Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
5. April 2020

Der Tod des Messias

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Unser Herr hat die Spanne des Lebens, die der himmlische Vater ihm bestimmt hatte, durchschritten. Der letzte Tag ist angebrochen. Die Volkstrecker des Willens Gottes haben ihn hinaufgeführt zum Kalvarienhügel. Sie haben die Hände an den Querbalken angenagelt, dann das Querholz an dem senkrecht eingerammten Pfahl befestigt und danach die Füße mit Nägeln an dem Pfahl durchbohrt. Eine große Menge Volkes war Zeuge dieses Geschehens. Der Rabbi von Nazareth war eine bekannte Persönlichkeit. Die Evangelisten berichten von Frauen, von vielen Frauen, die der Kreuzigung Jesu zusahen. Es waren dieselben, die Jesus von Galiläa nachgefolgt waren, um ihm zu dienen; dieselben, die ihn auf dem Kreuzweg begleiteten, beklagten und beweinten. Frauen waren die treuesten und mutigsten Anhänger Jesu. Die Evangelisten Matthäus und Markus nennen mit Namen Maria Magdalena, Maria, die Mutter des Jakobus des Jüngern und des Joses, und Salome, die Mutter der Söhne des Zebedäus. Der Evangelist Johannes schreibt: Es standen bei dem Kreuze seine Mutter und die Schwester seiner Mutter, Maria, die Frau des Kleopas, und Maria Magdalena. Die Anwesenheit seiner eigenen Mutter übergeht er. Mit wehem Herzen schauen die frommen Frauen auf den gekreuzigten Meister. Unter ihnen Maria, die Mutter Jesu. Jetzt versteht Maria die Prophezeiung des greisen Simeon: „Deine Seele wird ein Schwert durchdringen.“ Jetzt durchbohrt das Schwert ihr Herz. Wahrhaftig: Groß wie das Meer ist ihr Schmerz. Jetzt erfüllt sich, was ein begnadeter Verehrer Marias in die Worte gefasst hat: „Christi Mutter stand mit Schmerzen bei dem Kreuz und weint von Herzen, als ihr lieber Sohn da hing. Durch die Seele voller Trauer, ganz versenkt in Todesschauer, jetzt das Schwert der Schmerzen ging.“

