Predigtreihe: Die Beherrschung der Sinne (Teil 10)
10. Dezember 1995
Die Ordnung der menschlichen Freude
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
Die Freude ist die Ruhe im Guten. Wenn das unruhige Streben durch den Besitz des Gutes zu Ende gekommen ist, stellt sich die Freude ein. Im ungestörten Genuß des erstrebten und ersehnten Gutes ist der Mensch froh. Nach der Freude strebt nicht nur die Liebe, sondern streben eigentlich alle anderen Affekte, alle anderen Leidenschaften. Wir sind auf der Suche nach der Freude. Auch unsere Tätigkeit auf Erden, unsere Arbeit, unsere Geschäfte zielen letztlich auf die Freude. Der Trieb nach der Freude ist dem Menschen vom Schöpfer eingegeben. Er muß also gut und berechtigt sein.
Die Freuden werden unterschieden in die sinnlichen und in die geistigen Freuden. Die sinnlichen sind jene, die uns durch die Sinne vermittelt werden und in den Sinnen ihre Erfüllung finden; die geistigen Freuden werden zwar auch in der Regel vermittelt durch die Sinne, durch Lesen oder Hören, aber ihr Zentrum sind die höheren Fähigkeiten des Menschen, die geistigen Kräfte. Die sinnlichen Freuden liegen dem Menschen am nächsten. Die menschliche Natur drängt nach ihnen, und sie bewirken ja auch eine besondere Alteration, eine Änderung des Körpers. Vor allem die Sinne, die wir den Tastsinn und den Gefühlssinn nennen, vermögen uns sinnliche Freuden zu verschaffen. Ich erinnere etwa an die Freuden des Essens und des Trinkens, an die Freuden des Sportes und des Tanzes, aber auch an die Freuden, die der Ehe, dem intimen Bereich der Ehe zu eigen sind. Diese Freuden sind sinnliche Freuden. Sie sind erlaubt, solange sie mit der Liebe Gottes, mit den Pflichten gegenüber dem Nächsten und mit dem eigenen Streben zum Ziel vereinbar sind.
Freilich haften den sinnlichen Freuden, auch den erlaubten, Mängel an. Sie sind einmal regelmäßig gering und geringfügig. Wir alle wissen, daß die sinnlichen Freuden keinen großen Reichtum in sich bergen. Sie sind vorübergehend, sie halten nur kurze Zeit an, und diese ihre Vergänglichkeit ist ihnen eingeboren. Ein Glücklicher wurde einmal gefragt, was ihm zu seinem Glück noch fehle. Da gab er zur Antwort: „Ein Nagel.“ Wieso ein Nagel? „Damit ich das Glück festnageln könne.“ Die sinnlichen Freuden gehen vorüber. Sie sind auch nicht ungemischt. In dem goldenen Becher der Freude ist häufig unten die Hefe verborgen. Am Grunde lauert und lagert die Bitterkeit. Ein reicher Mensch, der von anderen bedient wird, ist doch todunglücklich, wenn ihn ein Unfall trifft. Ein Mensch, der ganz gesund ist, wünscht sich den Tod, wenn er beleidigt und gekränkt wird. Die sinnlichen Freuden sind also nicht sicher, sie sind nur vorübergehend und nicht ungemischt.
