Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
23. Januar 2022

Die Kirche des Ostens

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Die genaue Sprache in der Theologie ist eine fundamentale Notwendigkeit. Sie gewährleistet zu ihrem Teil die Einheit des Glaubens. Durch das Abgehen von der einheitlichen und verbindlichen Sprache entstehen Missverständnisse, Häresien und Spaltungen. Eine der zahlenmäßig bedeutendsten und am längsten dauernden Trennungen sind die nestorianischen Christen. Gestatten Sie mir, meine lieben Freunde, dass ich Ihnen heute die Geschichte einer Sonderkirche vorstelle, von der Sie wahrscheinlich noch nie etwas gehört haben. Die nestorianische Kirche, die sich selbst Kirche des Ostens nannte, hat ihren Namen von dem Mönch Nestorius (ca. 381-453). Er lebte ursprünglich in einem Kloster bei Antiochien. Er erwarb sich einen hervorragenden Ruf als Prediger. Kaiser Theodosius II. berief ihn auf den Bischofsstuhl von Konstantinopel (428-431). Während seiner Amtszeit ging Nestorius scharf gegen seine theologischen Gegner vor, erwies sich gegenüber dem Volk als rigoros und war wenig geschickt in der kirchlichen Politik. Zum offenen Konflikt kam es, als einer der Günstlinge des Nestorius den Titel „Gottesgebärerin“ für Maria verwarf und Nestorius den Titel „Christusgebärerin“ einführte. Bischof Cyrill von Alexandrien wandte sich nun an Papst Coelestin I. Kaiser Theodosius berief am 19. November 430 ein Konzil nach Ephesus ein. Dort wurde Nestorius abgesetzt und musste in die Verbannung gehen. Sein Name und seine Schriften wurden gesetzlich verurteilt (Codex Theodosianus 16,5,66). Damit war der Streit nicht beigelegt. Er breitete sich vielmehr rasch aus und rief eine Trennung hervor, die noch bis zur Stunde anhält.

Die Lehre des Nestorius ist bis heute umstritten. Es ist zu unterscheiden, wie seine Gegner sie verstanden, und wie er selbst sie begriffen wissen wollte. Ausgangspunkt des Streites war, dass Nestorius Maria nicht theotokos, sondern christotokos nennen will; nicht Gott ist aus ihr geboren, sondern der mit Gott vereinte Christus. Im Hintergrund des Streites um die Benennung der Jungfrau Maria stand die christologische Frage nach der Einheit von göttlicher und menschlicher Natur in Jesus Christus. Für Nestorius ist Christus der vom Logos angenomme ne Mensch, in dem dieser wie in einem Tempel wohnt, wobei er Nachdruck auf die Eigentümlichkeit der beiden Naturen legte. Das Prosopon (Person) des Logos (als Erscheinungsweise einer konkreten Natur) macht vom Prosopon der Menschheit Christi Gebrauch, so dass beide Prosopa – Logos und Menschheit – in ihrer Verbindung wiederum ein einziges Prosopon bilden sollen. Nach der traditionellen Deutung gehören zur Christologie des Nestorius folgende Grundthesen: 1. In Christus sind „zwei Söhne“, nämlich der göttliche Logos und der Mensch Jesus, einer „von Natur“, einer „durch Gnade“. 2. Der Adoptianismus des Paulus von Samosata wird wieder aufgegriffen. Danach ist Jesus „nur Mensch“ und Tempel der Gottheit. 3. Die Einheit des Logos mit dem Menschen Jesus ist rein äußerlich verstanden als moralische oder auch gnadenhafte Einheit.