Der Herr sieht vom Kreuze herab seine weinende Mutter. Dass die Liebste und Beste unter den Menschenkindern gekommen ist, um bei seinem Sterben da zu sein, ist ihm Trost, aber auch Schmerz. Denn er weiß: Seine Schmach ist auch die Schmach dieser feinen, empfindsamen Frau. Seine Wunden drücken sich in ihre Seele ein. Maria klagt nicht laut; sie schweigt. Maria hat kein Wort gesagt unter dem Kreuze. Mit keinem Wort hat sie geklagt, wie weh ihr ums Herz ist. Die anderen Passionsteilnehmer haben kundgetan, wie ihnen zumute ist; Maria aber hat geschwiegen. Erkennen wir nicht gerade in diesem Schweigen ihren Schmerz, wenn es wahr ist, dass die großen Leiden schweigsam sind? Jesus bewegt der Gedanke: Was soll aus der Mutter werden, wenn er von dieser Welt geschieden ist? Sie darf nicht der Not und dem Elend ausgeliefert werden. Da sieht der gekreuzigte Herr einen Mann in der Schar der treuen Frauen, einen Mann von einzigartiger Gesinnung, einen Jünger, der ihm nähergestanden ist als alle übrigen Jünger, Johannes, der beim letzten Abendmahl an seiner Seite war. Jetzt steht er neben seiner Mutter, nicht zufällig; Gottes Vorsehung hat ihn neben sie gestellt. Noch einmal, zum letzten Mal, ergeht das Wort des Herrn an Maria. Dieses Wort ist sehr kurz, es enthält keine Verkündigung und keine Verheißung, keinen Trost und keine Aufrichtung. Der sterbende Jesus wendet sich an seine Mutter: „Frau!“ So hatte er sie auch in Kana angesprochen. Diese Anrede brachte zum Ausdruck, dass er in der Ausübung seines messianischen Berufes unter einem anderen Gesetz steht als dem der Familie. Er besagt in diesem Augenblick, dass er seine Sendung festhält bis zum letzten Atemzug. „Frau!“ sagt der Gekreuzigte. Maria merkt auf. Ihr Sohn spricht zu ihr. Es ist ein ungeheuer ernstes und inhaltsschweres Wort. „Siehe, deinen Sohn!“ Damit kann nur ein Einziger gemeint sein, denn von anderen gläubigen Männern unter dem Kreuz ist nicht die Rede. Damit ist Johannes gemeint. Ihn soll sie fortan als ihren Sohn ansehen. Ihm soll sie die Liebe schenken, die sie über dreißig Jahre ihm erwiesen hat. Johannes soll ihr Jesus sein. Das ist das Testament ihres Sohnes, das ist seine letzte Verfügung. O, sie versteht es wohl: Nun wird er von ihr gehen, nun wird er nicht mehr ihr Sohn sein, sondern ein anderer, und einem anderen soll sie nun Mutter sein, weil der erste, der eingeborene, von ihr geschieden ist. „Siehe, deinen Sohn!“ So wird sie es also verlieren, dieses Kind, das sie so viel gekostet hat, so viel Sorge und Angst und Liebe und Treue. Was hat sie auf dieses Kind gewandt mehr als drei Jahrzehnte: Mit jedem Gedanken war sie bei ihm, mit jeder Faser ihres Herzens hat sie diesem Kind gehört. Und was hat sie von diesem Kind alles empfangen in diesen dreißig und mehr Jahren, welche seligen Tage, welche unvergesslichen Stunden in Bethlehem und in Nazareth. Dieses Kind war der Beruf, den sie empfangen hat, war der Inhalt ihres Lebens, war die tragende Kraft ihrer Seele, war die einzige Freude, die sie kannte. Und nun sollte sie von ihm getrennt werden. Maria hat einmal in ihrem Leben nach dem Sinn des Leids gefragt. Als der zwölfjährige Knabe sie drei Tage verlassen hatte, da fragte sie erstaunt und schmerzvoll: „Kind, warum hast du uns das getan?“ Aber jetzt auf Golgotha unter dem Kreuz fragt sie nicht mehr; denn sie weiß schon lange die Antwort: „Muss ich nicht in dem sein, was meines Vaters ist?“ Sie weiß die Antwort, denn sie liegt in ihrem Berufe, in ihrem Mutterberufe, und dieser Beruf heißt Hergeben. Hergeben ohne Ende. Dieser Beruf bedeutet, dass ihr Kind ihr nicht gehört, sondern einem Höheren droben, und dass sie ihm es geben wird und geben muss in derselben Stunde, da er es verlangt. Sie muss dieses Kind hergeben, weil eine Hand von oben es hinaufhebt auf das Kreuz und es hineinzieht in das Dunkel des Todes. Hergeben muss sie das Kind, weil die Welt darauf wartet. Millionen Hände erlösungsbedürftiger Menschen recken sich empor und warten auf ihr Mutteropfer. Sie kann es nicht verweigern. Am Tage der Verkündigung hat Maria ein ernstes Wort gesprochen: „Siehe, ich bin die Magd des Herrn; mir geschehe nach seinem Worte.“ Eine Ergebenheit, eine Großmut, ein hochherziges Schenken spricht aus diesem Wort; es ist, als hätte sie es damals schon gesprochen für die Stunde auf dem Kalvarienberge, so dass sie es dort nicht zu wiederholen brauchte. Ihr ganzes Leben stand unter diesem Wort: Mir geschehe nach seinem Worte. Da mochte der Herr kommen und verlangen, was er wollte. Wenn er gab, dann nahm sie, und wenn er nahm, gab sie. Und wenn er sie hinabführte an das Meer der Leiden, dann folgte sie ihm.

