Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
24. Juni 2018

Die heiligmachende Gnade

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Im Kommunionvers der heutigen heiligen Messe lesen wir: „Eines nur erbat ich mir vom Herrn, nur dies begehre ich: im Hause des Herrn zu weilen alle Tage meines Lebens.“ Die Frommen des Alten Bundes waren von großer Dankbarkeit und Sehnsucht nach dem Tempel erfüllt. Der Tempel war ihnen der Bürge der Nähe Gottes. In der ersehnten Nähe zum Hause Gottes drückte sich ihre Sehnsucht nach der Gemeinschaft mit Gott selbst aus. Paulus korrigierte in Athen die verbreitete Ansicht, dass Gott in Tempeln wohne, die von Menschenhänden gemacht sind. „Nein“, sagte er, „Gott hat die Welt und alles was in ihr ist geschaffen. Er gibt allem Leben, Odem und alles. Und er ist nicht ferne einem jeden von uns. In ihm leben wir, bewegen wir uns und sind wir.“ Seit der Menschwerdung des LOGOS, des Sohnes Gottes, kann die Gegenwart Gottes erfahren und die Gemeinschaft mit Gott gewonnen werden durch den Anschluss an den auf Erden erschienenen Gottessohn, durch den Glauben an ihn. Christus nannte das von ihm gebrachte neue Leben der an ihn glaubenden Menschen eine Wiedergeburt, eine neue Geburt aus Gott. Dem Nikodemus erklärte er: „Wer nicht wiedergeboren wird aus Wasser und Geist, der kann das Reich Gottes nicht erben.“ Die Apostel meinten dasselbe, wenn sie von einer neuen Schöpfung sprachen – Kaine ktisis heißt es im griechischen Text, eine neue Schöpfung ist der Mensch, der in Christus ist. Er hat eine Geburt aus Gott erfahren. Er ist vom Samen Gottes. Und deswegen sind die Christen, die getauften Christen Kinder des Vaters, lebendige Glieder am Leibe Christi, besiegelt mit dem Heiligen Geiste, der göttlichen Natur teilhaftig, Erben Gottes. Alle diese Bezeichnungen sind richtig und sagen etwas Wichtiges aus.

Wir sind gewohnt, von der heiligmachenden Gnade zu sprechen. Wir wissen, was die heiligmachende Gnade ist. Sie heißt so, weil sie uns heilig, d.h. Gott wohlgefällig macht. Sie ist das übernatürliche Leben der Seele. Wenn wir den Begriff heiligmachende Gnade definieren wollen, dann müssen wir sagen: Die heiligmachende Gnade ist eine geschaffene übernatürliche Wirklichkeit, die der Seele von Gott eingegossen wird und als Seinsbeschaffenheit oder Qualität ihr bleibend anhaftet. Ich wiederhole noch einmal diese Definition: Die heiligmachende Gnade ist eine geschaffene übernatürliche Wirklichkeit, die der Seele von Gott eingegossen wird und als Seinsbeschaffenheit oder Qualität ihr bleibend anhaftet.

