Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
12. März 2023

Die Worte der Verteidigung

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Der Heiland hat die einzelnen Geschehnisse seiner Passion bewusst und wach, mit überlegender Seele, mit denkendem Geiste aufgenommen und demnach auch eine verschiedene Stellung zu allen Einzelheiten eingenommen. Das eine hat er schweigend hingenommen, zum andern hat er sich geäußert. Eines hat er stumm getragen, über anderes hat er sich beklagt. Das eine hat er selbst herbeigeführt, das andere hat er abgewehrt, wie es die Größe seiner Seele verlangte. Wir wollen heute die Worte der Verteidigung erwägen, die Christus gesprochen hat, die Worte und Gebärden der Abwehr. Und zwar hat er dreimal eine Verteidigung geübt: 1. hat er den Knecht verteidigt, über den Petrus hergefallen war; 2. hat er die Jünger verteidigt, die in Gefahr waren, mit ihm verhaftet zu werden; 3. hat er sich selbst verteidigt.

Zuerst, gleich am Beginn seiner Passion hat er den Knecht Malchus in Schutz genommen. Er war einer der Häscher, die den Herrn gefangen nehmen sollten. Petrus, ohne lange zu warten, hieb mit dem Schwerte drein, traf den Malchus und schlug ihm ein Ohr ab. Vielleicht war Malchus ganz vorn gewesen, vielleicht war er der eifrigste, der lauteste, der geschäftigste von allen gewesen, jedenfalls war er am meisten exponiert, so dass er dem blind dreinschlagenden Petrus zum Opfer fiel. Was tut der Herr? Er nimmt den Malchus in Schutz und verteidigt ihn und sagt den Aposteln: „Lasst das. Nicht weiter.“ Ganz kurz und herrisch. Dann berührt er die verwundete Stelle und heilt den armen Malchus. Er geht also weit über das hinaus, was man im äußersten Fall als gerecht hätte verlangen können. Er tut ein Liebeswerk an Malchus, ja, offenbar ist er von Mitleid, von Erbarmen gerührt gegenüber diesem Knecht, der doch sein Feind war, der ihn bedroht hat, der vielleicht auch äußerlich nicht viel Gewinnendes an sich hatte. Aber Jesus hat Erbarmen mit ihm. Warum wohl? Aus welchen Erwägungen ist es ihm möglich, diesen Knecht zu verteidigen, in Schutz zu nehmen und wiederherzustellen? Ist ihm vielleicht das große furchtbare Welt- und Lebensgesetz vor Augen gestanden, nach dem die Menschen einander wehtun müssen, auch wenn sie es gar nicht wollen, auch wenn sie gar keine Schuld daran haben? Offenbar hat Malchus keine Schuld gehabt. Er stand an der legitimen Stelle, er hat einfach seinen Beruf ausgeübt, und es war in seinem Berufe gelegen, dass er anderen wehtun musste, dass er sogar dem menschgewordenen Sohne Gottes wehtun musste. Ist das nicht ein allgemeines Gesetz?

Es ist doch so, dass wir alle, unwillkürlich, auch wenn wir den besten Willen haben, einander wehtun müssen. Der eine sieht die Welt so, der andere sieht sie anders, und so sind sie schon gegeneinander und bestreiten einander ihre Weltansicht. Sodann widerstreiten die Interessen des einen notwendig den Interessen des anderen. Was dem einen ein Vorteil ist, das ist für den anderen ein Schaden. In dieser Welt herrscht eben der Kampf ums Dasein, und es ist auch beim besten Willen unvermeidlich, dass wir zuweilen den liebsten Menschen entgegen sind. Es ist dieses ein ernstes, schweres, tragisches Gesetz, das auf uns allen lastet. So sind wir also eigentlich Schicksalsgenossen unter dem gleichen Fluche, und wir sollten miteinander Erbarmen haben, weil wir unter dem gleichen Joche seufzen, weil wir notgedrungen dem Bruder, der Schwester, der Mutter, dem Vater, dem Freunde, der Frau wehtun müssen. Auch mit dem besten Willen. Können wir nicht sagen, wie der Heiland im Falle des Malchus sich wohl gesagt hat: Der Malchus steht nun an der Stelle, an der er mir wehtun muss; von Seiten der Weltordnung, der Erlösungsordnung, ja von Seiten des himmlischen Vaters ist es so geordnet. So wollen wir aus der Verteidigung, die der Herr seinem Gegner Malchus angedeihen ließ, uns erheben zu der Höhe der Anschauung, dass wir auch die entgegengesetzten Standpunkte nicht immer sogleich auf die Schuld und die Bosheit der Menschen laden. Sie stehen alle unter dem gleichen furchtbaren Gesetz, und wir sollten – wie der Herr – Erbarmen haben mit den Menschen, die uns entgegen sind, die uns missverstehen, die uns Eintrag tun. Denn vielleicht seufzen sie unter einem schwereren Joche als wir selbst.