Nestorius fand entschiedene Gegnerschaft, vor allem in dem Bischof Cyrill von Alexandrien († 444). Er fragte: Wenn unser Herr Jesus Christus Gott ist, warum darf man die hl. Jungfrau nicht Theotokos nennen? Seine Theologie ist eine Einigungschristologie. Sie betont immer zuerst die Einheit Christi und seine Gottheit, ohne die Menschheit aufzuheben. Er sieht die Menschwerdung als Akt des Logos-Subjektes, „der einen Natur des fleischgewordenen Wortes“. Denn auch das Menschliche ist dem Logos (-Subjekt) zu eigen. Für Cyrill ist der göttliche Logos das einzige wahre Handlungszentrum in Christus. Bei ihm ist kein Platz für ein menschliches Handlungssubjekt bzw. ein unterscheidbares menschliches Handlungsprinzip. Aus dieser Sicht heraus war er nicht fähig, Nestorius in rechter Weise zu verstehen und dessen Ansicht wiederzugeben. Auf dem Konzil zu Ephesus vermochte es Cyrill, sich gegen Nestorius und dessen Anhänger durchzusetzen. Die jetzige historische Forschung bestreitet die Angemessenheit der traditionellen Deutung der Lehre des Nestorius, wie sie von seinen Gegnern, vor allem von Cyrill, dargestellt wird. Nestorius hat immer mit Entschiedenheit die Berechtigung dieser Vorwürfe bestritten. Ihm ging es darum, die Vollständigkeit der menschlichen Natur Jesu herauszustellen. Den Vorwurf, er predige einen „doppelten“ Christus, wies er zurück. Er hielt an der ontologischen Einheit er Person Christi fest, in einem einzigen Prosopon (ein Begriff, der damals die unteilbare äußere Erscheinung meint); darin kommen die beiden Naturen zusammen. Die nestorianischen Kirchen bekennen noch heute die Christologie des Nestorius, zusammengefasst in der Formel: „zwei Naturen, zwei Hypostasen, eine Person in Christus“.

Wenn die einer abweichenden Lehre verpflichtete Partei unnachgiebig ist, kommt es zu einer Spaltung. So war es im Streit um die Lehre des Nestorius. Die theologische Kontroverse weitete sich aus zur Absonderung der Anhänger des Nestorius. Das ostsyrische Christentum grenzte sich bereits 410/424 als autokephale „Apostolische Kirche des Ostens“ (unter eigenen Katholikos-Patriarchen im babylonischen Seleukia) von der römischen Reichskirche ab, was ihr das Wohlwollen des persischen Königs eintrug. Die Nestorianer wurden nach 431 nicht mehr im römischen Reich geduldet. Sie flüchteten in das Sassanidenreich, nach Persien. Die Sassaniden waren eine persische Dynastie (224-651). Sie begründeten das persische Großreich. Mehrfach führten sie erfolgreiche Feldzüge gegen Byzanz. Von 309 bis 651 war der Zoroastrismus Staatsreligion. Unter dem Metropoliten Bar Sauma von Nisibis wurde der Nestorianismus dort förmlich eingeführt. Der Katholikos Akacius von Seleukia-Ktesiphon (484-496) löste das Band mit der Reichkirche vollends ganz. Die ostsyrische Kirche in Persien bekannte sich 486 auf der Synode von Seleukia offiziell zum Nestorianismus. Sie nahm auf der Synode von 612 die Formel Babais d. Gr. († 628) an. Diese ist weder dem Buchstaben noch dem Geist nach mit dem Dekret von Calkedon vereinbar: Es gibt in Christus zwei Naturen (physeis, usiai), zwei Hypostasen, ein einziges Prosopon. Die Einheit in Christus ist prosopisch, nicht hypostatisch. Die nestorianische Kirche verwarf die Verurteilung des Nestorius in Ephesus. Unter den Sassaniden (d.h. bis 643) blühte diese Kirche in Persien, wenn auch bald verfolgt, bald geduldet und sogar gefördert. In den großen Städten Persiens entstanden Bischofssitze. Die Verfolgungen durch sassanidische Herrscher, besonders unter Schapur II. (337-379), forderten aber auch Hunderte von Opfern. Die Christen in Persien standen im Verdacht, mit dem Byzantinischen Reich zu sympathisieren. Mehrfach wurden Christen aus den Grenzgebieten Persiens deportiert, wodurch in ganz Persien neue Gemeinden entstanden. Zur Zeit der Ankunft des Islam (637) waren die Christen noch eine bedeutende Minderheit. Metropoliten mit mehreren Bischöfen werden vor allem in Fars und der Susiana erwähnt; Gemeinden gab es in Hamadan, Qom, Rey und in den Landschaften Kohistan, Seistan und Horasan (Herat). In der Mitte des 13. Jahrhunderts eroberten die Mongolen Persien. Die neuen mongolischen Machthaber waren den Christen zunächst freundlich gesinnt; die Frauen mehrerer Fürsten waren Nestorianer. Die Übernahme des Islam durch die mongolischen Khane (1295) führte jedoch zu Christenverfolgungen. Zu weiteren Verfolgungen kam es um 1390 unter dem Tataren Timur. Zu Beginn des 15. Jahrhunderts wurden Klöster zerstört, Gemeinden ausgelöscht und die episkopale Hierarchie beseitigt.