Die nächste formale Wirkung der heiligmachenden Gnade, die zum Menschen kommt, ist die bleibende übernatürliche Heiligkeit, Gerechtigkeit und Schönheit der Seele. Wenn wir eine Wirklichkeit verstehen wollen, ist es immer nützlich, sich die Abweichungen davon, die Verirrungen davon vorzustellen, und die finden wir ja in reichem Maße bei den Glaubensneuerern des 16. Jahrhunderts. Für Luther ist die heiligmachende Gnade nichts anderes als die Huld Gottes, also die gnädige Gesinnung Gottes; im Menschen ändert sich nichts. Die heiligmachende Gnade ist für Luther die Zudeckung der Sünde, nicht die Wegnahme der Sünde, sondern die Zudeckung; sie ist also weiter da. Die heiligmachende Gnade ist für Luther die forensische Gerechterklärung, die forensische Gerechterklärung. Der Mensch wird gerecht erklärt, obwohl er es gar nicht ist. Im begnadeten Menschen, meine lieben Freunde, das ist die katholische Lehre, im begnadeten Menschen findet nicht bloß ein Gesinnungswandel, sondern ein Seinswandel statt. Im Sein des Menschen ändert sich etwas, nicht nur in der Gesinnung oder auch nur in der Gesinnung Gottes. Weitere Formalwirkungen der heiligmachenden Gnade sind die Gotteskindschaft, die Freundschaft Gottes, die Einwohnung des Heiligen Geistes. Die Teilnahme am Gotteswesen bedeutet eine Verbundenheit mit Gott. Sie bedeutet sodann eine Verähnlichung mit Gott. Es entsteht eine übernatürliche Gottebenbildlichkeit. Gott gestaltet im begnadeten Menschen sein eigenes dreipersönliches Leben, soweit dies die Endlichkeit des Geschöpfes zulässt. Unsere Seele trägt ein wahres, vollendetes Ebenbild Gottes. Das göttliche Leben ist Lebensgemeinschaft mit dem verklärten Christus, Teilnahme am dreipersönlichen Leben Gottes, Verwandlung der menschlichen Natur, Freundschaft mit Gott, Gemeinschaft mit dem Heiligen Geist. Jawohl, der Heilige Geist bringt uns die heiligmachende Gnade und er zieht zugleich mit ihr in die Seele ein, um darin zu wohnen. „Wisst ihr nicht“, fragt Paulus die Korinther, „dass ihr Gottes Tempel seid und dass der Geist Gottes in euch wohnt?“ Der Gerechtfertigte ist Träger des Heiligen Geistes. Der Heilige Geist ist die personhafte himmlische Kraft, den die Christusgläubigen infolge der Freigebigkeit des himmlischen Vaters als eine kostbare Gabe besitzen. Jawohl, der Besitz des Geistes gehört zur normalen christlichen Existenz. Die Christen sind Geistträger. Das unterscheidet sie von denen, die nicht in der heiligmachenden Gnade leben.

Die heiligmachende Gnade hat sodann eine übernatürliche Gefolgschaft, in erster Linie die drei eingegossenen göttlichen Tugenden: Glaube, Hoffnung und Liebe. Unser Erkenntnis- und Willensvermögen wird innerlich vergöttlicht und auf Gott hin gerichtet. Im Glauben, in der Hoffnung und in der Liebe strecken wir uns durch Christus im Heiligen Geist dem Vater entgegen. Der Glaube als eingegossene Tugend, also als Geschenk Gottes, ist eine von Gott gegebene Befähigung des Erkenntnisvermögens, die in der Offenbarung geschehene Selbstmitteilung Gottes zu verstehen und zu bejahen. Durch die eingegossene Tugend der Hoffnung wird jene Haltung, in der wir uns der Zukunft entgegenstrecken, christusförmig. Wir hoffen auf das, was Christus uns versprochen hat: Vergebung der Sünden, die Gnade und die ewige Seligkeit. Und die eingegossene Tugend der Liebe durchströmt den Menschen mit der Liebe, die Gott ist. Der Gerechtfertigte ist eine Epiphanie der himmlischen Liebe. Seine neue Existenz ist von der Liebe geprägt.

Die heiligmachende Gnade bringt uns auch eine Vermehrung der sittlichen Tugenden, also Gerechtigkeit, Tapferkeit, Keuschheit. Die eingegossenen sittlichen Tugenden befähigen den Menschen, sein Leben in Christus jeweils so zu vollziehen, wie es die Christusverbundenheit verlangt. Das Verhalten bekommt dadurch ein christliches Gepräge, dass es in der Gemeinschaft mit Christus vollzogen wird.

Zu der Begleitschaft der heiligmachenden Gnade gehören auch die sieben Gaben des Heiligen Geistes. Das sind bleibende Zuständlichkeiten, durch die der Mensch befähigt wird, den göttlichen Einsprechungen und Erleuchtungen leicht und schnell zu folgen. Die Gaben des Heiligen Geistes geben uns ein besonderes Gehör für Gott, ein besonderes Gespür für Gott, für seine Stimme, für seine Hand.

