Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
11. November 2018

Die Tugenden des neuen Menschen

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Die Epistel der heutigen heiligen Messe fordert uns auf als Auserwählte Gottes, als Heilige und Geliebte, anzuziehen herzliches Erbarmen, Güte, Selbstlosigkeit, Sanftmut, Geduld. Diese Mahnung: herzliches Erbarmen, Güte, Selbstlosigkeit, Sanftmut, Geduld anzuziehen, beschreibt die Wirklichkeit des neuen Menschen, des aus Christus geborenen Menschen, des mit der christlichen Würde überkleideten Menschen. An erster Stelle der vom Christen geforderten Tugenden steht das Erbarmen. Erbarmen ist die tätige Liebe gegenüber fremdem Leid und Übel. Der Barmherzige sieht das Leid und das Übel des anderen als eigenes Leid an, dann schreitet er zu seiner Behebung oder zu seiner Linderung. Das Erbarmen wird in erster Linie Gott zugeschrieben. Gott ist ein barmherziger Gott. Er ist von unendlichem Erbarmen. Barmherzigkeit ist die besondere Form der göttlichen Liebe zu den Geschöpfen. Sie ist die Liebe zu der in Sünde und Not geratenen Schöpfung. Sie ist nicht als Gefühl des Mitleids oder der Betrübnis über fremdes Leid zu verstehen, sie ist vielmehr der wirksame Wille, die Geschöpfe von Elend und Übel, vor allem von der Sünde zu befreien. Das Erbarmen eines Menschen gilt dem Nächsten. Das Erbarmen Gottes erstreckt sich über alles Fleisch. Er weist zurecht, er erzieht, er belehrt und führt wie ein Hirt seine Herde. Die weittragendste Bekundung der Barmherzigkeit Gottes ist die Herabkunft seines Sohnes auf diese Erde. Für uns Menschen und um unseres Heiles willen ist er herabgestiegen. Jesus selbst war der barmherzige Heiland. Seine Gegner warfen ihm vor, er sei der Freund der Sünder und Zöllner. Das war der gerechteste Vorwurf, den man ihm machen konnte. Er erwiderte ihn mit dem Wort: „Nicht die Gesunden bedürfen des Arztes, sondern die Kranken. Ich bin nicht gekommen, Gerechte zu berufen (nämlich zur Bekehrung), sondern Sünder.“ In seiner Antrittsrede in der Synagoge von Nazareth erklärte Jesus: „Der Geist des Herrn ist über mir, er hat mich gesalbt, den Armen die frohe Botschaft zu bringen, er hat mich gesandt, zu heilen, die zerknirschten Herzens sind, den Gefangenen Befreiung, den Blinden das Gesicht zu geben, ein Gnadenjahr des Herrn auszurufen.“ Die Evangelisten berichten an vielen Stellen ihrer Evangelien von dem barmherzigen Herzen unseres Herrn und Heilandes. Der heilige Bernhard von Clairvaux hat einmal richtig festgestellt: „Jesus kann nicht Nein sagen, wo der Jammer ihn anschreit“ – Jesus kann nicht Nein sagen, wo der Jammer ihn anschreit. Beim Anblick der vielen hungrigen Menschen in der Wüste überfiel ihn das Erbarmen, denn sie waren „wie Schafe, die keinen Hirten haben“. Als Jesus in Naim die Witwe sah, die ihren einzigen Sohn zu Grabe trug, da wurde er von Mitleid gerührt. Ein Aussätziger kam zu Jesus und bat ihn kniefällig: „Wenn du willst, kannst du mich rein machen.“ Voll Erbarmen streckte Jesus seine Hand aus, rührte ihn an und sagte: „Ich will, sei rein!“, und der Aussätzige wurde gesund. Bei Jericho flehten ihn zwei Blinde an um sein Erbarmen – nicht vergeblich. Voll Erbarmen berührte er ihre Augen, und sie konnten auf der Stelle sehen. Das Jesus zugeschriebene Erbarmen ist die Charakterisierung des Herrn als des Messias. Der Messias ist derjenige, in dem die göttliche Barmherzigkeit gegenwärtig ist. Das Erbarmen hat Jesus seinen Jüngern und den Scharen, die ihm folgten, ans Herz gelegt. „Seid barmherzig, wie auch euer Vater im Himmel barmherzig ist.“ Das Erbarmen hat der Herr ergreifend geschildert in dem Gleichnis von dem reisenden Samariter, der den unter die Räuber gefallenen Mann pflegte und in die Herberge brachte. Das Erbarmen hat Jesus auch schön beschrieben in dem Gleichnis vom verlorenen Sohn. „Selig die Barmherzigen“, sagt der Herr, „denn sie werden Barmherzigkeit erlangen.“

