Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
28. August 2016

In Gott hinein leben und sterben

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

„Als Jesus an das Stadttor kam, da trug man eben einen Toten heraus.“ Ein jeder Mensch, der seine Würde als denkendes Wesen erfasst, stellt sich der Frage nach seinem Woher und Wohin. Woher komme ich? Wohin gehe ich? Und er weiß, sein Woher ist von Gott bestimmt, aber auch sein Wohin ist von Gott bestimmt. Der Augenblick aber, der über das glückliche Finden Gottes entscheidet, ist der Tod. Deshalb wartet ein ernster und umsichtiger Mensch nicht, bis der Tod ihn anfällt, sondern beschäftigt sich wiederholt und nachhaltig mit dem Tode und mit der Wirklichkeit des Sterbens. „Sterblicher, denk’ ans Sterben!“, fordert das Buch von der „Nachfolge Christi“ uns auf. Das Denken an den Tod lähmt nicht die Aktivität des Menschen, sie fordert sie heraus. Gerade weil wir wissen, dass unser Leben nicht immer währt, dass es aufhört auf dieser Erde, gerade weil wir das wissen, deswegen erhält jeder Tag eine nicht aufzuhebende Bedeutung. Wenn wir bedenken, dass das Leben nicht endlos weitergeht, dann lernen wir die Zeit schätzen. Wir bemühen uns, sie sinnvoll zu verwenden. Sie ist kostbar, sie flieht dahin. Und wer in der Lebenszeit etwas schaffen und erreichen will, der muss haushälterisch mit der Zeit umgehen. Ich habe einen Kollegen, den Neuhistoriker Rudolf Morsey. Von ihm stammt das Wort: „Urlaub ist Zeitverschwendung“; und nach diesem Wort handelt er, legt ein wertvolles Buch nach dem anderen vor. Alle wahre Philosophie, alle große Kunst, aller reife Charakter, alles unbesiegliche Heldentum befasst sich immer wieder mit dem Tode. Über der Treppe zum Wohnzimmer des genialen Michelangelo war ein Bild des Todes gemalt, wie er einen Sarg trägt. Der Meister konnte von sich wahrhaft bekennen: „Kein Gedanke ist in mir, der nicht vom Meißel des Todes ausgehöhlt ist.“ Die Jugend, die noch einen weiten Lebensweg vor sich zu haben meint, befasst sich gewöhnlich wenig mit dem Sterben. Aber auch junge Menschen müssen bedenken, dass der Tod an sie herantreten kann. Auch auf junge Menschen streut der Priester am Aschermittwoch die Asche: Gedenke, dass du Staub bist und zu Staub werden wirst! Alte müssen sterben, Junge können sterben. Darum sollen wir frühzeitig und gewiss auch rechtzeitig lernen, recht und in Gott hinein zu leben und zu sterben.

Die Zeit gibt es erst, seitdem es die Schöpfung gibt. Mit den Geschöpfen ist die Zeit entstanden, auch der Zeitmesser, nämlich die Gestirne. Sie sind die Anhalte, an denen wir unsere Zeit messen. Die Zeit ist immer ein inneres Gesetz der Schöpfung. Mit den Dingen tritt ihr Vorher und Nachher, also die Zeit, ins Dasein. Die Geschichtsschreiber des Mittelalters, die ihre Gegenwart aufzeichneten, haben ihre Geschichte immer mit der Weltschöpfung begonnen, weil sie wussten, das ist auch der Beginn der Zeit. Der Herr der Zeit ist nur der, der die Zeit geschaffen hat. Die Zeit ist uns nicht übergeben. Wir sind nicht Herren der Zeit, wir vermögen nicht das Geringste über sie zu bestimmen. Gott misst jede Strecke, die ein Menschenleben zu durchlaufen hat, ab. Er stellt die Weichen, er führt den Zug, er sagt: Fahr zu, aber auch: Halt an. „Weiß ich den Weg auch nicht, du weißt die Zeit. Dein Plan ist fertig stets und liegt bereit“, so hat ein Mädchen gebetet, das 1918 von den Bolschewisten in Riga erschossen wurde.