Nun haben die heiligmachende Gnade und ihre Gefolgschaft bestimmte Eigenschaften. Sie sind ungewiss, ungleich und verlierbar. Ungewissheit, Ungleichheit und Verlierbarkeit sind Eigenschaften der heiligmachenden Gnade. Die heiligmachende Gnade ist ungewiss. Das hängt damit zusammen, dass wir die Glaubensgewissheit von der Lehre nicht auf das Verhalten des Menschen übertragen können. Wir dürfen die Glaubensgewissheit von der Rechtfertigungslehre nicht auf unsere persönlichen Leistungen ausdehnen. Ohne besondere Offenbarung ist es niemandem mit Glaubensgewissheit gewiss, dass er gerettet ist und dass er im Stande der heiligmachenden Gnade ist. Die heiligmachende Gnade kann nicht mit den Sinnen des Körpers und nicht mit den Augen des Geistes wahrgenommen werden. Wir können sie nicht berühren, nicht betasten; sie ist unanschaulich. Das ist vielleicht ein Kummer, den wir haben, denn wir möchten die heiligmachende Gnade fassen, greifen, erleben. Die Gnade als Ausfluss der göttlichen Güte teilt ihre Unanschaulichkeit mit der Unanschaulichkeit Gottes. Gott hat niemand gesehen, Gott kann niemand schauen in diesem Pilgerstande, so lehrt die Heilige Schrift. Und davon ist auch die heiligmachende Gnade geprägt. Es ist eine Wesenseigenschaft Gottes, dass er vom Menschen im Pilgerstand nicht mit den Sinnen wahrgenommen werden kann. Er kann auch nicht mit dem Geiste begriffen werden. Er ist unbegreiflich, und das macht seine Göttlichkeit aus. Ebensowenig ist dies bezüglich der Gnade möglich. Gott und sein Wirken, seine Führung und seine Geschenke sind dem Menschen zugänglich und erreichbar, aber nicht auf natürlichem Wege, sondern nur durch die übernatürliche Sehkraft des Glaubens. Es muss so sein, meine Freunde, es muss so sein. Wenn die heiligmachende Gnade nicht unanschaulich wäre, dann könnten wir uns ihrer bemächtigen, wir könnten sie messen, wiegen, einfangen. D.h. Gott geriete in Abhängigkeit, in die Verfügbarkeit von Menschen, und dann er hörte auf, Gott zu sein. Nein, das christliche Leben verläuft in der Spannung von Gewissheit und Ungewissheit. Die Furcht bewahrt die Liebe vor Sorglosigkeit, die Liebe bewahrt die Furcht vor Verzweiflung. Eine gut begründete, normale moralische Gewissheit von der Gnade ist dagegen möglich. Sie ist nicht ausgeschlossen, sie ist vielmehr gefordert. Wir dürfen darauf vertrauen, dass wir im Gnadenstande sind. Worauf gründet sich dieses Vertrauen? Auf die Zusage Christi und auf die Früchte des Geistes. Wie ein Mensch sich verhält, daraus kann man schließen, ob er im Gnadenstande ist. Paulus hat uns ja in den Lasterkatalogen die Verhaltensweisen angegeben, die vom Gnadenstand ausschließen. Trunksüchtige, Unkeusche, Mörder, Habsüchtige, das sind Menschen, die fern der heiligmachenden Gnade leben. Aber es gibt eben Zeichen der Christusgemeinschaft, der heiligmachenden Gnade, eben die Befolgung der Gebote Gottes, die Ergebung in Gottes Willen, die Furcht vor der Sünde, vor allem aber die opferbereite Liebe. Jawohl, man kann an diesen Zeichen erkennen, dass jemand im Gnadenstande ist.

