Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
10. Mai 2020

Der Abschied Jesu

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Jesus kündigt in seiner Abschiedsrede sein Scheiden von den Jüngern an. Die Jünger sind betroffen. Die Ankündigung des Herrn, dass er von ihnen fortgehe, versetzt sie in Niedergeschlagenheit und Trauer. Es soll also das vertraute Zusammensein mit dem Meister zu Ende sein. Sie ahnen, was es bedeutet, der Gegenwart Christi beraubt zu sein. Sie werden die göttlichen Worte nicht mehr hören, seine Seligpreisungen, seine Verheißungen, seine Kunde vom himmlischen Vater und vom Reiche Gottes, seine Lehre vom sittlichen Gesetz. Sie werden seine Weise des Umgangs mit den Menschen nicht mehr erleben: sein Mitleid mit den Leidenden, sein Erbarmen mit den Sündern, seinen Abscheu vor Eigennutz und Verstellung. Sie werden keine Wunder und Machttaten mehr erfahren, keine Heilungen von Aussätzigen, keine wunderbare Brotvermehrung, keine Stillung des Seesturms. Denn der Herr scheidet von ihnen.

Jesus sucht die Jünger aufzurichten. Sein Fortgang von ihnen ist nicht nur Verlust, sondern auch Gewinn. Sie müssten ihn in dieser Abschiedsstunde eigentlich fragen, wohin er denn geht. Dann würden sie von ihm hören, dass er zum Vater geht. Diese Aussicht würde ihre tiefe Niedergeschlagenheit sofort beseitigen. Was kann es Beseligenderes geben, als zum Vater im Himmel zu kommen! Zum Gott der Väter Abraham, Isaak und Jakob! Zu dem Vater, der ihn gesandt hat! Der mit ihm ist und ihn nicht allein gelassen hat. Der ihn geliebt hat. Der größer ist als er. 

Der Herr wird seinen Heimgang zum Vater nutzen zu ihrem Heile. Denn er geht hin, um den Seinigen eine Wohnung beim Vater zu bereiten. Wenn er sie bereitet hat, wird er wiederkommen und sie zu sich nehmen; sie sollen dort sein, wo er ist (Joh 14, 2-3). Das ist der erste Trost, den der Herr für seine Jünger bereithält, wenn er sie verlässt. Der zweite Trost: Wenn er fortgeht, wird er den Vater bitten, dass er den Jüngern einen anderen Helfer gebe, der immerfort bei ihnen bleiben soll, den Geist der Wahrheit, den die Welt nicht empfangen kann. Während seiner irdischen, fleischlichen Gegenwart war Jesus der Beistand, der Tröster, der Helfer und Lehrer seiner Jünger. Wenn er diese Weise der Gegenwart aufgibt, nimmt ein anderer seine Stelle ein: der Paraklet. Der Weggang Jesu zum Vater ist die unerlässliche Vorbedingung für das Kommen des Parakleten, des Beistandes. Wenn er fortgeht, wird er ihn zu ihnen senden. Erst muss das Opfer Christi vollendet sein; erst muss Jesus selbst verwandelt, verklärt sein; erst muss er beim Vater angekommen sein: Dann erst vermag er aus seiner durchlichteten Wirklichkeit den Parakleten zu senden.

Das Kommen des Parakleten wird den Verlust der irdisch-leiblichen Gegenwart Jesu reichlich aufwiegen. Denn in seiner Tätigkeit vollzieht sich das Offenbarerwirken Jesu beständig weiter (Joh 15,26; 14,26; 16,13f) und wird so von seiner bisherigen Begrenzung befreit. Jesu irdisches Wirken war zeitlich und räumlich beschränkt. Das Wirken des Geistes wird die Jünger bis an die Grenzen der Erde führen und die gesamte Weltzeit ausfüllen bis zur Wiederkunft des Herrn. Das Wirken des Parakleten ist absolut und unbedingt erforderlich. Es setzt die Offenbarung Christi voraus, aber es führt sie fort und vollendet sie. „Der Helfer, der Heilige Geist, den senden wird der Vater in meinem Namen, er wird euch alles lehren und euch an alles erinnern, was ich euch gesagt habe.“ „Wenn der Helfer kommt, den ich euch senden werde vom Vater, der Geist der Wahrheit, der vom Vater ausgeht, wird er Zeugnis geben von mir.“ „Wenn jener kommt, der Geist der Wahrheit, wird er euch hinführen zur vollen Wahrheit; denn nicht von sich aus wird er reden, sondern was er hört, wird er reden.“ Ja, der Paraklet wird die Jünger erst in die volle Erkenntnis der von Jesus gebrachten Wahrheit einführen (Joh 16,12-15) und ihnen so die Möglichkeit verschaffen, sie erfolgreich gegenüber der Welt zu verteidigen (Joh 16,8-11).