Der Tod ist gewiss, aber der Zeitpunkt des Todes ist ungewiss. Gott lässt sich die Uhr von keinem Menschen stellen. Kein Mensch kennt seine Zeit, kein Mensch hat Macht über seinen Sterbetag. So gewiss der Tod ist für alle, so ungewiss ist seine Stunde. Unser Schöpfer wollte, dass uns der Tag unseres Todes unbekannt bliebe, damit wir den Tod stets nahe glauben, da wir ihn niemals ferne wissen. Auf einem Wegekreuz steht das Wort: „Wanderer, auch du musst sterben, weißt nicht wann, wo und wie. Vielleicht wirst du der Welt entrissen, heute Abend oder morgen früh.“ In meiner Heimat steht ein Gedenkstein für einen Fuhrmann, der dort verunglückt ist. Auf dem Gedenkstein liest man die Inschrift: „Der Weg zur Ewigkeit, der ist doch gar nicht weit. Um achte fuhr er fort, um neune war er dort.“ In der Hand Gottes, des Herrn, ruht unser Leben. Er, der Herr, weiß, wann der rechte Augenblick gekommen ist, in dem er zu uns sagt: Lass den Spaten stehen, du hast genug gegraben; es ist Zeit, aufzuhören. Er weiß es voraus, aber er teilt es gelegentlich auch Menschen mit, wann der Todestag, wann die Todesstunde gekommen ist. Der heilige Johannes Bosco hatte in seinen Erziehungsanstalten den schönen Brauch eingeführt, am Abend fünf Minuten eine kurze Belehrung für seine Jungen zu geben. An einem Abend schloss er seinen Gutenachtgruß mit den Worten: „Halten wir uns bereit, allezeit zu sterben. Ich kann euch sagen: Innerhalb von vier Wochen wird einer aus uns vor Gott erscheinen. Bin ich es? Bist du es? Wachet und betet!“ Es ist leicht auszudenken, welchen Eindruck diese Ankündigung des Heiligen auf die Knaben machte. Einer von ihnen, Berardi, kam noch einmal zu ihm aufs Zimmer und fragte: „Nicht wahr, Sie haben mich gemeint?“ Johannes Bosco gab ihm keine Antwort. Es vergingen 14 Tage, ohne dass einer der Zöglinge erkrankt wäre. Aber auf einmal entdeckte Berardi während des Schulunterrichtes an seiner Lippe ein winziges Bläschen. Und er flüsterte seinem Banknachbarn zu: „Wer weiß, ob das nicht etwas Gefährliches ist? Der Ausspruch Johannes Boscos will mir gar nicht aus dem Sinne kommen. Es kann gut sein, dass er mich gemeint hat.“ Nach der Pause fing Berardi wieder an: „Sieh doch, wie das Bläschen aufschwillt.“ Nachts stellte sich Fieber ein; der Junge konnte nicht mehr aufstehen. Er tat es mit einer Handbewegung ab, aber Johannes Bosco ließ sofort den Arzt rufen. Dieser stellte eine Blutvergiftung infolge eines Insektenstiches fest. Berardi kam in die Klinik; am nächsten Tage war er tot. „Rasch tritt der Tod den Menschen an, es ist ihm keine Frist gegeben; es stürzt ihn mitten in der Bahn, es reißt ihn fort vom vollen Leben.“

Viele Menschen verzichten auf jede wirkliche Lösung des Rätsels, warum der Tod scheinbar so wahllos frische blühende Kinder im Mai ihres Lebens dahinrafft oder Männer, die in der Vollkraft ihres Lebens Glänzendes leisten und sich den Ihrigen unentbehrlich gemacht haben, während er den gebrechlichen Greis vergisst, der von seinem armseligen Erdendasein nichts mehr zu erwarten hat. Der Tod ist nicht Souverän, er ist nur Diener. Gott allein ist der Herr und Eigentümer der Zeit, ist auch der Herr der Lebenszeit, der unumschränkte Gebieter über Leben und Tod. Sein unerforschlicher Ratschluss ruft den Boten, wie es das alte Volkslied ausspricht: „ Es ist ein Schnitter, heißt der Tod, hat Gewalt vom großen Gott.“ Und weil das so ist, beten wir in jedem Ave Maria: „Steh mir bei in der Stunde meines Todes“, in dieser letzten, in dieser wichtigsten Stunde. Der weise Kardinal Newman in England hat das schöne Sterbegebet verfasst: „Lass mich sterben, o Gott, zu der Zeit und auf die Weise, die am meisten zu deiner Ehre und am besten für mein Heil ist.“ Ich selbst – wenn ich Ihnen das gestehen darf – bete oft: Gott, lass mich sterben zur rechten Zeit. Du weißt, wann es Zeit ist, dann lass mich sterben. Lass mich sterben zur rechten Zeit. „Herr, wie du willst, soll mir geschehen, und wie du willst, so will ich gehen. Hilf deinen Willen nur verstehen. Herr, wann du willst, dann ist es Zeit, und wann du willst, bin ich bereit, heut und in alle Ewigkeit. Herr, weil du willst, so ist es gut, und weil du willst, so hab ich Mut. Mein Herz in deinen Händen ruht.“

