Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  

Predigtreihe: Die Zehn Gebote (Teil 3)

14. Juli 2002

Die Gefahr eines falschen Gottesbildes (1.)

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Wenn der Mensch Gott begegnet, steht in ihm die Liebe auf, aber nur dann, wenn er von sich selbst loskommt und Licht wird, wie Gott selbst Licht ist. Wer zu Gott kommt, nimmt das größte Schicksal und die schwerste Verantwortung auf sich. Er tritt in Gemeinschaft nicht nur mit Gott, sondern mit all seinen Geschöpfen. Und von der Gemeinschaft hängt ja unser ganzes Leben ab. Wahres Leben, vollkommenes Leben, seliges Leben gibt es nur in Gemeinschaft. So sind auch die Zehn Gebote Gesetze, welche die Gemeinschaft regeln, die Gemeinschaft mit Gott und die Gemeinschaft mit den Menschen. Die ersten drei Sätze der Zehn Gebote gelten der Gemeinschaft mit Gott, die übrigen sieben der Gemeinschaft mit den Menschen. Das Zehn-Gebote-Gesetz oder der Dekalog, wie man es nennt, galt formell nur im Alten Bunde. Es ist ja das mosaische Gesetz, und das mosaische Gesetz ist abgetan, ist erledigt. Der Alte Bund ist durch den Neuen ersetzt. Aber was in den Zehn Geboten laut wird, das ist inhaltlich nichts anderes als die Summe des sittlichen Naturgesetzes. Das sind die Urgebote, die immer gelten, für alle Menschen und für alle Zeiten. Deswegen ist der Inhalt der Zehn Gebote nach wie vor gültig.

Das erste dieser Gebote lautet: „Du sollst keine fremden Götter neben mir haben!“ Du sollst dir kein geschnitztes Bild machen. Ja, sind wir denn noch in Gefahr, uns geschnitzte Bilder zu machen und sie anzubeten oder gegossene Bilder wie das goldene Kalb und es zu verehren? O nein, das ist nicht unsere Gefahr. Wir sind in einer anderen Gefahr, in der Gefahr, uns ein gedachtes Bild von Gott zu machen, Gott anders zu denken, als er ist und sich uns geoffenbart hat. Ein gedachtes Bild macht sich derjenige, der meint, Gott werde die Sünden verzeihen auch ohne Bekehrung. Ein gedachtes Bild macht sich, wer nur an den Gott der Barmherzigkeit glaubt und nicht an den Gott der Gerechtigkeit. Ein gedachtes Bild macht sich derjenige, der meint, die Gebote Gottes hörten auf, wenn sie schwer sind zu erfüllen.

„Du sollst keine fremden Götter neben mir haben!“ Das besagt: Es gibt über Gott hinaus nichts anderes. Gott teilt seine Macht und seine Würde mit niemandem. Gott darf hinter nichts zurückgesetzt oder zurückgestellt werden, auch nicht vor unserem Geld oder Geschäft oder Glück. Auch nicht vor unseren Neigungen und Leidenschaften. Gott darf vor nichts zurückgesetzt werden, und dieser Gefahr sind wir noch lange nicht entronnen. Gott gibt das Gesetz: „Du sollst keine fremden Götter neben mir haben!“ Der Inhalt dieses Gebotes läßt sich nicht besser ausdrücken als das, was wir in jeder heiligen Messe am Schluß des Gloria beten: „Du allein bist der Heilige, du allein der Herr, du allein der Höchste!“

„Du allein bist der Heilige.“ Das besagt, in Gott ist keine Trübung und Betrübnis; in Gott ist keine Unzulänglichkeit und Schwäche. Zu ihm können wir aufschauen, ohne irre zu werden. Ihn können wir verehren, ohne getäuscht zu werden. Er ist der Vollkommene. „Du allein bist der Heilige.“ Wir haben schon alle Weltdinge geprüft und festgestellt: Es ist doch auf Erden kein Licht ohne Schatten. Es gibt doch auf Erden keine Tugend ohne Untugend. Wir sind doch überzeugt von der Unzulänglichkeit und von der Brüchigkeit aller Weltdinge. Keines kann in Konkurrenz treten mit dem heiligen Gott. Und so ist es auch bei den Menschen. Bei allen Menschen gibt es doch etwas Allzumenschliches. In der Heiligen Schrift heißt es, Gott habe selbst an den Engeln Böses gefunden. Darin sind wir schon Gott gleich geworden, daß wir an unseren Engeln Böses finden. Es ist doch an jedem Menschen, auch am besten Menschen etwas zu verzeihen, etwas zu erbarmen, etwas zu vergeben. Selbst bei unserem kostbaren Ich ist etwas nachzusehen und zu vergeben. Den Menschen möchte ich sehen, den wahrhaftigen, den aufrichtigen Menschen, der von sich sagen kann: Ich bin mit mir selbst zufrieden. Den möchte ich sehen.