Dann hat der Herr die Jünger verteidigt. Sie waren jetzt in Gefahr, mitverhaftet zu werden. Besonders da sie selbst handgreiflich geworden waren gegen einen Diener des Hohen Rates. Vielleicht hat schon der eine oder andere des Verhaftungskommandos Miene gemacht, die Apostel mitgefangen zu setzen. Da sagt der Herr: „Wenn ihr mich sucht, dann lasst diese gehen.“ Er verteidigt sie. Wir haben betrachtet, wie Jesus den Aposteln sagte: Kommt, wir wollen zusammen gehen, zusammen ins Leid, zusammen in den Tod. Will er also jetzt doch nicht, dass sie mit ihm zusammen gehen? Sollen sie ausgeschlossen bleiben von der Gemeinschaft seines Geschickes? O nein, sie werden es schwer genug haben in diesen Tagen, in diesen Stunden, und sie werden es noch schwer genug bekommen in den folgenden Jahrzehnten. Und eines Tages wird man sie schon gefangen setzen, fesseln und zum Tode führen. Aber jetzt ist noch nicht ihre Stunde. Seine Stunde ist gekommen: „Das ist eure Stunde und die Macht der Finsternis“, sagt der zu den Häschern. Aber die Stunde der Apostel ist noch nicht gekommen; sie stehen erst am Anfang, er steht schon an der letzten Station. So gehen sie wohl mit ihm, aber hinter ihm, alles zu seiner Zeit. Sie können auch jetzt noch nicht alles tragen, wie er ihnen selbst sagte; sie können die Gefangennahme jetzt noch nicht ertragen. Darum erspart er ihnen das, was sie noch nicht ertragen können, was die Stunde noch nicht verlangt. Er lenkt also ihre Passion, er verfügt über die einzelnen Stationen ihres Kreuzwegs. Er lenkt sie so, dass sie alles zu ihrer Zeit leiden. Aber für jetzt nimmt er sie in Schutz vor den Menschen. Einstmals, in vergangenen Tagen, nahm er sie in Schutz vor dem Sturm. Doch es ist viel schwerer, einen Menschen vor den Menschen zu verteidigen als vor einem Sturm. Wenn einmal eine Menschenmeute hinter uns her ist, wer kann ihr Einhalt gebieten, wer kann der Flut von Missverstehen, von Blindheit, von Hass gebieten? Er kann es. Er braucht nur zu sagen: „Ihr sucht jetzt mich, also lasset diese gehen.“ Und sie lassen die Apostel gehen. Es geschieht, wie er sagt. Sie werden nicht verhaftet. Auch dann nicht, als sie – wie Petrus und Johannes – sich in den Vorhof des Hohenpriesters begeben.

