserer Zeit so viele Menschen sich einer orientalischen Religion anschließen, dem Islam oder dem Hinduismus oder dem Buddhismus, und gerade gebildete. Weil das Christentum in ihrer Seele keine Wurzel gefasst hat, deswegen suchen sie einen Ersatz. Die äußeren Güter können eben den Menschen nicht zufrieden stellen.

Es gab einmal einen Philosophen, er war ein Meister des Wortes. Seine Sätze sind wie scharfgeschliffene Messerklingen. Gott und Christus hatte er die Feindschaft angesagt. Und doch gab es auch in diesem Philosophen Stunden, in denen das Ebenbild Gottes aufjammerte. In solcher Stimmung hat er ergreifende Verse geschrieben. Er vergleicht sein Leben mit einer trostlosen Wanderschaft in der Winterkälte: „Die Krähen schrei’n und ziehen schwirren Flugs zur Stadt. Bald wird es schnei’n. Wohl dem, der jetzt noch eine Heimat hat. Nun stehst du starr, schaust rückwärts, ach, wie lange schon. Was bist du Narr vor Winters in die Welt entfloh’n? Die Welt, ein Tor zu tausend Wüsten stumm und kalt. Wer das verlor, was du verlorst, macht nirgends halt. Nun stehst du bleich, zur Winterwanderschaft verflucht, dem Rauche gleich, der stets nach kälter’n Himmeln sucht. Flieg, Vogel, schnarr dein Lied im Wüstenvogelton. Versteck, du Narr, dein blutend Herz in Eis und Hohn. Die Krähen schrei’n und ziehen schwirren Flugs zur Stadt. Bald wird es schnei’n. Weh dem, der keine Heimat hat!“ Das war Friedrich Nietzsche, der Heimatlose, der seinen Gott verloren hatte. Eines Tages in Turin auf der Straße lehnte er sein Haupt an den Kopf eines Pferdes und weinte bitterlich. Weh dem, der keine Heimat hat!

Wir können dieselben Wahrheiten aus dem Alten Testament entnehmen. Der Prediger der Qohelet, der sagt im Alten Testament: „Alle Dinge machen müde. Das Ohr wird nicht satt vom Hören, und das Auge wird nicht satt vom Sehen. Ich will hingehen und mich überhäufen mit Vergnügungen und genießen, was gut ist.“ Und dann lässt er doch die Arme schlaff sinken: „Auch das ist Eitelkeit und Geistesplage.“ Darum glaube ich, meine Freunde, es gibt nicht viele Atheisten. Man darf sie nicht fragen, wenn sie im Glanze ihrer Erfolge, auf der Höhe ihres Lebens, unter dem Glanze elektrischer Birnen stehen. Nein, man muss sie fragen in schlaflosen Nächten, wenn der Arzt ein ernstes Gesicht macht und wenn sich Gräber neben ihnen öffnen und schließen. Dann muss man sie fragen, ob sie keine höhere Gewalt anerkennen.

Ich weiß nicht, ob unter uns jemand ist, der in der vergangenen Woche auch nicht ein einziges Vaterunser über die Lippen gebracht hat. Es könnte ja sein, dass er auch sagt: Ich hatte keine Zeit. Und doch hat jeder, ein jeder eine tiefe Liebe zu Gott, eine tiefere Liebe, als er es selbst glaubt. Die Menschen tragen eine größere Sehnsucht nach Gott, als sie selber wissen. Und in zwei Fragen kommt diese Sehnsucht zum Bewusstsein. Ich frage zunächst: Wer von Ihnen möchte schlecht sein, so schlecht, dass die Leute von ihm sagen: Er ist von Grund auf boshaft und falsch? Das will niemand. Sogar der Verbrecher will unter seinesgleichen als ein anständiger Kerl gelten. Schlecht sein, nein, das will niemand. Gut sein wollen alle, diese Sehnsucht kennen wir alle, wenn wir wie ein Schluchzen aus unserem Herzen es vernehmen: Wenn ich doch besser wäre, als ich bin. Wenn ich doch ganz gut wäre! So ruft die Seele nach ihrem Schöpfer. Jawohl, das ist es: So ruft sie nach ihrem Schöpfer, den Gott der Reinheit und Güte. Das ist ihr Ruf: Ich möchte gut sein. Wir wollen deswegen nicht schlecht sein, weil wir das Ebenbild Gottes in uns tragen.

Und eine zweite Frage: Wer von uns möchte ungeliebt sein? Nicht dann, wenn das äußere Leben uns berauscht, aber dann, wenn man ganz mit sich allein ist. Ich möchte niemanden haben, der mich liebt – ich kann mir nicht denken, dass jemand diese Worte über seine Lippen bringen könnte. Die Seele verlangt zurück nach dem Urgrund der Liebe. Sie verlangt nach dem, von dem Johannes sagt: „Gott ist Liebe.“ Die Menschen suchen die Liebe auf guten und auf schlechten Wegen. Sie wissen nicht, dass dieses Suchen auf Erden nie befriedigt werden kann, weder durch Gattenliebe noch durch Kindesliebe. Sie wissen nicht, dass sie im Grunde nur einen suchen, den ewigen Gott, den erfüllenden Geist des Schöpfers, von dem Augustinus sagt: „Unruhig ist unser Herz, bis es ruht in dir!“

Haben Sie einmal, meine lieben Freunde, am Lager eines Sterbenden gestanden? Haben Sie beobachtet, wie der Sterbende oft wie im Kampfe, wie im letzten Kampfe krampfhaft nach der Decke greift, als müsste er sich an etwas festhalten, als wollte er noch einmal etwas vom Erdenglück ergreifen und hinübertragen in die Ewigkeit? Jetzt, scheidende Seele, suchen wir zusammen die Scherben, die du Glück nanntest. Ein Stündlein, ein halbes Stündlein vielleicht hast du noch Zeit. Raffe zusammen, was dir übrig bleibt von deinem Leben. Ach Gott, es ist ja alles nichts. Gebt mir das Letzte, gebt mir Gott. Unruhig ist unsere Seele, bis sie ruhet in dir, o Gott.

Einmal wird man auch für uns beten: „O Herr, gibt ihnen die ewige Ruhe!“ Aber jetzt, solange wir noch über die Erde wandeln, wollen wir beten: „Herr, gib uns die Unruhe zu dir. Gib uns das Unbefriedigtsein mit uns. Reiße unsere Herzen auf, dass wir mit wunden Füßen und mit wunden Händen dich suchen, bis wir den Frieden finden in dir!“

Amen.

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