Die nestorianischen Christen waren fest davon überzeugt, dass sie das wahre Christentum vertreten. Damit war die Pflicht, es auszubreiten, verbunden. Die Kirche des Ostens war außerordentlich missionarisch und hatte zeitweilig große Erfolge. Diese Expansion vollzog sich im Wesentlichen ab 500 n. Chr., d.h. nach der Ausformung ihrer spezifischen Christologie, auf der Bekenntnisgrundlage der Nicaeno-Constantinopolitanum (381) und den Beschlüs-sen des Konzils von Calkedon (451). Klöster bildeten für die Expansion den Ausgangspunkt und hatten die geistliche Führung inne. Die Bekehrungsarbeit wurde meistens von Kaufleuten geleistet, die auf den großen Handelsstraßen wie der Seidenstraße nach China reisten. Zentren der Expansion waren Raij, Rew-Ardashir (für Indien), Merw (für China) und Drangtse im Ladakhgebirge (für Tibet). Weiter sind zu nennen Herat, Samarkand, Buchara, Kaschgar, Taschkent, Almalygh und Navekath. Um 550 schrieb der Alexandriner Kosmas Indicopleu-stes von Christen auf Ceylon, in Burma, Thailand, Cochin-China und Tongking, die mit der Nestorianerkirche in Persien Verbindung hatten. Vor der Vernichtung des persischen Sassa-nidenreiches durch den Islam (651) hatte die Kirche des Ostens bereits erfolgreich unter Arabern missioniert: unter den Lachmiden (im Irak) und auf der arabischen Halbinsel selbst. In Nordarabien gab es in vorislamischer Zeit nestorianische Gemeinden. Die Kirche des Ostens unterhielt Bistümer in Sana und auf Sokotra. Sana ist heute noch die Hauptstadt des Jemens. Sokotra ist eine große Insel südlich des Golfs von Aden und gehört zum Jemen. Dem Islam konnte das Christentum Arabiens jedoch nicht lange widerstehen. Ein letzter Bischof wird in Sana in der 1. Hälfte des 9. Jahrhunderts erwähnt; um 900 lebten noch einzelne Christen im Jemen. Auf Sokotra gab es noch 1282 einen nestorianischen Bischof; letzte Nach-richten von Christen stammen aus dem späten 15. Jahrhundert. Der Islam setzte sich auf Sokotra im 15. Jahrhundert durch.