Nach der Anrede an seine Mutter gleiten Jesu Augen zu Johannes hin. Johannes ist der einzige Apostel, von dem berichtet wird, dass er unter dem Kreuze stand. Gott hatte ihn dorthin bestellt, weil ein wichtiger Auftrag auf ihn wartete. Als der sterbende Herr sein Testament verkündete, da wandte er sich an Johannes. Das war kein Zufall, das war eine längst vorbereitete Wahl. Er war der Jünger, den Jesus liebte, wie der Evangelist Johannes schreibt. Nicht als ob Jesus die übrigen Jünger nicht geliebt hätte. Aber Jesus hatte zu Johannes eine besondere Zuneigung. Die Kirchenväter, die das Evangelium auslegen, führen diese Verbundenheit darauf zurück, dass Johannes jungfräulich lebte. So war er dem Meister und seiner Sendung enger verbunden als die übrigen Apostel. Beim letzten Abendmahl war er an der Seite Jesu. Auf einen Wink des Petrus wagte er es, Jesus zu fragen, wer sein Verräter sein werde. Johannes gehörte mit Jakobus und Petrus zu den Aposteln des besonderen Vertrauens Jesu. Ihn nahm er mit auf den Berg der Verklärung, ihn machte er zum Zeugen seines Ringens am Ölberg. Jetzt, am Kreuze, kann er dem Jünger ein Zeichen mit der Hand nicht mehr geben, denn seine Hände sind von rostigen Nägeln durchbohrt. Aber den Blick kann er auf Johannes werfen und ihm sagen: „Siehe, deine Mutter!“ Er soll Maria als ein kostbares Pfand aus dem Vermächtnis Jesu entgegennehmen. Er soll ihr seine Liebe und Sorge zuwenden, wie er selbst es über Jahrzehnte getan hat. Wir haben keinen Zweifel, dass Johannes den Auftrag Jesu als heiliges Vermächtnis entgegengenommen und bis zum Heimgang Marias erfüllt hat. Er wird ihr ein liebender, besorgter Sohn gewesen sein, wie es der Meister von ihm erwartet hatte. Von ihm kann die Christenheit lernen, wie sie mit der Mutter Jesu umgehen soll. Mit Ehrfurcht, Hingabe und Vertrauen. Mit jener zarten Liebe, die dieser einmaligen Frau angemessen ist.

Die Stimmung um das Kreuz ist gedrückt. Die meisten Menschen verlassen Golgotha. Die bleiben, scheinen von Angst befallen, von Unheimlichem gepackt. Denn die Sonne hat sich verfinstert, Dunkelheit hat sich über Jerusalem gelegt. Sonst steht um diese Zeit die Sonne hoch am Himmel und gießt Licht und Glut herab. Heute hat sie ihr Antlitz verhüllt. Will die Sonne das Entsetzliche, was sich hier zuträgt, nicht sehen? Trauert die Natur über Jesu Leid? War er vielleicht doch ein Gerechter? Diese Fragen kühlen wie eisige Flutwellen die Glut der Volksleidenschaft. Es wird stiller und stiller. In der Finsternis huschen die Menschen wie schwarze Schatten hinweg. Der Herr ist tot. Das Herz, das nur für andere schlug, hat aufgehört zu schlagen. Der gemarterte Leib hängt, mit schwarzem Blut bedeckt, kraftlos vom Kreuze herab. Ja, der Heiland der Welt ist tot. Das Opfer ist vollbracht. Von nun an betet eine gläubige Christenheit: „Der für uns ist gekreuzigt worden.“ Für uns. Das heißt: Uns hätte die Strafe gebührt. Wir müssten am Kreuze hängen. Er sprang für uns ein und nahm Blut und Qual, Schande und Tod auf sich, um den Schuldbrief zu bezahlen, der gegen uns zeugte. Um uns zu erlösen, hat er sich selbst entäußert, hat er alles geopfert.

In den Straßen und Gassen Jerusalems stehen die Menschen in Gruppen zusammen. Die stundenlange Finsternis droht und schreckt. „Der Rabbi von Nazareth ist gekreuzigt, der Himmel zürnt“, sagen die einen. „Unsinn, ein zufälliges Zusammentreffen“, entgegnen die anderen. Aber ihre Lippen beben, wenn sie so sprechen. Vermutlich glauben sie selbst nicht an ihre Worte. Wie sollte sich die Schöpfung nicht aufbäumen, wenn ihr Schöpfer am Kreuze erstickt? Die Menschen wagen nicht, in ihre Häuser zu gehen. Denn die Erde bebt, die Gebäude wanken. Entsetzen kommt über sie. Es ist die Stunde, in der Jesus stirbt. Im Nu wissen es alle. Gott hat gesprochen. Er hat geredet durch den Mund der Elemente. Felsen zerspringen. Auf Golgotha läuft neben dem Kreuz ein breiter Riss. Da kommt eine neue Schreckensbotschaft. Die Priester stehen im Heiligtum zum Abendopfer bereit. Da geschieht vor ihren Augen Ungeheuerliches. Der Vorhang vor dem Allerheiligsten des Tempels – die Scheidewand zwischen Heiligem und Allerheiligstem – reißt der ganzen Länge nach, von oben bis unten, entzwei. Um dieselbe Stunde stirbt Jesus. Das ist Jahwes Urteil über die Hinrichtung des Gerechten. Von Entsetzen geschüttelt, schlagen die Menschen an die Brust. Gott hämmert auf die Gewissen. Mit dem Tode Jesu nimmt die Zerstörung des Tempels ihren Anfang und der Kult des Alten Testamentes sein Ende. Bisher durfte das Allerheiligste nur der jüdische Hohepriester am großen Versöhnungstage betreten. Jetzt ist der Zugang ins Allerheiligste frei. Jesu Tod hat die Versöhnung der Menschen mit Gott bewirkt.