Erst recht gilt das von den sinnlichen Freuden, die unerlaubt sind. Sobald nämlich die sinnlichen Freuden aus der rechten Ordnung herausgenommen werden, werden sie unerlaubt, und die unerlaubten Freuden bringen keinen Frieden. Man kann in der Sünde, meine lieben Freunde, keinen Frieden finden. Der Frieden ist der Enthaltung von der Sünde und der Überwindung der Sünde vorbehalten. Die unerlaubten sinnlichen Freuden bringen auch viel Schaden, körperlichen Schaden, seelischen Schaden, Zerstörung der eigenen inneren Harmonie und Zerstörung der Harmonie mit der Umwelt. Die unerlaubten sinnlichen Freuden machen den Menschen auf die Dauer mürrisch, unfroh und trostlos. Aber noch einmal: Es ist den Christen nicht verwehrt, in einem gebührenden Maße die sinnlichen Freuden zu benutzen. Der Philosoph Max Scheler wurde einmal gefragt, warum er so gern dem Essen und dem Trinken nachging. Da gab er die entwaffnende Antwort: „Meinen Sie, daß die guten Sachen nur für die Dummköpfe da sind?“
Die Freuden, die wir genießen können, sind mannigfaltig. Denken wir beispielsweise an die Freuden, welche uns die Natur bereitet. Die Natur ist wirklich ein Freudenspender für den, der zu sehen und zu hören weiß. „Die Steine reden“, sagte uns im Geographieunterricht einmal der Studienrat, „die Steine reden!“ Tatsächlich, sie reden, sie erzählen ihre Geschichte, die Erdgeschichte, die Millionen und Abermillionen von Jahren andauert. Und was erzählen uns erst recht die Pflanzen und die Tiere! Ihre Schönheit, ihr Ebenmaß, die Weisheit, die in ihnen verborgen liegt, das sind Freuden, die uns Gott bereitgestellt hat. Freuden können wir auch finden in edler Unterhaltung. Das Gespräch ist ein echter Freudenbringer. Wenn sich Herz zum Herzen findet, wenn Menschen in hoher und kluger Weise miteinander reden, dann ist das ein Trost und eine Freude für die Menschen. Vor allem können durch Gespräche Leiden gemildert werden. Sobald der Mensch spürt, da ist einer, der mich versteht, der mit mir trägt, werden die Leiden gemindert. Hohe Freuden vermögen uns die Künste zu gewähren. Es wird kaum einer unter uns sein, der nicht beglückt ist von edler Musik. Die Musik ist wahrhaftig eine Quelle der Freude. Erhabene, edle, klassische Musik vermag den Menschen nicht nur zu erfreuen, sondern sogar zu erheben. Papst Pius XII. ließ sich in seiner Todeskrankheit Beethovens Symphonien vorspielen.
Eine besondere Quelle der Freude ist sodann die Arbeit. Gott hat mit der Last der Arbeit auch die Lust verknüpft. Die Arbeit ist eine Freude. Ihre Mühsal ist zuzugeben, sie kommt von der Erbsünde. Aber etwas schaffen können, etwas leisten können, etwas herstellen können, das ist auch eine Freude. Nichts ist unausstehlicher als die Untätigkeit. Der Müßiggang bringt den Menschen herunter. Der weise Pascal hat einmal gesagt: „Wenn ein Soldat oder ein Feldarbeiter mit seiner Arbeit unzufrieden ist, dann stelle ihn an, nichts zu tun!“ Er meinte, dann wird er schon spüren, wie schlimm es ist, untätig zu sein, den Müßiggang, die Langeweile zu ertragen. Besondere Freude vermag selbstverständlich die geistige Arbeit zu gewähren. Sie verschafft dem Menschen eine eigene, geistige Welt, in der er sich aufhalten kann. Sie gibt ihm Unabhängigkeit von der Umgebung; er braucht nicht dauernd mit Menschen zusammen zu sein, denn er ist in dieser geistigen Welt beschäftigt und gleichsam gefesselt.
Was soll ich erst recht sagen von den Freuden der Religion? Bald sind wir wieder so weit, daß wir die Engelsbotschaft hören: „Seht, ich verkünde euch eine große Freude, denn euch ist in der Stadt Davids der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr!“ Die Religion ist eine Quelle der Freude, meine lieben Christen. Daß wir den Glauben haben, daß wir wissen, woher wir kommen und wohin wir gehen, daß wir den Sinn des Lebens und des Sterbens kennen, das ist wahrhaftig Grund zur Freude. Daß der Glaube uns die Gebot gibt, das kann uns froh machen. Wir wissen, was wir tun und was wir lassen dürfen. Es ist ein Glück, das zu wissen. Wir sind keine Irrgänger, wir sind keine Irrläufer. Wir haben den Weg durch die Gebote vorgezeichnet, und das ist eine Freude. Eine Freude ist die Gnade, die uns Gott schenkt, zumal in seinen heiligen Sakramenten. Jedes Sakrament ist ein Freudenspender. Der größte Freudenspender scheint mir immer noch das Bußsakrament zu sein. Wenn jemand wirklich aus reuigem Herzen, seine Sünden beweinend zum Herrn der Erbarmung fleht und dann die beseligenden Worte hört: „Ich spreche dich los von deinen Sünden“, ein solcher Mensch muß doch mit Freude erfüllt werden. Beicht macht leicht, meine lieben Freunde!