Einmal freilich wird die Zeit kommen, wo er sie nicht mehr gehen lässt, wo er ihren Feinden freie Bahn lässt, wo er niemand mehr sagt: Lasset meine Jünger gehen. Dann geschehen jene furchtbaren Verfolgungen, mit denen die Menschen seinen Jüngern zusetzen, sie peinigen, quälen und töten. Da nimmt er sie nicht mehr in Schutz. Aber das ist dann auch von ihm berechnet, auch das ist dann von ihm gewollt; er trägt ihr Schicksal in seiner Hand, jeden Augenblick. Ach, wenn die Jünger das doch immer wüssten und gegenwärtig hätten! Wie leicht werden sie verzagen und sprechen: Jetzt lässt Gott meine Feinde über mich triumphieren, jetzt lässt er alles Leid über mich kommen. Warum erhört er meine Gebete nicht mehr? Warum misslingt mir alles? Warum werde gerade ich so geduckt, so missachtet, so verfolgt? Es gibt solche Menschen. Aber sie dürfen darum doch nicht sagen: Also hat Gott mich vergessen, oder: Gott ist mir fern, oder: Gott hat keine Macht oder keine Liebe mehr. Nein. So dürfen sie nicht sagen. Gott ist uns dann gerade so nahe wie in der Stunde der Verteidigung. Ob er den Feinden sagt: Lasst meine Diener gehen, oder ob er ihnen sagt: Nun sollt ihr gesiebt werden, wie man den Weizen siebt, immer ist er nahe, immer trägt er ihr Schicksal in seiner Hand.

Endlich hat der Herr sich selbst verteidigt. Zweimal hat er die Gelegenheit ergriffen, sich selbst in Schutz zu nehmen. Zunächst beim ersten Verhör. Da fehlte es den Feinden an Anklagematerial. Sie wussten wohl, mit ihren Zeugen ist es schlecht bestellt, und so wollten sie aus ihm selbst das Anklagematerial herausholen und fragten ihn: „Nun, wie steht es mit deiner Lehre und deinen Jüngern? Sage aus über dich selbst!“ Da entgegnete er: „Ich habe überall öffentlich gelehrt und nirgends im verborgenen. Alle haben mich gehört, fragt doch das Volk, das mich gehört hat! Sie können Zeugnis ablegen.“ Er verweigerte also die Aussage, die Selbstbezichtigung. Er will ihnen die Zeugen nicht ersparen. Nochmals hat er sich verteidigt, als der Knecht, der neben ihm stand, ihn auf diese Verteidigung hin einen Backenstreich gab wider alles Recht und sagte: „So antwortest du dem Hohenpriester?“ Da erwiderte Jesus: „Wenn ich unrecht geredet habe, dann beweise es. Wenn ich aber recht geredet habe, warum schlägst du mich?“ Jesus weist den Diener zurück, indem er ihm sein Unrecht zum Bewusstsein bringt.

Der Herr fühlt die Pein, die das Unrecht einem Menschenherzen zufügt. Der Gerechtigkeitssinn ist vielleicht einer der empfindlichsten Sinne des Menschen, und je reiner, je unverdorbener, je zartfühlender ein Mensch ist, um so schmerzlicher fühlt er jedes Unrecht, auch wenn es ihm selbst nicht zugefügt wird, auch wenn er es bei andern bemerkt. Wie er hier sein Unrecht gefühlt hat, so fühlt er, der beste, der reinste, der empfänglichste Mensch, den es je gab, auch das Unrecht, das durch die Welt geht und jeden Tag aufgehäuft wird, das Unrecht, das himmelschreiende, gegen Kinder, gegen Frauen, gegen Arme, gegen Schwache, das Unrecht gegen Völker und Minderheiten. Er fühlt es auch mehr noch als wir, und er teilt also den Zorn und die Traurigkeit aller Guten, aller Heiligen. Und das ist vielleicht einer der stärksten Gründe, der ihn jeden Tag, jede Stunde, jahrhundertelang zwingt, die Opferaltäre aufs Neue zu besteigen und sein Blut auszugießen, dieses Blut, das lauter redet als das Blut des ungerecht ermordeten Abel. Wenn er in seinem Tabernakel, in der Einsamkeit seiner Eucharistie diesen Strom des Unrechts sieht, der durch unsere Städte und Länder geht, dann weiß er, dass die Vollendung noch ferne ist, dass er noch lange da weilen und opfern muss auf einer unrechtbeladenen Erde.

