Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  

Predigtreihe: Die Eigenschaften Gottes (Teil 7)

25. Februar 1990

Die Allwissenheit und Erkenntnis Gottes

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

In der Heiligen Schrift, aber auch in den Texten, welche die Kirche bei vielen gottesdienstlichen Handlungen verwendet, ist oft die Rede vom lebendigen Gott. Wir flehen zum lebendigen, wahren Gott. Es soll damit ausgedrückt werden, daß Gott kein toter Götze, sondern ein lebendiges Wesen ist. Von den Götzen sagt die Heilige Schrift, daß sie nur den Anschein von Leben, aber nicht wahres Leben haben – im Unterschied vom lebendigen Gott. Unser Gott ist im Himmel, alles vollbringt er, was ihm gefällt. Doch die Götzen der Heiden sind Silber und Gold, ein Machwerk menschlicher Hände. Sie haben einen Mund und können nicht sprechen, zwei Augen und können nicht sehen, zwei Ohren und können nicht hören, eine Nase und können nicht riechen, Hände und können nicht greifen, Füße und können nicht gehen. Kein Laut kommt aus ihrer Kehle. Anders Jahwe, der lebendige Gott Israels und des Volkes des Neuen Bundes. Er besitzt ein unendliches Sein und deswegen auch ein unendliches Leben. Leben ist Selbstbetätigung und Selbstbewegung. Die höchste Form des Lebens ist Erkennen und Wollen. Und weil Gott ein unendliches, vollkommenes Sein besitzt, sind ihm auch das Erkennen und Wollen in unendlicher Weise zu eigen.

Am heutigen Sonntage wollen wir uns mit dem Erkennen Gottes beschäftigen. Das Erkennen Gottes ist unendlich. Intellectu infinitus – im Erkennen unendlich, sagt das I. Vatikanische Konzil von Gott. Und damit gibt es nur wieder, was in der Heiligen Schrift, in der Offenbarungsurkunde der Kirche festgehalten ist. Gott besitzt ein unendliches Erkennen. Das läßt sich gut verstehen. Schon der menschliche Verstand ist bewundernswürdig. Was der Mensch mit seiner Geisteskraft erkennen kann, das ist erstaunlich. Um wieviel mehr muß der eine Erkenntniskraft von unendlichen Ausmaßen haben, der diesen Verstand geschaffen hat! Zum selben Ergebnis kommt man, wenn man die Ordnung und die Zielstrebigkeit der Welt betrachtet. Der dieses Weltall geschaffen hat, das muß ein Geist von unendlicher Kraft sein.

Das göttliche Erkennen ist vom menschlichen Erkennen weit, weit verschieden. Das menschliche Erkennen ist eine Tätigkeit, die der Mensch eben bei Gelegenheit gebraucht. In Gott aber fallen Sein und Erkennen zusammen. Gott hat nicht ein Erkennen, er hat nicht eine Erkenntnistätigkeit, er ist sein Erkennen, er ist seine Erkenntnistätigkeit. Wegen der absoluten Einfachheit Gottes fallen Sein und Erkennen zusammen.

Das göttliche Erkennen ist auch nicht stufenweise fortschreitend wie das menschliche. Wir denken diskursiv, d. h. vom Bekannten zum Unbekannten fortschreitend. Wir denken sukzessiv, in einem Nacheinander. Bei uns geht die Anlage des Erkennens in die Handlung des Erkennens über, wir haben einen habitus des Erkennens. Und bei uns gibt es die Möglichkeit und die Wirklichkeit des Erkennens, die Potenz, die zum Akt übergeht. Anders bei Gott. Er ist der actus purus, das reine Sein, hier gibt es keine Möglichkeit, sondern nur Wirklichkeit. In Gott gibt es kein Nacheinander, sondern nur ein Jetzt. In Gott gibt es auch kein Fortschreiten der Erkenntnis, sondern er besitzt alles, was wissenswert und was möglich ist, in seiner unendlichen Erkenntniskraft schon jetzt.

Gottes Erkennen ist auch komprehensiv, d. h. umfassend. Wir vermögen nur gleichsam einen Zipfel vom Gewande unseres Gottes zu erkennen, indem wir eben aus der Herrlichkeit der Geschöpfe auf die Herrlichkeit des Schöpfers schließen. Gott dagegen erfaßt sich in seiner Tiefe. Er erkennt seine gesamte Erkennbarkeit. Er durchforscht die Tiefen der Gottheit. Gott erkennt sich so, wie er ist. Eben haben wir in der Epistel des heutigen Sonntags gehört, daß unser Erkennen stückweise ist wie im Spiegel, in einem Rätsel. Gott erkennt sich ganz, nicht stückweise, nicht wie in einem Spiegel, sondern in sich selbst, und nicht wie in einem Rätsel, sondern in voller Wirklichkeit.