Der Paraklet übt eine Funktion gegenüber der (gottfeindlichen) Welt aus. Er wird der Welt den Nachweis führen über drei grundwesentliche Gegenstände. Hinter den Worten Jesu steht die Vorstellung von einem Prozess, der sich vor dem Forum Gottes abspielt. Die ungläubige Welt, die Jesus verworfen und ans Kreuz gebracht hat, ist der Angeklagte, der Paraklet ist der Ankläger. Er wird die Welt überführen, d.h. er wird ihre Schuld ans Licht bringen und den Nachweis führen, dass sie im Unrecht ist. Dieser Prozess begibt sich nicht beim Jüngsten Gericht am Ende der Zeiten, sondern im ganzen Verlauf der Geschichte seit Jesu Auferstehung. Das Überführen durch den Parakleten vollzieht sich in seinem Zeugnisablegen für Jesus vor der Welt (Joh 15,26), d.h. in der vom Geist getragenen christlichen Predigt. Durch sie wird das Unrecht, die Schuld der Welt ans Licht gebracht. Der Paraklet wirkt durch menschliche Werkzeuge. Er erfüllt sie mit Weisheit und Kraft, sodass sie imstande sind, die Wahrheit lichtvoll darzustellen und siegreich zu behaupten.

Das Überführen der Welt durch den Parakleten bezieht sich auf Sünde, Gerechtigkeit und Gericht. Der Paraklet wird klarstellen, was Sünde, Gerechtigkeit und Gericht heißt. Sünde ist der Unglaube gegen die in Jesus erfolgte Offenbarung Gottes. Die Welt hat sich der Verkündigung Jesu verschlossen, und sie verschließt sich ihr auch weiterhin. Das ist ihre Sünde (Joh 15,21-25; 5,44f; 6,36; 10,37f). Der Paraklet wird sie ans Licht bringen (Joh 3,18-20). Jesus denkt selbstverständlich nicht daran, zu behaupten, es gebe nur eine Sünde, den Unglauben. Oft und immer wieder hat er in seinen Predigten die Sünden der Hartherzigkeit und der Heuchelei, des Mammondienstes und der Unbußfertigkeit gegeißelt. Aber diese Sünden wiegen im Vergleich mit dem Unglauben weniger schwer. Der Unglaube, das Sichverschließen gegen den gottgesandten Offenbarer ist die Ur-, Wurzel- und Hauptsünde. Aus ihr erwachsen die übrigen Sünden. An anderer Stelle hat Jesus erklärt, wie es zur Verfolgung seiner Jünger kommen kann: Sie kennen Gott nicht, der ihn gesandt hat. Er hat ihnen Gott geoffenbart. Aber die Juden haben seine Offenbarung nicht angenommen, und zwar aus eigener Schuld. „Wäre ich nicht gekommen, und hätte ich nicht geredet zu ihnen, so hätten sie keine Sünde. Jetzt aber (weil er gekommen ist und zu ihnen geredet hat) haben sie keine Ausrede für ihre Sünde.“ Sein Kommen war ein Erscheinen in Kraft und Macht. Aber die Masse der Judenschaft zeigte sich davon unbeeindruckt: „Hätte ich nicht die Werke getan unter ihnen, wie sie kein anderer getan hat, hätten sie keine Sünde. Nun aber haben sie diese gesehen und sowohl mich gehasst als auch meinen Vater.“

Der Paraklet überführt die Welt zweitens von der Gerechtigkeit. Gerechtigkeit ist als Rechtfertigung oder Schuldloserklärung vor Gericht zu verstehen. Der Ausweis des Sieges Jesu im Prozess ist sein Hingang zum Vater; er ist seine Verherrlichung, seine Erhöhung. Der Paraklet erbringt durch seine Zeugentätigkeit den Beweis, dass Jesus zum Vater gegangen ist. Darin liegt die Rechtfertigung seines Lebens und Wirkens. Jesus ist kein Verstoßener, sondern der geliebte Sohn des himmlischen Vaters. Die Auferweckung und Erhöhung Jesu ist die Beglaubigung seiner göttlichen Sendung. So hat es die urchristliche Predigt immer gesehen (Apg 2,30; 3,15; 5,31; 13,30f; Phil 2,9f; 1 Tim 3,16; Hebr 1,3; 1 Petr 3,22). Der Hauptmann des Exekutionskommandos war der erste, der nach Jesu Verscheiden die Feststellung traf: „Wahrhaft, dieser Mensch war Gottes Sohn!“ Petrus hielt den Juden in seiner Pfingstpredigt vor: Ihr habt Jesus von Nazareth „durch die Hände Gesetzloser“ ans Kreuz geschlagen und umgebracht. Gott aber hat ihn auferweckt und die Wehen des Todes gelöst; denn es war unmöglich, dass er festgehalten wurde von ihm.