So ist es also allein Gott, zu dem wir sagen können: Was habe ich im Himmel, und was könnte ich begehren auf Erden außer dir, mein Gott. Und da finden wir die rechte Haltung auch zum Menschen. Es muß die Haltung der Demut sein. Demut ist das Kleinseinwollen und das Niederknien vor Gott. Es sind über den Menschen gegensätzliche Äußerungen gemacht worden. Man hat sein Genie, seine Fähigkeiten, seine Leistungen gepriesen, aber noch viel mehr Worte sind über die Erbärmlichkeit und über die Jämmerlichkeit des Menschen gemacht worden. Keines dieser Extreme ist richtig. Der Mensch ist etwas Großes, denn Gott hat ihn angesprochen, Gott hat ihn gerufen, Gott hat ihn geliebt. Aber freilich, im Vergleich zu Gott ist er, wie wenn eine große Sonne alle Trabanten verhüllt. Wenn Gott uns nicht anschaut, dann sind wir unansehnlich. Wenn Gott uns nicht liebt, dann sind wir nicht nur nicht geliebt, sondern unliebenswürdig. Wenn er uns nicht ruft, dann können wir nichts hören. Wenn er uns nicht sendet, dann kommen wir nirgendwohin. Wenn er uns nicht anredet, sind wir nicht einmal ein Ich. Wahrhaftig, was haben wir im Himmel und was könnten wir auf Erden begehren außer ihm, unserem Gott? „Du allein bist der Heilige.“

„Du allein bist der Herr.“ Das will besagen: Es waltet ein Wille über uns. Irgendein Wille muß über uns sein, irgendetwas müssen wir erstreben, errennen, erarbeiten, erschaffen. Wir können nicht die Hände in den Schoß legen, wir dürfen nicht müßig gehen. Wir können nicht sagen: Es hat alles keinen Zweck, es hat alles keinen Sinn, es ist alles umsonst. Nein, es muß ein Wille über uns stehen. Welcher Wille soll denn über uns stehen? Der Wille eines Menschen, der Wille einer Masse von Menschen, die Panik der Straße oder der Fanatismus der Demagogen? Was soll denn für ein Wille über uns stehen? Die Laune der Mode oder der Geist der Zeit? Selbst unser eigener Wille, soll der über uns stehen? Wissen wir denn, meine lieben Freunde, wissen wir denn, was wir wollen sollen? Kennen wir denn unser Schicksal, unseren Weg, unser Leben? Wissen wir denn, worauf es ankommt? Nein, es steht schon ein Wille über uns, und das ist der Wille Gottes. Kein Mensch kann über seine Geschicke verfügen; kein Staatsmann und kein Politiker ist imstande, allein nach seinem Willen die Geschichte zu lenken. Es gibt immer drei geschichtsbildende Mächte: Gott, der Satan und erst an letzter Stelle der Mensch. Wir wissen, daß Gott über der Geschichte und über den Geschicken des Menschen waltet, und selbst unsere gehaltenen Augen, selbst unser trübes Auge vermag manchmal zu erkennen, daß wir geführt werden, daß ein Fügung über uns steht, daß unser Schicksal in guten Händen liegt. Und so dürfen wir Vertrauen haben, Vertrauen, daß der Wille Gottes uns in die Heimat führt, in das große Meer, in das alles einmünden soll, in die Unendlichkeit, die nie mehr vergeht. Dieses Vertrauen dürfen wir haben, und so dürfen wir auch sprechen: „Dein Wille geschehe!“ Das dürfen wir auch dann sprechen, wenn dieser Wille uns einen bitteren Trank des Leidens reicht. Auch dann dürfen wir sagen: „Laß diesen Kelch vorübergehen, aber nicht mein Wille geschehe, sondern der deine.“ Denn wir haben dann begriffen, daß, wenn wir Gott lieben, wir ihm das Herrsein zugestehen müssen. Denn die Liebe sagt zu dem anderen: Wie du willst; was dir gefällt; wie du befiehlst.