Die Kirche des Ostens entfaltete – zumal nach dem Verlust des arabischen Missionsfeldes – eine weite Missionstätigkeit in Indien, Zentralasien und China. Nestorianisches Christentum kam 635 mit dem syrischen Mönch Olopen nach China, ist 781 in Schensi und Fukien nachweisbar. 200 Jahre erfreuten sich die nestorianischen Gemeinden der Duldung und Protektion durch den kaiserlichen Hof. Besonders auf Antrieb des nestorianischen Katholikos Timotheos I. gelangte das Christentum 780-823 in das chinesische Turkestan, wahrscheinlich nach Tibet und nach Zentralchina. In Turkestan wurden Hunderte von christlichen Grabsteinen, die bis 1345 reichen, aufgefunden. Nestorianisches Christentum unter der Leitung eines Metropoliten konnte sich über weite Teile Chinas hin ausbreiten, blieb aber im Wesentlichen eine Religion vorderasiatischer Fremdlinge. Doch gab es eine umfangreiche christlich-chinesische Missionsliteratur, einschließlich einer Übersetzung der Evangelien. In China wurde eine Inschrift vom Jahre 781 entdeckt, welche die Missionstätigkeit eines Mönches Olopen und den Bau eines nestorianischen Klosters in den Jahren 635/38 bezeugt. Die Kirche in China blühte unter monastischer Führung und einem eigenen Metropoliten von 713 bis 980 n. Chr. während der toleranten Tang-Dynastie (618-907). Von Bagdad aus wurden wiederholt Missionare und Bischöfe nach China entsandt. Nach der Mitte des 9. Jahrhunderts endete diese erste Phase christlicher Präsenz in China. Der Wechsel der Religionspolitik unter Kaiser Wu Zong (845) leitete das Ende der ersten Phase nestorianischer Präsenz ein. Die Mongolen kamen im 13. Jahrhundert nach China. 1279 hatten sie ganz China besetzt. Die mongolischen Nestorianer breiteten sich rasch im Lande aus. Der Favorit der Mongolenherrscher unter den Religionen war die buddhistische Lehre, vor allem der tibetische Lamaismus. Christentum, Judentum und Islam wurden toleriert. Zwei Franziskanermönche gelangten bis Peking. Die Ming-Dynastie (1368-1644) stürzte 1368 die Mongolenherrschaft. Das nestorianische Christentum ging (kurz vor der Ankunft der Jesuiten) in einem Blutbad zugrunde.

In Zentralasien folgte die nestorianische Mission vom kirchlichen Zentrum Merw aus der alten Seidenstraße auf ihren beiden Routen nördlich und südlich des Tarim-Beckens. Im Laufe des 6. bis 8. Jahrhunderts verbreitete sich das Christentum unter Türken und Sogdern zu beiden Seiten des Oxus/Amu Darja, in Transoxanien sowie des jenseits Jaxartes/Syr Darja bis in das westliche Tarim-Becken (Taschkent, Kaschgar). Im 8. Jahrhundert hört man von je einem Metropoliten in Samarkand, für Türken und Tibeter. Um 800 gibt es Christen am oberen Indus (Drangtse) und um 900 in der Turfan-Oase. Die Thomaschristenheit in Indien stand seit dem 3. Jahrhundert unter dem Einfluss der Ostsyrer und wurde zu einer Kirchenprovinz der Kirche des Ostens. Die Christianisierung Indiens geht auf die nestorianische Mission im 5./6. Jahrhundert unter dem Katholikos Patriarchen von Seleukia-Ktesiphon zurück. 720 wurde eine eigene nestoriansiche Metropolie des „Sitzes des hl. Thomas und der gesamten Christen in Indien“ für die Malabarküste (Kerala und Karnataka) eingerichtet.

Eine zweite und erfolgreichere Missionsperiode der Kirche des Ostens begann kurz nach 1000. Im 11. Jahrhundert bekehrten die Nestorianer den Fürsten des turkmenischen Stammes der Kerait, der als Vasall des chinesischen Reiches den Titel Owang-Khan führte, mit seinem Volk. Durch diese Bekehrung südlich des Baikalsees drang das Christentum in weite turkotatarische Stämme (Naiman) ein, die den Kern des von Dschingis-Khan im früheren 13. Jahrhundert begründeten Großreiches bildeten. In diesem Mongolenreich erlebte das Nestorianertum Asiens seine Blüte. Als die Mongolen China eroberten, kehrte es auch nach China zurück, wo es den ersten lateinischen Missionaren begegnete. In der Mongolei spielten nestorianische Christen im 12. und 13. Jahrhundert eine wichtige Rolle in der Verwaltung und am Hof des mongolischen Großreiches. Christen gab es unter den hohen Beamten des Reiches, und sie waren einflussreich am Kaiserhof. Der Großkhan Güyük (1245-1248) war getauft. Er gestattete in der Hauptstadt Karakorum die Errichtung eines nestorianischen Bischofssitzes. Doch nahm das Christentum hier auch synkretistische Züge an. Seine Minderheitsstellung bewog die Christen zu Anpassungen an Buddhismus, Taoismus und Manichäismus. Doch jetzt kam das Ende. Die Mongolen, die zunächst im Islam ihren Hauptfeind gesehen hatten, nahmen, 1295 beginnend, diese Religion an und fielen vom Christentum ab. Sie setzten blutige Christenverfolgungen ins Werk. Am Ende des 14. Jahrhunderts war es Timur-Lenk, der von Samarkand aus die Christen dezimierte. Die Kirchenprovinzen in Zentral- und Ostasien gingen unter.