Der erste Gegenstand des göttlichen Erkennens ist er selbst. Wir möchten Gott erkennen, und wir flehen: Noverim me, noverim te – Laß mich mich erkennen, laß mich dich erkennen, o Gott! Eine solche Bitte braucht Gott nicht zu sprechen. Er erkennt sich, er durchherrscht sich, er durchschaut sich, er begreift sich in einem umfassenden Sinn. Und in sich selbst erkennt er auch alles Außergöttliche. Er erkennt das Mögliche, das Wirkliche und das bedingt Zukünftige. „Gott erkennt alles,“ so erhebt immer wieder die Heilige Schrift ihre Stimme. Er erkennt alles, also auch bloß das Mögliche; denn er kennt seine unendliche Nachahmbarkeit. Er weiß, wie Geschöpfe seine Wirklichkeit in geschöpflicher Weise ausdrücken können, und deswegen erkennt er auch alles bloß Mögliche.

Gott erkennt aber auch alles Wirkliche, das Vergangene, das Gegenwärtige und das Zukünftige. Er erkennt das Vergangene. Das wird uns schon auf den ersten Seiten der Heiligen Schrift berichtet. Adam und Eva hatten gesündigt, hatten das Gebot übertreten und glaubten, wenn sie sich versteckten, dann würde sie Gott nicht finden. Aber bevor sie gestanden hatten, was sie getan hatten, sagte Gott zu ihnen: „Was hast du getan?“ Gott wußte, daß sie vom verbotenen Baum gegessen hatten. Das ist ein Hinweis, daß Gott alles weiß, auch das Vergangene. Gott erkennt auch das Gegenwärtige. Sein Blick umfaßt die gesamte Wirklichkeit des Geschöpfes. Sein Auge ruht auf den Menschenkindern. „Ich kenne alle Sterne,“ so heißt es in einem Psalm, und in einem anderen: „Ich kenne alle Vögel des Himmels.“ Und der Herr, unser Heiland, sagt: „Alle Haare des Hauptes sind bei Gott gezählt“, weil er alles erkennt und alles in seinen Blick nimmt.

Was ist das eine Wirklichkeit, meine lieben Christen, und wie kann uns dieser Blick Gottes aneifern, seinen Geboten zu folgen, seinen Willen zu tun, ihm Freude zu machen und ihm zu dienen alle Tage unseres Lebens! Der nordische Dichter Johannes Jörgensen besuchte einmal den Kölner Dom, und weit oben, wo sich der Blick fast verliert, sah er den Steinmetz an der Arbeit, eine Kreuzblume meißelnd. Da sagte er zu ihm: „Ja, guter Mann, warum geben Sie sich so viel Mühe? Das sieht doch kein Mensch.“ Der Steinmetz antwortete: „Aber Gott sieht es!“ Aber Gott sieht es! So ist es, meine lieben Freunde, Gott sieht alles und Gott weiß alles. Und Gott vergißt nichts.

Gott sieht auch das Zukünftige voraus. Das wird uns von unserem Herrn und Heiland Jesus Christus bezeugt. Im Johannesevangelium heißt es: „Jesus wußte von Anfang an, wer nicht glauben würde und wer ihn verraten würde.“ Er wußte es. Er hat in die Zukunft geschaut, und da hat er den Unglauben und den Abfall gesehen. Gott wußte es und hat es vorausgesehen.