Gott ist unser Herr, er allein ist der Herr. Zu seinem Willen allein wollen wir sagen: „Du allein bis der Herr!“ Dieser Wille muß aber dann auch unsere Sorge sein, daß wir ihn erkennen und nicht mißverstehen, daß wir ihn sehen und nicht übersehen, daß wir gleichsam auf Posten stehen, um ihn zu erspähen, daß wir diesen Willen, mit einem Wanderstab in der Hand gerüstet, aufnehmen, wenn immer er an unser Ohr ertönt, daß wir also keine Ausflüchte suchen, daß wir den Willen Gottes nicht umgehen wollen, daß wir uns nicht sträuben gegen ihn. Wie leicht ist es den Menschen, die bessere Erkenntnis fallenzulassen, das eigene Gewissen zu betrügen, sich Ausreden zu suchen! Das alles ist ein Vergehen gegen das erste Gebot: „Du sollst keine fremden Götter neben mir haben!“ Du allein bist der Herr, und dein Wille muß in meinem Leben stehen, dein Wille muß mein Leben gestalten, dein Wille muß mein Leben führen. Wenn immer wir also den Schritt Gottes hören auf unseren Gassen, in unseren Häusern, in unseren Herzen, dann müssen wir hinausstürmen und sagen: Ich kann nicht bleiben, denn Gott hat mich gerufen. Ich will nicht feiern, denn der Herr hat mir befohlen. Ich will nicht ausharren in den Kammern meines Schlafens, denn die Nacht ist zu Ende, der Tag hat mich gerufen, und das Licht ist mir erschienen.

„Du allein bist der Heilige, du allein der Herr, du allein der Höchste.“ Über Gott hinaus gibt es nichts. Gegen ihn vermag nichts zu helfen oder zu wehren. Er ist der Höchste. Wir haben doch alle Weltdinge geprüft, wir sind alle Wege abgeschritten, wir kennen alle Werte und alle Ziele, und wir kommen noch immer zu demselben Beschluß: Ich gehe doch auf dich zu mit meinem ganzen Gehen. Ein englischer Staatsmann hat auf der Höhe seiner Macht einmal gesagt: „Ich habe in meinem Leben erfahren, was Wirksamkeit ist. Es ist ein Dasein enttäuschter Hoffnungen und vergeudeter Energien.“ Ein Dasein enttäuschter Hoffnungen und vergeudeter Energien. Ich weiß nicht, wie es in Ihrem Leben aussieht, meine lieben Freunde, und es mag wohl sein, daß auch in unserem Leben vieles enttäuschte Hoffnungen und vergeudete Energien waren, sind und sein werden. Aber es ist nicht alles so. Es gibt auch auf Erden Dinge, Stunden, Seligkeiten, Menschen, zu denen wir sagen möchten: Verweile doch, du bist so schön! Aber das sind dann Dinge, Seligkeiten, Menschen, die wir in Gott hineinstellen mögen. Denn anders können wir sie nicht aufbewahren. Im rastlosen Fluß der Zeit vergeht alles, und was wir nicht in Gott hineinstellen, das ist verloren. Wenn wir also Stunden, Erfolge, Seligkeiten, Menschen finden, zu denen wir sagen möchten: Verweile doch, du bist so schön!, dann müssen wir sagen: Sei du mein Anteil in Ewigkeit, sei du mein Erbteil in der Unendlichkeit, sei du mein Gefährte in der Gottheit.

Wir haben nichts, und wir wissen nichts, wenn wir nicht von Gott etwas empfangen und von Gott etwas lernen. In ihn müssen wir alles hineinlegen, was Bestand haben soll. In ihm müssen wir alles suchen, was unseren Durst und unseren Hunger stillen kann. In ihm müssen wir alles finden, was unsere Seligkeit ausmachen kann.

„Du sollst keine fremden Götter neben mir haben!“ Das bedeutet also: Wir dürfen keine Ruhe haben und dürfen bei Tag und Nacht nicht rasten, ohne Gott anzubeten, der der Heilige ist. Wir dürfen keine Ruhe haben und dürfen nicht rasten, ohne nach seinem Willen zu fragen, seinen Willen zu suchen, der unser Herr ist. Wir dürfen nicht rasten und nicht ruhen bei Tag und bei Nacht, ohne auf ihn zuzugehen, der unser Licht und unsere Kraft und unser Trost ist. Wir müssen in ihm unseren Hunger stillen und in ihm unseren Durst löschen.

Freilich, so ist es bei uns noch lange nicht. Wir können Tage arbeiten, und es ist nicht für ihn, der doch aller Arbeit Sinn ist. Wir können Nächte durchwachen, und wir sind nicht in ihm, der doch aller Nächte Licht ist. Wir sprechen mit Menschen und denken nicht an ihn, der doch in aller Menschen Mitte steht. Trostlos können wir weinen, aber es ist nicht um ihn, der doch unser Schicksal ist. Freilich, unsere Augen sind noch gehalten, und wir wandern noch durch die Nacht. Aber unser Herz sollte doch schon brennen, weil er mit uns geht, denn er ist nicht fern einem jeglichen von uns.

Amen.

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