Mit Keulen ausgestattete Soldaten erscheinen auf Golgotha. Pilatus schickt sie auf Drängen der Juden. Sie sollen den Gekreuzigten die Beine zerschlagen. Das Zerschlagen der Beinknochen mittels Keulen (crurifragium) soll den Tod rascher herbeiführen. Die Zeit drängt. Das Osterfest steht vor der Tür. Die Gekreuzigten stören die frohe Feier. Sie sollen abgenommen werden. Dazu müssen sie aber erst einmal tot sein. Die Soldaten zerbrechen den Schächern die Gebeine. Diese letzte qualvolle Marter lässt den Tod augenblicklich eintreten. Jesus tun sie nichts an; denn er ist bereits gestorben. So erfüllte sich das Wort der Schrift: Ihr sollt an ihm kein Bein zerbrechen. Einer der Soldaten stößt die Lanze in die Seite Jesu, um den Eintritt des Todes mit Sicherheit festzustellen. Aus der Wunde fließt Blut und Wasser heraus. Nun ist alles ausgegeben. In dem entseelten Leib ist nichts mehr drin. Der Messias hat sein Leben verströmt bis zum letzten Blutstropfen.

Aber schon zeigt sich der Erlösungssegen, der durch das Sterben des Messias über die Erde kommen soll. Als Jesu Todesschrei über die Schädelstätte erschallt: „Vater, in deine Hände empfehle ich meinen Geist“, drängt sich dem Anführer des Exekutionskommandos über die Lippen, was sein Herz erfüllt: „Wahrlich, dieser Mann war ein Gerechter. Dieser Mensch war Gottes Sohn.“ Nach dem Evangelisten Matthäus sprechen es die Soldaten ihrem Hauptmann nach. Die Duldergröße Jesu hat ihr Herz bezwungen. „Dieser Mensch war Gottes Sohn.“ Aus den Wunden Jesu quillt die Gnade. Sie erreicht die rauhen Herzen von Soldaten.

In diesem Augenblick steht der Mann, den Gott erweckte, Joseph von Arimathäa, vor Pilatus und erbittet den Leichnam Jesu. Pilatus hat mit dem raschen Sterben Jesu nicht gerechnet. Er wundert sich, dass er schon tot sei, und holt Nachricht bei dem Hauptmann des Hinrichtungskommandos ein. Auf dessen Bestätigung schenkt er dem Joseph den Leichnam Jesu. Aus Achtung vor dem unerschrockenen Ratsherrn, der sich als Anhänger Jesu bekennt. Aus Achtung vor Jesu Größe. Aus Verachtung der Hasser und Verleumder des Hingerichteten. Joseph von Arimathäa bereitet Jesus das Begräbnis. Ohne Spur von Angst. Und noch einer erscheint: Nikodemus, der Jünger Jesu im Verborgenen, ein angesehener Ratsherr. Um sie sammelt sich die verschüchterte Schar, die in Angst um die Schändung des Leichnams Jesu am Kreuz ausgehalten hat. Eifrig geht es an die Arbeit, Jesus vom Kreuze abzunehmen. Denn der Sabbat dämmert herauf. Der Leichnam wird zum Begräbnis bereitet, gewaschen und mit Linnen umhüllt. Die Männer tragen den Leichnam zu Grabe. Die Frauen folgen in stillem Schmerz. Heilige Stille ringsum. Kein Unberufener stört. Noch ein letzter Blick, und der Stein schließt das Grab. Nun scheint alles zu Ende. Was ist trostloser, was ist endgültiger als ein Grab mit einem Toten, das mit einem Felsblock verschlossen ist? Ist mit ihm nicht auch seine Lehre erledigt? Muss sich jetzt nicht das Psalmwort erfüllen: „Ich will den Hirten schlagen, und die Schafe werden sich zerstreuen“?

Amen.

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