Da erhebt sich allerdings eine schwierige Frage. Gottes Voraussicht der zukünftig geschehenden Dinge ist ein Dogma. Aber auch die Freiheit des Menschen ist ein Dogma. Stimmen diese beiden Dogmen, diese beiden Glaubenssätze, zusammen? Wenn Gott alles weiß, auch was der Mensch in der Zukunft tun wird, wie bleibt er dann frei? Wir können versuchen, uns diese beiden Wahrheiten klarzumachen. Wenn ich in der Ferne sehe, wie sich ein Mensch das Leben nimmt, jemand sich aus dem 4. Stock eines hohen Hauses herunterstürzt, dann bin ich ohnmächtig, ihm zu wehren. Aber was da geschieht, nämlich dieser Selbstmord, geschieht nicht, weil ich es sehe, sondern weil es geschieht, sehe ich es. Ähnlich ist es auch beim Blick Gottes. Gott veranlaßt nicht den Menschen, das künftige Böse zu tun oder auch das Gute zu vollbringen, sondern Gott sieht es bloß voraus. Der heilige Augustinus versucht diese Wahrheit klarzumachen, indem er auf die Vergangenheit verweist. „Was ich in meinem Gedächtnis habe,“ sagt er, „ist nicht deswegen geschehen, weil ich es im Gedächtnis habe, sondern weil es geschehen ist, habe ich es im Gedächtnis.“ Ähnlich ist es auch mit dem Zukünftigen. Das Zukünftige geschieht nicht, weil Gott es sieht, sondern weil es geschehen wird, sieht es Gott.

Der gelehrte Franziskaner Duns Scotus ging einmal an einem Acker vorüber. Da beobachtete er, wie ein Bauer fluchte. Er sagte: „Guter Mann , begeben Sie sich nicht leichtfertig in die Gefahr, in die Hölle zu kommen!“ Da gab ihm der Bauer zur Antwort: „Gott weiß ja alles voraus. Hat er beschlossen, mich zu retten, dann komme ich in den Himmel. Hat er beschlossen, mich zu verdammen, dann komme ich in die Hölle. Da nützt alles nichts.“ Duns Scotus erwiderte ihm: „Nun, wenn es so ist, wie Sie meinen, dann lassen Sie doch einfach Ihren Acker unbebaut. Hat Gott beschlossen, Ihnen Früchte zu geben, dann werden Sie sie bekommen, hat er beschlossen, Ihnen keine Früchte zu geben, dann werden Sie eben keine bekommen.“ Da begriff der Bauer, daß es nicht an Gottes Wissen liegt, sondern an der menschlichen Freiheit, wenn der Mensch verlorengeht.

Gott sieht schließlich auch das bedingt Zukünftige voraus, also die Handlungen, die niemals geschehen werden, die aber geschehen würden, wenn bestimmte Umstände einträten. Als klassische Beweisstelle für diese Voraussicht wird immer ein Text der Heiligen Schrift angeführt, in dem es heißt: „Wehe dir, Chorazin, wehe dir, Bethsaida – das sind Städte in Galiläa –, wären in Tyrus und Sidon – in diesen großen Lasterstädten am Mittelmeer – die Wunder geschehen, die bei euch geschehen sind, sie hätten längst in Sack und Asche Buße getan!“ Hier weist also der Herr auf etwas hin, was niemals eingetreten ist, aber hätte eintreten können, und was dann geschehen wäre. Diese Wahrheit, daß Gott auch das bedingt Zukünftige erkennt, ist von großer Bedeutung für unser Leben. Wir fragen uns oft: „Ja, warum mußte dieser hoffnungsvolle Jüngling, warum mußte dieses begabte Mädchen sterben, in der Blüte der Jahre hinweggerafft?“ Darauf gibt die Heilige Schrift Antwort, nämlich im Buch der Weisheit: „Er wurde hinweggenommen, damit ihm die Bosheit den Sinn nicht verkehre, noch Arglist seine Seele verführe.“ So mancher ist in jungen Jahren gestorben, bevor er sich entfalten konnte, bevor er die Fülle seines Lebens erreichte, weil Gott ihn bewahren wollte, bewahren vor Dingen, die möglicherweise eingetreten wären, wenn er ein längeres Leben gehabt hätte.

So ist es auch mit anderen Schlägen, die uns treffen. Wenn Gott jemanden arm macht, dann kann der Grund darin gelegen sein, daß der Reichtum ihm zur Fessel und zum Fallstrick geworden wäre. Manchmal beklagen wir uns über das schwere Leben, das wir haben. Weiß Gott nicht besser, was uns dient? Wenn wir ein ruhiges und bequemes Leben hätten, würden wir dann nicht über die Stränge schlagen? Weiß Gott nicht, warum uns dieses Leid treffen muß? Gibt er uns nicht die Gelegenheit, uns zu bewähren, indem er Schweres über uns kommen läßt?