Jesus fordert auch das Recht. Selbst für sich. In diesem Fall, bei der Zeugenvernehmung und gegenüber dem Knecht, hat er sein eigenes Recht gefordert. Er wusste, dass es aussichtslos war, aber sein Recht hat er doch geltend gemacht. Also steht er hinter dem grandiosen Kampf, den die Gerechtigkeit führt, und in ihrem Namen die Menschen, denen an der Gerechtigkeit etwas liegt. Und es ist dem Heiland wirklich gelungen, Menschen als Kämpfer für das Recht aufzurufen. Er hat solche aufrichtige, unparteiische Kämpfer für das Recht gefunden. Er hat doch viele Päpste gehabt, die mit Recht sagen konnten: „Ich habe die Gerechtigkeit geliebt und das Unrecht gehasst, darum sterbe ich in der Verbannung.“ Der Herr hat Bischöfe gefunden, die zu Unrecht und Rechtsverletzung nicht geschwiegen haben. Die deutschen Bischöfe verteidigten unter der Hitlerdiktatur mit Predigten und Eingaben Recht und Gerechtigkeit. Das Hirtenwort vom 19. August 1943 beispielsweise forderte die Beachtung des sittlichen Naturgesetzes durch den Staat ein. Er hat auch Priester gefunden, die gegen Sklaverei und Hexenwahn aufstanden. Er hat viele Menschenfreunde gefunden in seiner Kirche, die sich der Schwachen, der Unterdrückten, der Rechtlosen angenommen haben, auch wenn es noch so aussichtslos war. Die Männer und Frauen, die in dem Terrorregime des Nationalsozialismus ihr Leben opferten, standen auf gegen die Missachtung und die Verkehrung des Rechts durch die von Gott und seinen Geboten gelöste Obrigkeit. Der Berliner Ministerialdirektor Erich Klausener wandte sich auf dem Berliner Katholikentag in Hoppegarten am 24. Juni 1934 gegen das Unrecht des Systems gegen unschuldige katholische Christen. Sechs Tage später wurde er ermordet.

Der Herr fordert das Recht. Er fordert es auch für sich. „Wenn ich unrecht geredet habe, beweise es“, sagte er. Ist das nicht immer noch, auch heute noch, sein Ruf über die Welt? Er fordert die Menschheit heraus jeden Tag: Wenn ich unrecht habe, beweist es; wenn ich aber recht habe, warum schlagt ihr mich? Warum verfolgt ihr mich, warum verachtet ihr mich? Warum hört ihr nicht auf mich, wenn ich doch recht habe? Wenn ich recht habe, warum liebt ihr mich nicht, warum folgt ihr mir nicht? Warum traut ihr mir nicht? Der Herr fordert das Recht. Und doch: Der Herr hat keine Gewalt angewendet, sein Recht durchzusetzen. Er hätte es können, er hätte seinen Vater bitten können, dass er ihm zwölf Legionen schicke. Er hat es nicht getan. Er hat im entscheidenden Augenblick sein Recht nicht durchgesetzt. Er hat den Prozess an sich geschehen lassen und das Urteil hingenommen. Warum? Weil er der Sohn ist, und weil es der Vater ist, und weil er als Sohn weiß, was dem Vater wohlgefällig ist. Er ist so eingestellt und eingefühlt in das Innerste des Vaters, dass ihm nicht der geringste Zweifel kommt, was in jedem Augenblick dem Vater wohlgefällig ist. Ich könnte den Vater bitten, aber ich tue es nicht; denn ich weiß, er wünscht es anders. Soll ich den Kelch nicht trinken, den der Vater mir reicht? Der Herr hat in seiner Passion die Gerechtigkeit dahinter gelassen in seiner eigenen Sache und auf sein Recht verzichtet. Er ist in den Tod gegangen, weil er die Gerechtigkeit in Liebe überboten hat. Die Gerechtigkeit ist heilig, die Gerechtigkeit ist eine Tochter Gottes. Aber größer noch als die Gerechtigkeit ist die hingebende, die selbstvergessene, die opfernde Liebe. Es gibt Menschen, die zu dieser opfernden Liebe berufen sind, die sich vergessen dürfen, die auf sich selbst verzichten dürfen. Das sind die liebsten Kinder Gottes.

Amen.  

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