Der Paraklet wird endlich durch sein Wirken klarlegen, was Gericht ist und wer gerichtet wird. Die Welt meint, Christus sei gerichtet worden. Aber im Tod des unschuldigen Nazareners ist in Wahrheit das Gericht Gottes über den Herrscher dieser Welt, der Jesus ans Kreuz gebracht hat (Joh 13,2.27), vollzogen worden. Jesus hat durch seinen Tod im Gehorsam gegen den Vater über den Teufel triumphiert. Denn durch den stellvertretenden Sühnetod ist er zu Gott eingegangen und zu ihm erhöht worden. Seitdem ist der Teufel seiner Macht beraubt; er ist also der Unterlegene, der Gerichtete (Joh 12,31; Kol 2,15). Das Gericht Gottes hat seinen Anfang genommen mit der Menschwerdung des Logos. Schon das ist das Gericht, dass das Licht in die Welt gekommen ist und die Menschen die Finsternis mehr liebten als das Licht (Joh 3,19). Jesu Kommen hat die große Scheidung in der Menschheit eingeleitet zwischen denen, die sich erleuchten lassen, und jenen, die vor dem Licht fliehen. Es ist der Unterschied zwischen Geretteten und Verlorenen. Wer an den Sohn Gottes glaubt, wird nicht gerichtet. Wer aber nicht glaubt, der ist schon gerichtet, weil er nicht geglaubt hat an den Namen des eingeborenen Sohnes Gottes (Joh 3,18).

Gegenüber den Jüngern hat der Paraklet die Aufgabe des Lehrers (Joh 12-15). Jesus hätte seinen Jüngern noch vieles zu sagen. Aber sie sind jetzt noch nicht fähig, es zu tragen. Sie besitzen im gegenwärtigen Augenblick noch nicht die nötige Reife. Es wird die Aufgabe des Parakleten sein, die Jünger zur ganzen und vollen Wahrheit zu führen (Joh 14,26). Er wird sie Worte und Handlungen Jesu, deren eigentlicher Sinn den Jüngern zunächst verborgen blieb (Joh 2,22; 12,16), verstehen lassen. Er wird ihnen die Schriftgemäßigkeit seines Todes erschließen und so das Ärgernis des Kreuzestodes beseitigen (Lk 24,25-27). Er wird ihnen eine vertiefte Einsicht in das gesamte Erlösungswerk Christi vermitteln. Erst durch sein Wirken wird der ganze reiche Inhalt der von Jesus gebrachten Wahrheit den Jüngern erschlossen werden. Wie Jesus, so redet der Paraklet nicht von sich aus, sondern verkündet nur das, was er hört, nämlich von Gott (Joh 3,32; 7,17; 8,28; 12,49; 14,10). Was Jesus hier vorhersagt, fasst die Kirche Christi unter den Begriff der Dogmenentwicklung. Der Gehalt der Offenbarung ist der Kirche in ihrem Reichtum erst nach und nach aufgegangen. Die beiden Faktoren dieser Entwicklung und Entfaltung sind erstens das Walten des Heiligen Geistes im Lehramt der Kirche und in den Seelen der Gläubigen, zweitens die Arbeit der Theologen. In der geistgetragenen Predigt der Kirche lebt und wirkt Gottes Wort weiter, indem es immer tiefer erfasst, reicher entfaltet und nach den jeweiligen Erfordernissen verkündigt wird. Noch eine wichtige Aussage macht Jesus vom Wirken des Geistes: Der Paraklet wird die kommenden Dinge verkünden. Dieses Wort des Herrn ist wohl dahin zu verstehen, dass der Paraklet die Gabe der Prophetie verleihen wird (1 Kor 13,8; 14,21-23; 1 Thess 5,19f; 1 Joh 4,1). Es wird in der Kirche immer prophetische Männer und Frauen geben. Sie werden Zukünftiges vorhersagen in der Kraft des Heiligen Geistes, zur Mahnung und Warnung, zur Aufrichtung und zum Troste. Der Geist Gottes wird sich in seiner Kirche nie unbezeugt lassen, sei es in der prophetischen Seite der Amtsträger, sei es in der freien Prophetie geisterfüllter Männer, Frauen und Kinder.

Der Paraklet wird keine neue, die Verkündung Jesu überbietende oder gar ihr widersprechende Offenbarung bringen. Er wird dafür sorgen, dass Jesu Wort in der geistgetragenen Predigt der Kirche lebendig bleibt. Darin vollzieht sich zugleich die Verherrlichung Jesu. „Er wird von dem Meinigen nehmen und euch verkünden!“ Zwischen der Verkündigung Jesu und der Lehre des Parakleten besteht kein Widerspruch. Das Zeitalter Christi wird nicht durch das Zeitalter des Parakleten abgelöst. Was Jesus gelehrt hat, das lehrt auch der Paraklet. Das ist die Zuversicht, das ist die Hoffnung der Kirche in allen Perioden menschlicher Schwäche und menschlichen Versagens: Der Geist Gottes wird dafür sorgen, dass Gottes Wahrheit nicht untergeht, dass seine Gnade nicht versiegt.

Amen. 

 

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