Der Herr des Lebens und des Todes weiß uns auch zu sagen, wie wir unsere Lebenszeit ausnützen, wie wir sie in bleibenden Wert umsetzen sollen. „Denke immer an das Ende, und dass die verlorene Zeit nicht wiederkehrt.“ Wir müssen wirken, solange es Tag ist, denn es kommt die Nacht, da niemand mehr wirken kann. „Ruit hora – labora“, so steht auf dem Arsenal in Venedig: Die Stunde stürzt, sie stürzt dahin: arbeite, schaffe! Ruit hora – labora. „Auch das Sterben ist eine von den Aufgaben unseres Lebens“, hat der heidnische Kaiser Marc Aurel in seinen Selbstbetrachtungen geschrieben. Eines, meine lieben Freunde, ist so leicht wie das andere: in Gott hinein zu leben und in Gott hinein zu sterben. Wer den Mut hat, in Gott hinein zu leben, der wird auch die Kraft finden, in Gott hinein zu sterben. Die heilige Theresia von Lisieux wurde von dem Hausgeistlichen gefragt: „Sind Sie bereit, den Tod mit Ergebung anzunehmen?“ Sie antwortete: „Mein Vater, ich finde, dass man der Ergebung nur bedarf zum Leben. Der Gedanke an den Tod erfüllt mich mit Freude.“ „Bei allem, was du vorhast, denke an dein Ende, so wirst du niemals böse handeln.“ Wer an den Tod denkt, hört auf, zu sündigen. „Das Ende krönt das Werk, das Leben ziert der Tod. Wie herrlich stirbt der Mensch, der treu war seinem Gott.“ Gott hat uns die Gebote gegeben, damit wir in der Betrachtung dieser Gebote keinen Tag nutzlos verstreichen lassen, damit wir jeden Tag mit Pflichttreue erfüllen. Schade um den Tag, der nicht durch gute Werke ausgezeichnet ist. Der eben erwähnte Kaiser Marc Aurel bemerkte am Abend, wenn er Rückschau hielt auf seine Tagewerk und feststellte, er habe kein gutes Werk verrichtet: „Diem perdidi – den Tag hab ich verloren.“ „Ach lieb, solang du lieben kannst, ach lieb, solang du lieben magst. Die Stunde kommt, die Stunde kommt, wo du an Gräbern stehst und klagst.“