Die heiligmachende Gnade ist auch ungleich. Gott ist in seiner Schenkungsliebe frei. Er kann dem einen mehr, dem anderen weniger geben. In seiner unergründlichen Weisheit und Gerechtigkeit verteilt er die Gnade so, wie er will. Die Empfängnisbereitschaft spielt natürlich auch eine Rolle, ob einer bereit ist, die Gnade aufzunehmen, ob er die Disposition hat für die Gnade. Dem Wesen nach ist der Gnadenstand bei allen gleich, aber nach dem Grade der Verwirklichung ist er verschieden. Die Teilnahme am Heilsmysterium ist deswegen verschieden, weil die Aufnahmefähigkeit des einzelnen Menschen verschieden ist. Der Intensitätsgrad der Aufnahme hängt von dem Maß an Aufgeschlossenheit für Gottes Wirken ab.

Die heiligmachende Gnade ist verlierbar. Luther und Calvin behaupteten das Gegenteil. Calvin erklärte: Die Rechtfertigungsgnade ist unverlierbar. Und Luther sagte: Sie ist nur verlierbar durch den Unglauben, also alle anderen Sünden trennen nicht von Gott, trennen nicht von der heiligmachenden Gnade. Das war eine Botschaft, die die Menschen gern hörten, aber sie ist falsch. Der katholische Glaube lautet anders. Die heiligmachende Gnade ist verlierbar und wird tatsächlich durch jede schwere Sünde verloren. Der Gerechtfertigte kann sündigen. Die Christusgemeinschaft, die heiligmachende Gnade, ist gefährdet durch die Versuchungen der Welt und durch die Versuchlichkeit in der eigenen Brust. Die Formen der selbstherrlichen Welt drängen sich in die Augen und in die Herzen der Gerechtfertigten. Sie bilden für sie eine immerwährende Versuchung, mehr an die Erde zu glauben als an den Himmel. Die Versuchung durch die Herrlichkeit der Welt verbindet sich mit der Versuchlichkeit des Menschen.

Wenn der Mensch die heiligmachende Gnade verliert, kann er sie wiedergewinnen. Sie wird wiedererlangt durch den reumütigen Empfang des Bußsakramentes oder durch eine vollkommene Reue. Der normale Weg, wieder in die Gnadengemeinschaft mit Gott zu kommen, ist die reumütige Beicht. Es kann aber Umstände und Zeiten geben, unter denen die Ablegung der Beicht nicht möglich ist. Der Sünder muss dann nicht im Zustand der schweren Sünde verharren. Er kann in den Gnadenstand gelangen, wenn er vollkommene Reue erweckt, die Gott bewegt, die Sünden wegzunehmen und die Gnade zu spenden. Vollkommene Reue ist jene Gesinnung, die aus der vollkommenen Liebe zu Gott hervorgeht. „O Gott, dich liebt mein ganzes Herz, und dies ist mir der größte Schmerz, dass ich erzürnt dich, höchstes Gut. Ach, wasch mich rein in deinem Blut!“ – das ist die vollkommene Reue. Wer sie erweckt, kann aus dem Unrechtsstand in den Gnadenstand zurückkehren. Die Pflicht, die Sünden im Bußgericht zu bekennen, bleibt bestehen.

„Eines nur erbat ich mir vom Herrn, nur dies begehre ich: im Hause des Herrn zu weilen alle Tage meines Lebens“, so beteten die Frommen des Alten Bundes. Das Christusereignis hat die räumliche Enge des Alten Testamentes gesprengt. Die Sehnsucht und das Verlangen des Christen richten sich nicht mehr auf ein gottgeweihtes Gebäude, sondern auf einen gottgeweihten Zustand, den Stand der heiligmachenden Gnade. Die heiligmachende Gnade ist die den Menschen anhaftende innere Heiligkeit und Gerechtigkeit, der Frieden mit Gott, die Freundschaft Gottes, die Kindschaft Gottes. Gottes Sache, meine lieben Freunde, ist es, die Gnade zu verleihen. Unsere Sache ist es, die Gnade aufzunehmen und zu bewahren. So ergeht an uns die Mahnung: „Christ, erkenne deine Würde! Da du teilhaft geworden bist der göttlichen Natur, so kehre nicht durch ein entartetes Leben zu der Armseligkeit zurück, aus der du gehoben wurdest. Halte, was du hast!“

Amen.

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