Die Kirche des Ostens breitete sich jetzt auch nach Westen aus. Um 700 hört man von einem Bischof in Ägypten. Im 9. Jahrhundert entstanden Metropolien in Tarsus und Damaskus. Nach 1000 kamen Jerusalem und Alexandria sowie ein Bistum auf Zypern hinzu. Der Katholikos-Patriarch selber hatte bereits seit Ende des 8. Jahrhunderts seine Residenz nach Bagdad (der 762 gegründeten Hauptstadt der Abbasiden-Kalifen) verlegt, an deren Hof die Nestorianer alsbald einflussreiches Ansehen genossen. Auf dem Höhepunkt ihrer Geschichte im 13. und 14. Jahrhundert erstreckte sich die nestorianische „Kirche des Ostens“ über ca. 8000 km von Tarsus, Jerusalem, Damaskus und Alexandrien nach Peking und zur chinesischen Küste und über etwa 5500 km vom Baikalsee (Sibirien) bis zur Südspitze Indiens sowie in Zentral- und Ostasien von Samarkand bis Khanbalig/Peking. In einzelnen Zentren dieses riesigen Gebietes residierten mindestens 25 Erzbischöfe und 200 Bischöfe, es gab Klöster und Gemeinden, welche die Autorität des Patriarchen von Bagdad anerkannten. Kein anderer Patriarch in der christlichen Welt verfügte über so weitreichende Jurisdiktion. Alles dies wurde durch den Einfall und die Herrschaft des Timur-Lenk (1336-1405) zerstört. Er war ein turkisierter muslimischer Mongole. Er war ein grausamer Herrscher. Auf seinen weit ausgreifenden Eroberungszügen unterwarf er weite Teile Asiens und drang bis Moskau vor. Timur begann im 14. Jahrhundert eine Verfolgung der Nestorianer, in der Tausende als Martyrer starben. Der Nestorianismus wurde bis auf kleine Reste in Nordpersien, am Urmiasee, in den kurdischen Bergen (Kotschanes) und in Mesopotamien (Irak) vernichtet.