So ist es, meine lieben Freunde, Gott kennt die Herzen, er besitzt die Herzenskenntnis. Auch von Jesus, der unser Gott und Heiland ist, wird das bezeugt. Einmal war er bei einem Pharisäer eingeladen, Simon mit Namen, und gleichzeitig kam eine Sünderin zu ihm und salbte ihm die Füße. Da wußte unser Herr und Heiland, welche Gedanken in dem Herzen des Pharisäers Simon aufstiegen. Und er hat sie ihm geoffenbart. Gott erforscht die Herzen und die Nieren. Auch da gibt es einen wunderbaren Text im Buch der Psalmen: „Herr, du hast mich geprüft und du kennst mich. Du weißt um mein Sitzen und mein Aufstehen. Du verstehst, was ich denke von weitem schon. Mein Gehen und mein Ruhen prüfst du. Mit all meinen Wegen bist du vertraut. Noch liegt ein Wort mir nicht auf der Zunge, da kennst du es, Herr, schon genau. Von rückwärts und vorwärts schließest du mich ein und setzest über mich deine Hand. Zu wunderbar ist dieses Wissen für mich, zu hoch, ich begreife es nicht.“

Das also ist das Erkennen unseres Gottes und Heilandes. Alles, was Gott erkennt, bewahrt er auf. Aber einmal wird er es uns offenlegen. Zunächst in der Stunde unseres Todes, wenn das Einzelgericht über uns ergeht. Dann wird alles, was unser Leben beinhaltete, uns vor Augen geführt werden; denn alles ist aufbewahrt in Gott. Und beim großen Gericht, beim Weltgericht, wird vor aller Öffentlichkeit unser Leben ausgebreitet werden. Dann wird alles das, was Gott – bildlich gesprochen – in seinem Buche verzeichnet hat, aufgeschlagen und vor den Menschen bekanntgemacht werden. „Nichts ist geheim, was nicht offenbar werden wird. Was ihr in dem Gemach in die Ohren geflüstert habt, das wird man ausrufen von den Dächern.“

Dieser Blick Gottes kann uns aber auch sehr hilfreich sein, vor allem in der Versuchung. Wenn ich weiß, Gott sieht mich, sein Blick ruht voll Liebe und voll Vertrauen auf mir, wenn ich mir das vor Augen halte, werde ich in der Stunde der Versuchung einen mächtigen Halt haben. Ich will dieses Auge nicht betrüben, das Auge Gottes, das auf mir ruht.

Ein Knabe kam einmal in eine Stube, wo ein großer Korb mit wunderschönen Äpfeln stand. Er wollte danach greifen, aber dann erinnerte er sich an Gottes Gegenwart und sagte laut vor sich hin: „Nein, Gott sieht mich.“ Aufeinmal hörte er die Stimme eines Mannes, den er nicht gesehen hatte: „Jetzt nimm dir von dem Korb so viele Äpfel, wie du dir nehmen willst!“

Auch wenn wir unverschuldet leiden müssen, kann uns Gottes Blick trösten und stärken. Die Heilige Schrift bringt viele Beispiele davon, wie sich Leidende an der Allwissenheit Gottes aufgerichtet haben. Job, der Dulder Job, war verlassen von seinen Freunden, verspottet von seinem Weibe; aber er wußte: Gott sieht mich, Gott sieht meine Qual und meine Pein – und das war ihm Halt in seiner furchtbaren Lage. Oder Susanna, die keusche Susanna, wurde verdächtigt von Wüstlingen, daß sie Unzucht getrieben habe, und drohte gesteinigt zu werden. In dieser aussichtslosen Situation richtete sie ihren Blick zum Himmel und sagte sich sinngemäß: „Ich will lieber vor Gottes Angesicht unschuldig sterben als schuldig werden mit diesen Wüstlingen.“

Das also ist der Trost, den uns die Allwissenheit Gottes beschert. Wir wissen jetzt: Gott ist ein lebendiger Gott; seine Erkenntniskraft ist unendlich. Gott sieht alles im Himmel und auf Erden. Gott erforscht die Herzen. Von ihm muß man, wie der Apostel Paulus schreibt, niederknien und sprechen: „O Tiefe des Reichtums, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie unbegreiflich sind seine Gerichte und wie unaufspürbar seine Wege! Wer hat den Sinn des Herrn erkannt? Wer ist sein Ratgeber gewesen? Wer hat ihm zuerst etwas geschenkt, daß es ihm vergolten werden müßte? Denn aus ihm und durch ihn und für ihn ist alles. Ihm sei die Ehre in Ewigkeit!“

Amen.

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