Das Gebet ist eine Freude. Das große Gespräch führen zu dürfen mit dem Vater im Himmel, das ist ein Glück. Der Gottesdienst ist eine Freude. Daß wir zusammenkommen dürfen und Gott vereint preisen und loben können, daß wir ihm den schuldigen Dienst verrichten, daß wir Sühne leisten für unsere und fremde Sünden, Ersatz für die ihm angetane Schmach, das ist eine Freude. Der Gottesdienst ist eine Freude.
Eine Freude ist auch die Tugend. Jede Tugend trägt in sich eine eigene Freude. Der Glanz der Reinheit ist eine Freude, die Liebe, die Demut, das sind Freudenquellen für den Menschen. Tugenden erwerben heißt sich Freuden verschaffen. Wie glücklich ist man, meine lieben Freunde, wenn man, vor die Wahl gestellt zwischen Bösem und Gutem, zwischen Vollkommenem und weniger Vollkommenem, die Wahl für das Gute und für das Vollkommene getroffen hat! Wie glücklich ist man, wenn man der Tugend den Vorzug vor dem Laster gegeben hat! „Willst du immer Freude haben“, schreibt einmal der Verfasser der Nachfolge Christi, „dann habe immer ein gutes Gewissen!“ Ein gutes Gewissen ist eine Quelle der Freude, ein böses Gewissen quält und drückt, macht uns unruhig und ruhelos.
Im Lichte des Glaubens können sogar die Leiden zu einer Freude werden. Richtig verstanden und recht gedeutet, vermögen wir den Leiden einen Freudenkern abzugewinnen. Beispielhaft dafür stehen die Apostel, die in der Frühzeit des Christentums vor den Hohen Rat in Jerusalem geladen wurden. Man verbot ihnen, vom Namen Jesu zu sprechen, man geißelte sie; sie haben also die Peitschenhiebe erduldet. Und was berichtet die Apostelgeschichte dann im 5. Kapitel, 41. Vers: „Nachdem ihnen diese Verbote erteilt worden, nachdem sie gegeißelt worden waren, da gingen die Apostel jauchzend, voll Freude vom Hohen Rate fort, weil sie gewürdigt waren, für den Namen Jesu Schmach zu leiden.“ Weil sie gewürdigt waren, für den Namen Jesu Schmach zu leiden!
Freilich, die Freude wird einem in der Regel nicht geschenkt, die Freude muß erworben, erarbeitet, erkämpft werden. Wir müssen uns freudenfähig machen. Wie wird man freudenfähig? Durch Abhärtung, durch Stählung des Charakters, durch Erziehung zum Opfer, durch Überwindung, durch Zufriedenheit. Alle diese Haltungen muß man sich erwerben, damit man freudenfähig wird, damit man die Freuden erwerben und festhalten kann. Wenn man sie aber einmal empfangen hat, dann soll man sie weitergeben. Nichts erhält die Freude so sicher wie der Versuch und wie die Absicht, die Freude an andere weiterzugeben. „Willst du glücklich sein auf Erden, trage bei zu anderer Glück! Freude, die wir andern geben, kehrt ins eigene Herz zurück.“ Wahrhaftig, so ist es. Die Freudenbringer, die anderen Freude vermitteln, werden, ohne daß sie es suchen – suchen darf man es nicht! – von Gott wiederum mit Freude beschenkt, ob der Freude, die sie anderen bereitet haben.
Unser Leben, meine lieben Freunde, geht ja nicht in Düsternis und Bitterkeit zu Ende. Wir sind auf dem Wege zur ewigen Freude. Die letzte und größte Symphonie Ludwig van Beethovens endet mit dem „Hymnus an die Freude“. Und so sollte es auch in unserem Leben sein. Der Ausgang müßte eigentlich der Hymnus an die Freude sein. Als der Herr Abschied nahm von den Seinen, da sagte er: „Ihr habt jetzt Trauer (weil ich eben hingehe, geopfert werde, am Kreuze verblute), ihr habt jetzt Trauer, aber ich werde wiederkommen, und euer Herz wird sich freuen, und eure Freude wird niemand von euch nehmen.“ Was er den Jüngern gesagt hat, das gilt auch für uns: Wir werden den Herrn sehen, und dann wird sich unser Herz freuen, und diese Freude wird niemand, eine ganze Ewigkeit niemand von uns nehmen.
Amen.