Die zweite Forderung, die an die Christen als neue Menschen gerichtet wird, ist die Güte. Güte ist jene Haltung, die dem Nächsten wohl will und wohl tut, ohne dass von Seiten des Bedachten ein Anspruch erhoben werden könnte. Güte ist unverdiente Liebe. Die Güte ist eine Schwester der Liebe, die den Hass auslöscht und die Liebe erhält. Die Güte wird zuerst von Gott ausgesagt. Gott ist von unendlicher Güte gegen seine Geschöpfe. Er ist in seinem Handeln der milde, hilfreiche, gütige Gott. Er liebt das Verlorene, er hebt es empor, er rettet es. In der Person Jesu ist die Fülle der Güte und Freundlichkeit Gottes offenbar geworden. Jede echte Güte geht auf den Spuren unseres Heilandes, diese Güte Gottes, die alles Elend, alle Sünde in die Tiefen des Meeres wirft. Christus wird nicht müde, die Vaterliebe Gottes zu preisen. Er lässt die Sonne aufgehen über Gute und Böse und Regen fallen über Gerechte und Ungerechte. Die Güte und Menschenfreundlichkeit Gottes ist erschienen in Christus Jesus. Das Wort Güte ist der umfassende Ausdruck für die Fülle des christlichen Heils. In Christus handelt Gott als der, der er seinem Wesen nach ist. Im Bild des guten Hirten zeigt Jesus, wie sich die Güte gegenüber Verirrten und Verlorenen bewährt. Wir Menschen sind aufgerufen, die Güte Gottes nachzuahmen. Güte als Tugend besagt, dass wir die Liebe, die Gott uns erweist, weitergeben müssen, dass sich die Liebe, die wir von Gott empfangen, als Güte auswirken muss. Die Güte ist eine Frucht des Heiligen Geistes. Güte ist die Tugend des Wohlwollens und Wohltuns. Wer gütig ist, der ist um das Wohl des Nächsten besorgt. Er handelt mit ihm freundlich und förderlich, geht mit ihm schonend und rücksichtsvoll um. Güte zeigt sich vor allem im Geben und Schenken, im Abgeben und im Hingeben. Güte zeigt sich als Milde. Sie vermeidet alle Schroffheit in der Begegnung mit dem Nächsten und namentlich im Rügen des Nächsten. „Man darf nur alt werden, um milder zu sein. Ich sehe keinen Fehler begehen, den ich nicht auch begangen hätte“, hat Goethe am Abend seines Lebens einmal geschrieben. Man darf nur alt werden, um milder zu sein. Ehe man tadelt, sollte man immer erst versuchen, ob man nicht entschuldigen kann. Güte zeigt sich in der Geduld. Der gute Mensch kann nur geduldig sein; geduldig werdend, wird er zugleich gut.