Zusammenfassend ist Folgendes festzuhalten. Die Nestorianer wirkten jahrhundertelang in Asien an der Ausbreitung des Evangeliums Jesu Christi. Die Missionsarbeit fand vor allem in zwei Epochen statt. Die erste Periode erstreckte sich von 600 bis 800 n. Chr., die zweite von 1000 bis zum Höhepunkt im 14. Jahrhundert. Für den Niedergang der Kirche des Ostens werden folgende Gründe angeführt: die Verheerungen durch die Pest in Asien 1337-1339, durch den aggressiven Islam und durch Timur-Lenk; die allzu ausgeprägte Abhängigkeit von nichtchristlichen Dynastien in China, Iran und Irak; das Fehlen einer durchgehenden einheimischen Führung in den Hauptregionen der Ausbreitung; der Gebrauch der syrischen Sprache, der das Christentum in den meisten Regionen als eine ausländische Religion kennzeichnete. Entscheidend war das Versiegen der geistlich-missionarischen Kraft der sich zersplitternden Kirche. Zum Glück verblieben nicht alle Nestorianer in der Spaltung. Es kam hie und da zur Versöhnung mit der römisch-katholischen Kirche. Mitte des 16. Jahrhunderts vereinigte sich ein bedeutender Teil der nestorianischen Kirche mit Rom und erhielt den Namen chaldäische Kirche. Sie untersteht dem Patriarchen-Katholikos von Babylon für die Chaldäer; sein Sitz ist Bagdad. In Indien schlossen sich die meisten Nestorianer der römischen Kirche an (nach 1600). Im Vorderen Orient lebten noch etwa 150000 nestorianische Christen. Die nicht unierten Nestorianer werden oft „Assyrer“ genannt und standen im 19. Jahrhundert unter starker protestantischer und orthodoxer Beeinflussung. 1891 traten 20000 zur russischen Orthodoxie über. Im Ersten Weltkrieg beschuldigten die Türken die Assyrer der Komplizenschaft mit den Russen und rotteten eine große Zahl aus. Diese nestorianische Kirche hat z.Zt. 80000 Mitglieder in Irak, Iran, Syrien, 5000 Mitglieder in Indien und 25000 in den USA.

Die Existenz und das Wirken der nestorianischen Christen ist ein Teil der Geschichte des Christentums. Ihr Aufstieg und ihr Niedergang ist ergreifend und schmerzlich. Ihre Treue zum Christentum, zum dreifaltigen Gott, zu Jesus Christus ist unbestreitbar, vielfach erprobt und durch zahlreiche Martyrien bewiesen. Ihr Glaubenszeugnis ist ein Ruhm für den christlichen Namen. Ihre Weigerung, die Beschlüsse des Konzils von Ephesus anzunehmen, bewirkte eine betrübliche Absonderung von der römisch-katholischen Kirche. Die Nestorianer wichen in Einzelheiten der Begriffe von den Glaubensbekenntnissen der römischen Kirche ab. Aber unzweifelhaft ist, dass sie Christen waren, die den Glauben an den menschgewordenen Gottessohn festhielten und ihn mit einem beispiellosen Eifer zu verbreiten suchten. Die abendländischen Missionare des 13. Jahrhunderts sahen in den Nestorianern vollgültige Christen. Ihr unerschütterlicher Glaube an die Wahrheit und Heilskraft des Christentums trieb die nestorianischen Christen jahrhundertelang zum Zeugnis und zur Werbung für Christus in die Weiten Asiens zu zahlreichen Völkern. Von Ost nach West, von Nord nach Süd, praktisch durch ganz Asien, zogen die Boten des Evangeliums, Vertreter der eifrigsten Missionskirche, welche die Welt je gesehen hat. Händler und Handwerker wurden auf immer weiteren Wegen, Schreiber und Ärzte an fremden Höfen Träger der Nestorianermission. Dazu wanderten Scharen von Mönchen und jungen, in Klöstern ausgebildeten Männern, getrieben von den Missionsworten des Neuen Testamentes, wohin Gott sie führte. Die Nestorianer waren über Jahrhunderte die räumlich bei weitem ausgedehnteste christliche Konfession, wurden aber nirgends wirklich Landeskirche und blieben wohl überall stets nur Minderheit. Ihren missionarischen Impuls bezahlten sie mit unermesslichen Mühen und ungezählten Opfern. Sie dürfen nicht vergessen werden, wenn vom christlichen Glauben, von der Kraft der Gnade und vom Segen des Evangeliums die Rede ist. Mit Zerknirschung und Scham müssen wir erkennen, wie sehr und wie weit wir hinter ihnen zurückbleiben. Wir haben die Möglichkeit, uns ihnen erkenntlich zu zeigen. Die Nachfahren der nestorianischen Christen im Iran und Irak und anderswo in der Zerstreuung sollen uns anvertraut sein. Nach Kräften sollen wir ihnen durch unsere Solidarität und Hilfe zur Seite stehen. Sie sind unsere Brüder und Schwestern in Christus.

Amen.

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