Leben, bloß damit gelebt ist, das ist dem Tier vom Schöpfer zugewiesen, das sättigt das Glücksbedürfnis der vernunftlosen Kreatur. Aber der Mensch in seinem Streben ist auf das Unendliche verwiesen. Die Scholastiker des Mittelalters versuchten, aus diesem Gedanken einen Gottesbeweis zu führen. Sie sagten, wenn der Mensch das Unendliche denken kann, dann ist er auch für das Unendliche bestimmt. Ich glaube nicht, dass dieser Beweis schlüssig ist, aber immerhin er zeigt, welche Gedanken man sich dafür gemacht hat, dass der Mensch eben mit dem Irdischen nicht zufrieden ist, dass es seine Seele weit, weit über das Irdische hinaus zieht ins Endliche. In dieser Todesweisheit, die vom Tode her den wahren Wert und den einzigen Sinn des Lebens erblickt, werden wir ganze Christen. Die Lehre Christi hat die alte Ahnung der Menschen bestätigt. In der Nacht des Todes strahlen die Sterne des Lebens auf. Wir gehen nicht zugrunde, sondern wir erheben uns über das irdische Endliche. Als Jungen haben wir so manche Vorbilder vorgestellt bekommen, die heute nicht mehr gefragt sind, aber einen kann man auch heute noch nennen, nämlich Gorch Fock. Gorch Fock war ein gläubiger Dichter an der Waterkante an der Nordsee, und in einer Seeschlacht des Ersten Weltkrieges ging er mit seinem Schiff unter. Im letzten Brief an seine Mutter schrieb er: „Wenn du hören solltest, dass unser Kreuzer gesunken ist und niemand gerettet wurde, dann weine nicht. Das Meer, in das mein Leib versenkt wurde, ist nur die hohle Hand meines Heilandes, aus der mich nichts entreißen kann.“ Die antike heidnische Welt entsetzte sich vor der Sterbensnot. Christus hat diese Not von dem Menschen hinweggenommen. Die Fackel unserer frohen Hoffnung leuchtet über Golgota, über dem sterbenden Gottmenschen, der ausruft: „Es ist vollbracht!“ – das Werk, dass du mir zu erschaffen gegeben hast, ist beendet, es ist vollbracht. Jesus ist dem Tod nicht ausgewichen, er ist ihm starkmütig, ja freiwillig entgegengegangen. Er hat ihn bis zur letzten Bitterkeit ausgekostet, um uns alles meistern zu lehren, was nur immer das Sterben uns schwierig machen könnte. Der mittelalterliche Dichter Petrarca hat einmal niedergeschrieben: „Was die Toren sterben nennen, ist der Anfang des Lebens.“ Die Französische Revolution führte einen grausamen Kampf gegen Gott, gegen die Religion, gegen die Kirche. Einer der heftigsten Religionsfeinde war Josef Fouché. Er ließ über dem Friedhofstor eine Inschrift anbringen: „Der Tod ist ein ewiger Schlaf.“ Gegen diese Aussage erhob sich Maximilian Robespierre. In einer Versammlung vor den Revolutionären rief er aus: „Nein, Fouché, nein, Chaumette, der Tod ist kein ewiger Schlaf, der Tod ist der Anfang der Unsterblichkeit!“ So haben es die Gläubigen aller Zeiten verstanden. Die schottische Königin Maria Stuart wurde hingerichtet. Und vor ihrer Hinrichtung sprach sie: „Mein Glaube ist der alte katholische Glaube. Für ihn gebe ich mein Leben hin. Herr, ich vertraue auf dich, in deine Hände befehle ich meinen Geist.“ So ist Maria Stuart gestorben. Und die Kaiserin Maria Theresia sprach kurz vor ihrem Tode: „Mir fällt der Tod nicht schwer. Es ist mir, als ob ich von einem Zimmer in ein anderes gehe.“ Dostojewski, der gläubige russische Schriftsteller, hatte es sich in seinem unsäglich schweren Leben zur Gewohnheit gemacht, bei allen Entscheidungen aufs Geratewohl das Evangelium aufzuschlagen, und aus der Seite, auf die sein Blick fiel, entnahm er eine Weisung von Gott. Als es zum Sterben ging, überließ er es seiner Frau, das Evangelium aufzuschlagen. Sie tat es und las dann vor: „Aber Johannes wehrte ihm und sprach: ‚Ich bedarf von dir getauft zu werden, und du kommst zu mir?‘ Jesus antwortete und sprach: ‚Halte mich nicht zurück.‘“ Da unterbrach sie der Kranke: „Hörst du, halte mich nicht zurück! Jetzt ist Zeit zu sterben.“ Er ließ das Buch schließen und schloss die Augen. Und der Ausdruck eines großen, wunderbaren Gottesfriedens kam über sein gramdurchfurchtes Antlitz und offenbarte, dass für ihn der Übergang in die andere Welt keinen Schrecken hatte. O meine lieben Freunde, dass wir doch auch so sterben könnten. Wir haben eine Hoffnung, die uns niemand rauben kann. Die große Konvertitin Ida Gräfin Hahn ermutigt uns:

„Über den Sternen, da wird es einst tagen,

da wird dein Hoffen, dein Sehnen gestillt,

was du gelitten, was du getragen,

dort ein allmächtiger Vater vergilt.“

Amen.

Schrift
Seitenanzeige für große Bildschirme
Anzeige: Vereinfacht / Klein
Schrift: Kleiner / Größer
Druckversion dieser Predigt