An dritter Stelle wird vom Christen im neuen Menschen Selbstlosigkeit gefordert. In der Übersetzung, die Sie vor Augen haben, heißt es Demut. Ich habe aber in dem großen Lexikon für die biblische Sprache nachgeschaut und mich davon überzeugt, dass das griechische Wort nicht eigentlich Demut heißt, sondern Selbstlosigkeit. Selbstlosigkeit ist jene Tugend, die alles für andere und nichts für sich selbst tut – alles für andere und nichts für sich selbst. Der Selbstlose sieht von sich ab und schaut allein auf den Nächsten. Selbstlos hat unser Heiland dem Vater im Himmel und den Menschen gedient. Statt der Freude, die sich ihm bot, hat er die Armut, die Ablehnung und die Ausstoßung gewählt. Er wollte immer nur geben, nie empfangen. Er hat nie, nie! ein Wunder für sich selbst gewirkt. In seiner Selbstlosigkeit wusch der Herr den Aposteln die Füße, leistete den geringsten Dienst, den man anderen leisten kann. Und wir sind aufgefordert, die Selbstlosigkeit des Herrn nachzuahmen. Selbstlos ist, meine lieben Freunde, wer sich selbst in keinem Dinge sucht, wer nicht alles darum tut, damit er selbst etwas davon hat. Selbstlos ist, wer nicht auf eigene Verdienste sieht. Selbstlos ist, wer allein um der Sache willen arbeitet. Selbstlos ist, wer nicht auf eigenes Lob und eigene Erhöhung aus ist. Der Apostel Paulus forderte die Gemeinde in Philippi auf, niemand sei nur auf sein Bestes bedacht, sondern auch auf das Wohl des anderen. Der Heide Seneca, dem wir ja so viele Weisheiten verdanken, hat den Selbstsüchtigen beschrieben: Ein Mensch, der nur an sich denkt und in allem seinen Vorteil sucht, kann nicht glücklich sein. Selbstlos ist, wer nicht auf Vergeltung zielt oder hofft, wenn er Gutes tut. Vielmehr soll die rechte Hand nicht wissen, was die linke tut. Der Selbstlose vergisst die Wohltaten, die er anderen erwiesen hat. Er handelt nach dem Grundsatz: Tue Gutes und erwarte Undank. Selbstlos ist, wer keinen anderen Wunsch in sich trägt, als dass alles in uns und außer uns nach der Richtschnur des göttlichen Willens geordnet und gelenkt werden möchte. Die Selbstlosigkeit gipfelt im Opfer. Was einen Menschen zum Helden oder Heiligen erhöht, ist das Opfer. Das scheinbar am unnötigsten gebrachte Opfer steht der absoluten Weisheit immer noch näher als die klügste Tat der sog. berechtigten Selbstsucht. Dass ein Mensch nicht sich und seine Sache sucht, das macht ihn groß. Charles de Foucauld, der heiligmäßige Einsiedler in der arabischen Wüste, hat sich einmal selbst beschrieben, als er erklärte: „Man darf niemals zögern, um die Posten zu bitten, wo die Gefahr, das Opfer, die Hingabe am größten ist. Die Ehre lassen wir dem, der sie will, aber die Gefahr, die Mühsal, die nehmen wir immer für uns in Anspruch.“ Das ist das Opfer. So haben die Männer des 20. Juli 1944 gehandelt; sie haben sich geopfert. Graf von der Schulenburg, einer von ihnen, sagte am Abend des 20. Juli: „Wir müssen diesen Kelch bis zur Neige leeren, wir müssen uns opfern.“

Das vierte Erfordernis des Christen als des neuen Menschen ist die Sanftmut. Sanftmut ist der entschiedene Wille, sich in allen Wechselfällen des Lebens behutsam, gelinde, schonungsvoll zu verhalten. Sanftmut ist eine soziale Tugend und orientiert sich am Gefüge der sozialen Ethik. Nach Aristoteles ist die Sanftmut die Mitte zwischen Unbeherrschtheit im Zorn und Unfähigkeit zum Zorn. Sanftmut ist ein Erweis der Liebe. Sie ist der Zornmütigkeit, der Rachsucht, der Gewalttätigkeit entgegengesetzt. Der Prophet Isaias hatte den Messias als den Gottgesandten vorhergesagt, und zwar als den, der den Sanftmütigen frohe Botschaft bringt. Jesus entsprach dieser Verheißung; er war sanftmütig. Er sagt ja von sich selbst: „Ich bin sanftmütig und demütig von Herzen.“ Und so hat er seine Sendung auf Erden in Niedrigkeit und Schwachheit vollzogen. Sein Leben verläuft nicht in Hoffart, sondern kennzeichnet ihn als den, der ganz auf Gott angewiesen ist und deswegen vollmächtig zu sagen weiß: „Kommt alle zu mir, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken.“ Als Jesus zum letzten Mal in Jerusalem einzieht, da ist es der Einzug des gewaltlosen, unkriegerischen Heilskönigs und Friedensfürsten. Jesus tritt in grundsätzlichen Gegensatz zu den Zeloten, zu den politischen Eiferern in Israel. Wir Jünger des sanftmütigen Friedenskönig sind unsererseits zur Sanftmut gerufen. Die Sanftmut des Menschen ruht in der Liebe, die Christus während seines Erdenlebens vorgelebt hat. Sie ist eine Gabe des Heiligen Geistes. Die Sanftmut setzt den Christen in den Stand, frei von Überheblichkeit, Ungeduld und Zorn den irrenden Bruder zurechtzuweisen. Die Sanftmut steht in wohltuendem Gegensatz zu bitterem Eifer und streitsüchtiger Rechthaberei. Den Sanftmütigen gilt die Verheißung Jesu: „Selig die Sanftmütigen, sie werden das Land besitzen“ – mit dem Land ist die himmlische Seligkeit gemeint. Wir beten in der Herz-Jesu-Litanei: „Jesus, sanftmütig und demütig von Herzen, bilde unser Herz nach deinem Herzen.“

Die letzte fünfte Anforderung an den Christen als den neuen Menschen ist die Langmut. Sie soll die Langmut Gottes widerspiegeln. Gottes Barmherzigkeit gegenüber den Sündern gibt sich kund in der Langmut. Gott wartet auf die Bekehrung. Er lässt dem Sünder Zeit. Gegenüber den Sünden seines Volkes in der Zeit vor Christus hat Gott an sich gehalten, Geduld gezeigt. Gegenüber den Schwächen der Sünder mäßigt er seinen Zorn, ersehnt er die Umkehr, mahnt er zur Reue. Im Gleichnis von dem gottlosen Richter stellt Jesus die rhetorische Frage: „Gott sollte seinen Auserwählten nicht Recht schaffen, die Tag und Nacht zu ihm rufen, und sie lange warten lassen?“ Die Langmut Gottes gibt den Erwählten eine Gnadenfrist. In dieser Frist haben sie die Möglichkeit, umzukehren, sich zu Gott zu wenden, zu bereuen und Gutes zu tun. Einmal freilich, einmal freilich ist die Geduld Gottes zu Ende. Einmal erschöpft sich auch seine Langmut. Es ist gefährlich, auf Gottes Langmut hin zu sündigen. Paulus spricht in seinem Römerbrief die Juden, die verstockten Juden an: „Verachtest du den Reichtum der Geduld, Güte und Langmut Gottes; weißt du nicht, dass die Güte Gottes dich zur Bekehrung treibt?“ Langmut Gottes verpflichtet den Christen ebenso zur Langmut im Leben der Gemeinde. Langmut müssen wir beweisen gegenüber unseren irrenden und verlorengegangenen Brüdern und Schwestern. Wir haben vernommen, meine lieben Freunde, was Gottes Offenbarung durch den Apostel von uns verlangt: Erbarmen, Güte, Selbstlosigkeit, Sanftmut, Langmut. Diese Tugenden sind das Kennzeichen des neuen Menschen. Der alte Mensch war geprägt durch Zorn, Erbitterung, Leidenschaft, böse Lust, Habsucht; den haben wir ausgezogen und den neuen haben wir angezogen. Ach, dass wir doch, meine lieben Freunde, durch ein beispielhaftes Leben der Welt beweisen möchten, dass wir neue Menschen sind.

Amen.

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